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BERICHT/066: Eurokrake Sicherheit - Polizeilich-juristische Repression gegen Gipfelproteste (SB)


Two sides of a barricade - eine Anwältin berichtet

Workshop auf dem entsichern-Kongreß in Berlin am 30. Januar 2011

SCHNAPPSCHUSS/0055: Deutschland geht auf Kurs - 31.01.2011 (SB) - © 2011 by Schattenblick

Deutschland geht auf Kurs
© 2011 by Schattenblick

Demonstrationsrecht, Demonstrationsfreiheit - Begriffe dieser Art gehören zum politik- wie rechtswissenschaftlichen Standardrepertoire, wenn es gilt, parlamentarische Demokratien von ihrem rechtstaatlichen Anspruch und ihrer angeblich daran meß- und überprüfbaren Realität her im Angesichte eines mit schwer auszulotender Geschwindigkeit anwachsenden Akzeptanzproblems der buchstäblich herrschenden Kräfte zu verteidigen. Anlässe und Gründe massenhafter Proteste, die sich infolge der keineswegs nur gefühlten Entfremdung von parlamentarischen Prozessen, die nicht einmal durch die feigenblattähnliche Beteiligung linker Parteien glaubwürdig den Eindruck zu erwecken imstande sind, hier würden die Interessen des Wahlvolkes tatsächlich zur Durchsetzung gebracht oder auch nur verhandelt werden, mehr und mehr in den außerparlamentarischen Bereich verlagern, gibt es genug. Hartz IV und Sozialabbau, Massenarbeitslosigkeit wie auch eine zugespitzte Entfremdung und Vereinzelung in allen gesellschaftlichen Bereichen, dann die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan, der ohne eine Militarisierung nicht nur der deutschen Gesellschaft, sondern auch des Kolosses Europäische Union, in dem die Bundesrepublik nicht von ungefähr eine Führungsposition beansprucht, nicht hätte geführt werden können, reizen nicht nur zum Widerspruch, sondern provozieren ihn sozusagen im Alleingang.

Demonstrationen wären das Gebot der Stunde, sollen sie doch das Regulativ und zugleich Gütekennzeichen demokratischer Staaten sein, in denen immer dann, wenn ein bestimmter Teil der Bevölkerung zu der Auffassung gelangt, die eigenen Positionen und Interessen in den parlamentarischen Entscheidungsprozessen nicht oder nicht genügend berücksichtigt zu sehen, der politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß von der Straße her durch Demonstrationen und Proteste aller Art mitgestaltet werden soll. Mit anderen Worten: Sollte sich "Volkes Wille" entgegen der behaupteten Repräsentanz in den politischen Entscheidungsgremien doch nicht Bahn brechen (können), stellen öffentliche Bekundungen gegenläufiger Ansichten und Positionen durch Demonstrationen und weitere, grundgesetzlich geschützte Formen der politischen Willensäußerung keineswegs ein Störmanöver dar, sondern müßten als Ausdruck eines tatkräftigen Verantwortungsgefühls des einst in diesem Sinne idealisierten mündigen Bürgers geradezu mit Lorbeeren überschüttet werden.

Wer sich je den rauhen Wind repressiver Maßnahmen bei Demonstrationen, Kundgebungen und sonstigen Protestveranstaltungen um die Nase hat wehen lassen, kann über derartige Sätze nur den Kopf schütteln. Längst ist das Verhalten der sogenannten Sicherheitsbehörden bei Demonstrationen selbst zu einem Politikum geworden, müssen doch TeilnehmerInnen mit Nachteilen aller Art für sich und andere rechnen, wenn sie dieses grundgesetzlich geschützte Grundrecht in Anspruch nehmen wollen. Sie sehen sich einer Staatsgewalt gegenüber, die ihre Polizeiketten in so martialischer Form und in soldatisch anmutender Ausrüstung aufmarschieren läßt, daß von einer demokratischen Kultur, in der politische Meinungsäußerungen tatsächlich den hohen Stellenwert einnehmen, der ihnen auf dem Grundgesetzpapier sowie in dementsprechenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zugeordnet wird, nicht die Rede sein kann.

All dies spielt sich keineswegs nur im bundesdeutschen und damit nationalen Rahmen wie in jedem anderen westlichen Staat parlamentarisch-demokratischen Zuschnitts ab. Dies hat seit vielen Jahren eine grenzüberschreitende Qualität erfahren, da im Zuge massenhafter Proteste, die sich an den Gipfelereignissen der zurückliegenden Jahre entzündeten und diese zum Anlaß für Mobilisierungen in bis dahin kaum erreichten Ausmaßen nahmen, auch die Repression grenzüberschreitend organisiert und zugespitzt wurde. Namentlich im Rahmen der EU wurde in der Polizeiarbeit ein Qualitätssprung zu einer nicht nur präventiven, sondern pro-aktiven Repression vollzogen, so als wäre die Angst der in ihr herrschenden Eliten vor einem Schulterschluß der Bevölkerungen mehrerer Mitgliedsländer zu gemeinsam organisierten Protesten und Widerstandsformen noch größer als der nationaler Verantwortungsträger vor den Konflikten im eigenen Land, die sie durch ihre gegen die Interessen der Bevölkerungen gerichtete Umlastungspolitik von unten nach oben geradezu zwangsläufig heraufbeschwören.

Da die Möglichkeiten, gegen eine als inakzeptabel bewertete Sozial- und Kriegspolitik zu mobilisieren und auf die Barrikaden zu gehen, angesichts der repressiven Zuspitzung ohnehin freiheitstötender Maßnahmen erheblich eingeschränkt sind, beißt sich die Katze hier in den Schwanz. Auf dem entsichern-Kongreß, der am 29. und 30. Januar in Berlin stattfand, wurde in vielfältiger Weise auf die aktuelle Entwicklung in der Europäischen Union Bezug genommen und diese kritisch analysiert, wobei der Repressionsalltag selbstverständlich einen besonders hohen Stellenwert einnahm. Auf dem Workshop "Two sides of a barricade" stellte der Sozialwissenschaftler Kriss Scholl in der ersten Hälfte seine gleichnamige Dissertation zu diesem Thema vor [1]. Im Anschluß daran referierte die Rechtsanwältin Angela Furmaniak, eine bereits seit zwanzig Jahren in der Antirepressionsarbeit aktive Juristin, über die spezifische Entwicklung, die die mittlerweile EU-weit organisierte Repression namentlich bei den großen Gipfelereignissen, aber auch sonstigen Protesten genommen hat.

Zur Einstimmung in die Problematik zeigte sie ein Foto von der Auftaktdemonstration zum NATO-Gipfel 2009, auf dem Demonstranten, eingekeilt von acht oder mehr Polizeiketten, zu sehen waren. Als erste These formulierte die Referentin dazu, daß die klassische Demonstration als Protestmittel wenn nicht ausgedient habe, so doch extrem schwierig geworden sei, da angesichts einer solchen Einkesselung durch Polizeikräfte der ursprüngliche Sinn dieser Ausdrucksform überhaupt nicht mehr zum Tragen komme. Angela Furmaniak stellte sich als eine nicht nur im linken Bereich tätige Anwältin vor. Seit über einem Jahr arbeitet sie mit einer Gruppe sogenannter "Ultras", also Hardcore-Fußballfans aus Stuttgart, die in einer selbst für eine seit zwei Jahrzehnten im Antirepressionsbereich tätigen Anwältin erschütternden Weise Wochenende für Wochenende mit Polizeirepression konfrontiert seien. Furmaniak zufolge ist dieser Bereich eine Art Vorreiter für die Repression gegen Linke, weshalb sie anriet, über den eigenen (linken) Tellerrand hinweg zu schauen und zu verfolgen, was in Sachen Repression auch in anderen Bereichen passiere.

Den Schwerpunkt ihrer Ausführungen legte sie auf die Frage, wie sich die Repression bei den Gipfelprotesten der zurückliegenden Jahre von Mal zu Mal verändert habe, wie also die Polizei auf aktivistische Protestformen und die AktivistInnen wiederum auf die Repression der Polizei reagiert hätten. Konkret informieren wollte sie darüber, wie eine Ausreiseverbotsverfügung oder eine INPOL-Auskunft aussehen kann und was die Polizei für Informationen bekommt, wenn sie an der Grenze einen Personalausweis überprüft. Einleitend machte die Referentin die Entwicklung in der Repressionsgeschichte bei Demonstrationen und Gipfelprotesten seit den 1980er Jahren deutlich. Seinerzeit wären AktivistInnen vielleicht einmal von München nach Freiburg gefahren, auch habe es schon hin und wieder bundesweite Bündnisse gegeben, doch erst mit der Entstehung der Antiglobalisierungsbewegung sei daraus eine grenzüberschreitende Vernetzung auf Seiten der AktivistInnen wie auch der Polizei geworden.

Der Raum der Proteste, aber auch der Repression sei größer geworden mit Reibungsverlusten, die daraus zwangsläufig entstünden, sowie Chancen und Problemen, die sich in der Folge dessen ergäben. Wenn beispielsweise ein Demonstrant aus Freiburg in Hamburg inhaftiert werde, hat er es vielleicht mit einem anderen Landespolizeigesetz zu tun, kann sich jedoch auf deutsch verständigen und hat eine ungefähre Vorstellung von der Rechtslage. Ganz anders sähe das allerdings aus, wenn jemand in Genua ins Gefängnis komme, dann ist er mit völlig anderen Problemen konfrontiert. Die Polizei habe sich bei ihrem Umgang mit den Gipfelprotesten als sehr flexibel erwiesen in Hinsicht auf ihre Repressionsstrategie. So waren beispielsweise Ingewahrsamnahmen in Heiligendamm ein Riesenthema, was nicht nur von Seiten der Linken, sondern auch von bürgerlichen Medien skandalisiert worden sei unter Stichworten wie "Käfighaltung" oder "Kein Zugang zu Anwälten".

In Reaktion darauf hatten sich die beteiligten AnwältInnen in der Vorbereitung auf die Proteste gegen den NATO-Gipfel auf die Frage konzentriert: Wie gehen wir mit den zu erwartenden massenhaften Ingewahrsamnahmen um? Tatsächlich sei es beim NATO-Gipfel jedoch nur zu sieben Ingewahrsamnahmen gekommen, hatte sich die Polizei doch darauf verlegt, mit Ausreiseverbotsverfügungen gegen die AktivistInnen vorzugehen. Dies stellte den anwaltlichen Notdienst vor große Probleme, mußte doch nun angesichts massenhaft verhängter Ausreiseverbote eine schnelle Lösung gefunden werden, um das taktische Vorgehen der Polizei, AntigipfeldemonstrantInnen an der Einreise nach Frankreich und damit an der Teilnahme an den Gipfelprotesten [2] zu hindern, zu durchkreuzen.

Nachdem die beteiligten AnwältInnen, wie die Referentin aus eigenem Erleben schilderte, zunächst etwas ins Schwimmen gekommen waren, konnte das Problem durch vorformulierte Schreiben, die ins Internet gestellt wurden, damit alle Betroffenen auf diese Weise in kürzester Zeit Widerspruch einlegen konnten, gelöst werden. Zum Thema Ausreiseverbotsverfügung erläuterte die Referentin, daß auch diese Maßnahme ihres Wissens nach erstmals bei der Europameisterschaft 2000 in Belgien und den Niederlanden gegen Fußballfans eingesetzt worden sei. Im Unterschied zu linken AktivistInnen seien Fußballfans allerdings in der Regel nicht besonders gut organisiert und hätten "nicht den Nerv", einen Rechtsstreit bis zum Bundesverwaltungsgericht durchzuziehen. So hatte die Polizei bei der EM 2000 ungestört erste Erfahrungen mit massenhaft verhängten Ausreiseverboten machen und Ideen sammeln können, wie das überhaupt zu bewerkstelligen sei und wie sie am besten argumentiere.

Ein Jahr später, 2001 beim G-8-Gipfel in Genua, sei es plötzlich auch gegen linke AktivistInnen mit massenhaften Ausreiseverbotsverfügungen und Meldeauflagen losgegangen. Im Unterschied zu den Fußballfans fand sich hier ein Betroffener, der das durchgeklagt hatte bis zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Jahre 2007, die allerdings besagte, daß solche Ausreiseverbotsverfügungen grundsätzlich okay seien und daß es im Einzelfall einen großen Ermessensspielraum gäbe. Die Referentin führte Beispiele an, um gleichwohl deutlich zu machen, wie mit rechtlichen Mitteln gegen diese Form der Repression vorgegangen werden könne. Zunächst einmal beschrieb sie das polizeiliche Vorgehen direkt vor Ort an der Grenze, wenn gegen einen Aktivisten ein Ausreiseverbot verhängt werden soll. Die Beamten hätten ein DIN-A4-Blatt zur Verfügung gestellt bekommen mit möglichen Textbausteinen zur "individuellen Sachverhaltsdarstellung". Im Einzelfall stünde dann etwa Folgendes in einer solchen Verfügung: "Sie traten als Mitglied einer Gruppe (alle Fahrzeuginsassen) gegenüber den eingesetzten Beamten provozierend und unkooperativ auf."

Kooperatives Verhalten gegenüber den Polizeibeamten habe jedoch keineswegs die Gewähr geboten, nicht an der Ausreise und damit an der Teilnahme an den Anti-NATO-Protesten gehindert zu werden. So sei einem Betroffenen vorgeworfen worden, er sei besonders kooperativ aufgetreten; schließlich sei allgemein bekannt, daß Linke sich besonders kooperativ verhielten, um an Ort und Stelle zu gelangen und Gewalttaten begehen zu können. Auf einer Verbotsverfügung habe sogar gestanden, daß der Betroffene "angesichts der Kontrollmaßnahmen kooperativ und freundlich" gewesen sei, was natürlich, auch wenn sich das jetzt im nachhinein vielleicht so anhöre, überhaupt nicht witzig gewesen sei. Das sei schon eine sehr beliebige Vorgehensweise gewesen, resümierte die Anwältin, so sei beispielsweise auch "szenetypische Kleidung" als Kriterium herangezogen worden. Auch habe sie feststellen können, daß die Polizei es überhaupt nicht mochte, daß die Betroffenen erfuhren, woher sie ihre Informationen überhaupt hatte, ob aus der LIMO-Datei (linksmotivierte Gewalttäter) oder der IGAS-Datei (international agierende gewaltbereite Störer), und so habe es oft Vermerke gegeben, daß dies nicht bekanntgegeben werden solle.

Zu der Frage, wie diese repressiven Maßnahmen umgedreht und wie gegen sie vorgegangen werden könne, zeigte die Referentin zunächst die rechtlichen Mittel und Wege auf. Juristisch könne man gegen eine Ausreiseverbotsverfügung vorgehen, indem man gegen sie Widerspruch einlege, was allerdings zunächst keinen unmittelbaren Nutzen habe, da ein solcher Widerspruch keine, wie JuristInnen sagen, "aufschiebende Wirkung" habe. Das bedeute, daß das Ausreiseverbot ungeachtet des eingelegten Widerspruchs zunächst bestehen bleibt mit der Folge, daß der Betroffene nicht über die Grenze gelassen wird. Um dies zu verhindern, müsse beim Verwaltungsgericht ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt werden, was bei Strasbourg auch gemacht worden sei. Wie Furmaniak nicht ohne Stolz berichtete, konnten auf diese Weise fast alle Verfahren gewonnen werden, zum großen Leidwesen der Bundespolizei, die offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, daß es der Gegenseite in so kurzer Zeit gelingen würde, so viele Rechtsverfahren anhängig zu machen. Das juristische Problem hatte nämlich auch darin bestanden, daß keine Sammelklagen möglich waren und daher für jeden einzelnen ein eigenes Verfahren geführt werden mußte, was durch die vorgefertigten Formulare, die via Internet an die Betroffenen verteilt wurden, dann auch realisiert werden konnte.

In einem weiteren Beispiel war in der Verfügung - wie in jeder anderen auch - als Verbotsgrundlage angegeben worden, daß "der oder die Betroffene dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland schaden" könne. Das Verwaltungsgericht habe dann jedoch entschieden, daß im Unterschied zu gewaltbereiten Fußballfans, die als Deutsche im Ausland aufträten, die Gipfelproteste in der Regel international organisiert seien und eine nationale Symbolik bei ihnen keine Anwendung fände, weshalb die Staatsangehörigkeit keine Rolle spiele und die Gefahr, daß der Betreffende dem Ansehen Deutschlands im Ausland schade, nicht so hoch sei. Als Beleg für diese Einschätzung hatte das Gericht "Gipfelsoli"-Veröffentlichungen herangezogen...

Ungeachtet der errungenen juristischen (Teil-)Erfolge räumte die Referentin ein, daß das große Problem bei Ausreiseverbotsverfügungen einfach sei, daß extrem schnell reagiert werden müsse. Die Situation sei doch die: Da steht jemand an der Grenze und will nach Strasbourg und bekommt gesagt, daß er nicht rüber darf. Da kann ein Betroffener nicht viel machen; er braucht einen Apparat hinter sich, Menschen, an die er sich mit seinem Problem wenden kann und die ihn konkret unterstützen können bei der Frage, wie er dagegen vorgehen könne. Das sei ein Riesenproblem, und ein weiteres bestünde darin, daß es der Bundespolizei beim NATO-Gipfel gelungen sei, die AktivistInnen in diesem Punkt zum Teil einfach auszuhebeln. Bis auf einen minimalen Prozentsatz seien die Verfahren zwar gewonnen worden, so daß die Betroffenen mit dem Beschluß vom Verwaltungsgericht, daß sie rüber dürfen, in der Hand wieder an die Grenze kamen. Doch dann geschah folgendes: Die Bundespolizei ließ sie zwar ausreisen, doch die französischen Kollegen verweigerten ihnen 30 Meter weiter die Einreise nach Frankreich.

In Kehl an der Europabrücke hatten sich deutsche und französische Grenzbeamten ein Büro geteilt. Letztendlich, so Furmaniak, hätten die deutschen Polizisten dort nichts anderes gemacht, als den Computer-Bildschirm mit den Auskünften der deutschen Stellen, von denen das Gericht gesagt hatte, daß sie völliger Schwachsinn und unverwertbar seien, herumzudrehen, um sie den französischen Kollegen zu zeigen - und das Ergebnis waren dann die Einreiseverbote nach Frankreich. Da war für uns Schluß, mußte die Anwältin einräumen. Für sie als deutsche Anwältin, die kein Französisch könne, habe da keine Möglichkeit mehr bestanden, den Betroffenen zur Einreise nach Frankreich zu verhelfen. Soweit sie, aber auch die anwesenden AktivistInnen dies wüßten, habe in Frankreich niemand versucht, gegen diese Verfügungen zu klagen.

Im Fußball gäbe es im Bereich Ausreiseverbotsverfügung dann noch so etwas wie ein, wie die Referentin es nannte, "faktisches Ausreiseverbot". Da werde juristisch gar keine Verfügung mehr ausgesprochen, gegen die man noch hätte angehen können, da werden schlicht Fakten geschaffen. Sei es, daß, wenn der Verein X beispielsweise in Lissabon ein Europacupspiel hat und die betroffenen Fans einen bestimmten Flieger erreichen müssen, die Kontrollen am Flughafen so lange ausgedehnt werden, bis die Fans das Flugzeug verpassen. Das sei einfach Schikane, und da gäbe es sehr, sehr viele Möglichkeiten, so die Anwältin.

Als ein weiteres großes Thema von Repression mit juristischen Mitteln stellte die Referentin Demonstrationsverbote vor. In Heiligendamm beispielsweise habe es eine Sternmarsch-Problematik gegeben. Der angekündigte Sternmarsch war auf der Grundlage von Fakten, die die Polizei geliefert hatte, verboten worden. Mit ganz bewußten Falschdarstellungen, ja mit Lügen, wie man sagen könne und müsse, habe die Polizei die Gerichte davon überzeugt, daß schwere Gefahren zu erwarten seien. Hinterher habe sich das alles als nachweislich falsch herausgestellt, doch in der Kürze der Zeit war es nicht möglich gewesen, eine Richtigstellung hinzubekommen, und damit war das Demonstrationsverbot im Raum. Vor dem Verwaltungsgericht in Schwerin ist jetzt eine Verhandlung anhängig, bei der es wohl darauf hinauslaufen wird, das Demonstrationsverbot nachträglich für rechtswidrig zu erklären. Auf die Frage eines Teilnehmers, ob ihr ein Fall einer nachträglichen Feststellungsklage geläufig sei, bei der es um strafrechtlich relevante Rechtsbeugung in einem Repressionsbereich gegangen wäre, meinte die Referentin, daß ihr so etwas nicht bekannt sei und daß sie dies für juristisch fast unmöglich hielte.

Zum Thema grenzüberschreitender Einsatz von Spitzeln erklärte Angela Furmaniak, daß es Spitzel in der linken Szene schon immer gegeben habe und daß die neue Qualität bestenfalls in ihrem europaweiten Einsatz läge. Da angesichts des im vergangenen Herbst enttarnten britischen Polizeispitzels Mark Kennedy das Thema ohnehin viel diskutiert werde, so auch auf dem entsichern-Kongreß, beschränkte sich die Referentin auf den juristischen Aspekt. Wenn es schon schwierig sei, im deutschen Raum gegen deutsche Undercover-Agenten vorzugehen, wie ist es dann um den Rechtsschutz in einem solchen internationalen Kontext bestellt? Was darf ein ausländischer, in diesem Fall britischer Spitzel überhaupt tun? Sich als in Freiburg lebende Deutsche vor einem britischen Gericht gegen solche Übergriffe zu wehren, sei ungeheuer schwierig. Die Anwältin berichtete von Fällen, in denen Betroffene, nachdem sie bespitzelt worden sind, Auskünfte darüber erhalten wollten. In einem Fall aus Freiburg habe ein Betroffener, nachdem Anfang der 1990er Jahre ein Spitzel aufgeflogen war, elf Jahre lang durch alle Instanzen geklagt, um die Informationen zu bekommen, die über ihn erspitzelt worden waren. Als dann schließlich das Verwaltungsgericht entschieden hatte, das Landeskriminalamt müsse die Unterlagen herausgeben, hieß es dort lapidar: "Tut uns leid, unsere Speicherfristen sind abgelaufen, just vor drei Monaten wurden die Daten gelöscht."

Eine weitere wesentliche Frage, über die Angela Furmaniak trotz der Kürze der Zeit Auskunft gab, betraf die Informationen, die die Polizei bei Überprüfungen an der Grenze erhält. Wie sieht das konkret aus? Was für Dateien, in denen in diesem Zusammenhang relevante Daten gespeichert werden, gibt es überhaupt und welche Informationen werden in ihnen gesammelt? Als erstes nannte die Referentin die Datei LIMO, in der "linksmotivierte Gewalttäter" gespeichert wären und die - mit Stand vom August 2010 - rund 2.300 Einträge enthalte. IGAS, eine Datei, die "international gewaltbereit agierende Störer" enthalte, umfasse, ebenfalls Stand August 2010, 1350 Speicherungen, während die Datei "Gewalttäter Sport" zum selben Zeitraum fast 13.000 Einträge aufwiese und damit eine doch überraschende - oder auch nicht - Dimension erreicht habe. Auf die Frage, wie man in diese Dateien geraten könne, erläuterte die Referentin, daß es beispielsweise bei der Datei "Gewalttäter Sport" ausreiche, in irgendeinem Zusammenhang mit Fußball einmal aufgefallen zu sein. Dafür würde es genügen, in eine Kontrolle mit jemandem geraten zu sein, der in der Datei schon geführt wird, was dann zur Folge habe, nun ebenfalls als "Begleitperson" in die Datei aufgenommen zu werden.

Im Zuge der Verfahren gegen die im Zusammenhang mit den Anti-NATO-Protesten in Strasbourg massenhaft verhängten Ausreiseverbote war auch deutlich geworden, wie bei der Polizei mit personenbezogenen Daten umgegangen wird. Furmaniak schilderte aus den Verwaltungsgerichtsakten den Fall eines männlichen Deutschen, bei dem die Bundespolizei eine INPOL-Auskunft an das Gericht mitgeschickt hatte (bei INPOL handelt es sich um eine zentrale Verbunddatei der Polizeibehörden, die beim Bundeskriminalamt als Zentralstelle für das polizeiliche Informationswesen geführt wird). In dem geschilderten Fall habe die Bundespolizei dann ihren Fehler bemerkt. Es folgte ein panischer Anruf der zuständigen Beamtin bei dem Richter, daß diese Unterlagen gar nicht in die Akte hätten geschickt werden sollen und daß sie auf gar keinen Fall verwertet werden dürften. Doch was machte der Richter? Er legte einen Aktenvermerk über den Anruf an und heftete diesen an die Akte mit der Folge, daß die Anwältin, als sie in dem Verfahren Akteneinsicht bekam, sich köstlich über den Vorfall amüsieren konnte.

In diesem Fall war es wohl um eine "polizeiliche Beobachtung" gegangen, was bedeute, daß die Polizei die Information erhielt: Wenn ihr diese Person in die Finger bekommt, kontrolliert sie doch bitte einmal. Wie es zu dem INPOL-Eintrag überhaupt gekommen war, ließ sich nicht aufklären. Gespeichert waren dort Informationen darüber, welche Sprachkenntnisse der Betreffende hat (Deutsch, Englisch, Französisch), was für ein Auto er fährt, wie seine äußere Erscheinung (Gestalt, Gewicht, Größe) ist und so weiter, bis hin zum Dreitagebart, einer bestimmten Narbe oder einer "europäischen Erscheinung". Diese Informationen bekommt die Polizei, wenn sie eine Überprüfung vornimmt. Bei einer normalen Verkehrskontrolle gehen die Beamten in ihren Streifenwagen und funken. Bei einem Treffer, also einem Eintrag in der LIMO-Datei (Gewalttäter links), erhalten sie dann die wichtigsten Informationen. In diesem Fall müsse es so gelaufen sein, daß die Bundespolizei Zugang zu diesem Rechner hatte und die Informationen herunterladen konnte, wodurch der Ausdruck zustande gekommen war. Ein Teilnehmer merkte an, daß der Betroffene wohl unter "beobachtender Fahndung" gestanden hätte, daß dies jedoch nicht auf alle Menschen, die in diesen Dateien geführt werden, zuträfe.

Die Referentin fügte ergänzend noch hinzu, wie die Information über die Kontrolle des Betroffenen ihrerseits weiterverteilt wurde. Am Tag vor der Abschlußdemonstration in Strasbourg versandte ein sogenannter Sondermeldedienst die Information an zahlreiche weitere Dienststellen. Darin hieß es dann: Im Rahmen der Grenzkontrollen am Grenzübergang Breisach anläßlich der Einsatzmaßnamen zum NATO-Gipfel wurde bei der polizeilichen Überprüfung des KFZ - amtliches Kennzeichen, dann der Fahrzeughalter - der Polizeipflichtige x in Begleitung der Personen sowieso und sowieso angetroffen. Laut INPOL-Zentrale gäbe es gegen x zwei Fahndungsnotierungen: "Polizeiliche Beobachtung" und einen Eintrag in "Gewalttäter links". Des weiteren wurde festgehalten, daß x sich "polizeierfahren" verhalten und "die Eröffnung der Verfügung zur Ausreiseuntersagung mittels Sprachaufzeichnung seines Mobiltelefons" dokumentiert habe. Nach Identitätsüberprüfung und Ausreiseuntersagung habe er sich ins Inland begeben, die Ausreiseuntersagung wurde ihm vor Ort schriftlich ausgehändigt. All diese Informationen wurden über einen Verteiler weitergegeben bis hin zum Bundeskriminalamt, zur Sondereinsatzgruppe NATO beim Landeskriminalamt und vielen weiteren Stellen.

In ihrem Fazit brachte die Referentin noch einmal zum Ausdruck, wie wichtig es sei, in Sachen Repression über den eigenen Tellerrand hinwegzusehen und daß speziell der Bereich Fußball von der Polizei als Testfall genutzt werde, um die so erprobten repressiven Maßnahmen dann auch gegen links einzusetzen. Ganz dringend sei die Entwicklung einer wirklich gutaufgestellten Antirep-Struktur bei allen größeren Ereignissen und weiteren Gipfelprotesten, wozu auch eine effiziente Verzahnung zwischen aktivistischen Strukturen und den anwaltlichen Notdiensten gehöre. Furmaniak betonte, daß Anwälte und Anwältinnen sich als Bestandteil dieser Proteste und der Widerstandsbewegung begriffen und nicht nur eine juristische Dienstleistung ablieferten; schließlich mache es doch einen Unterschied, wie jemand seinen Blick auf die Repression richte und wie er über den Sinn und Zweck sowie die Hintergründe dächte.

Der juristische Kampf, so das Fazit der seit zwanzig Jahren in der Antirep-Arbeit tätigen Anwältin, sei ein ganz wichtiger Teil der aktivistischen Bewegung, aber selbstverständlich nicht alles. Der eigentliche Protest finde woanders statt und nicht in den Gerichtssälen. Zwar gäbe es da ganz nette Anekdoten - das sei ja wohl auch ein bißchen angeklungen bei der Aufhebung eines Ausreiseverbots, die vom Gericht mit Gipfelsoli-Erklärungen begründet wurde -, doch sei dies immer nur ein kleiner, wenn auch sicher wichtiger Teilbereich der Auseinandersetzungen. Und es gäbe auch Negativbeispiele wie das der Ausreiseverbotsverfügung von 2001 zu Genua, bei der das Bundesverwaltungsgericht sechs Jahre später erklärte, daß dies grundsätzlich in Ordnung sei. Die (juristischen) Kämpfe könne man eben auch verlieren, dann gelte es, sich wieder etwas Neues einfallen zu lassen.

In ihrem Schlußwort unterstrich die Anwältin noch einmal, wie enorm wichtig eine gute internationale Vernetzung der Antirep-Strukturen sei. Gerade beim NATO-Gipfel hätte sich herausgestellt, daß die Vernetzung mit den dortigen Anwaltskollegen noch erhebliche Mühen bereitet hätte; auch die Zusammenarbeit zwischen den aktivistischen Ermittlungsausschüssen sei nicht ganz so einfach gewesen, da gäbe es noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Eine besondere Anforderung an die Antirep-Strukturen sei auch die Notwendigkeit, flexibel zu reagieren. So hatten sich wie berichtet die anwaltlichen Notdienste beim NATO-Gipfel auf massenhafte Ingewahrsamnahmen vorbereitet, wurden dann jedoch mit massenhaften Ausreiseverbotsverfügungen konfrontiert, was allen Beteiligten abverlangte, sich schnell auf eine unvorhergesehene Situation einzustellen. Um der Repression, was auch immer geschehen möge, entgegentreten zu können, müsse man jederzeit in der Lage sein, sich etwas einfallen zu lassen.

Aus dem Kreise der Teilnehmer wurde im Anschluß deutlich gemacht, daß beim NATO-Gipfel eine neue Stufe in der Repressionsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland wie auch europaweit erreicht worden sei. Ganz Baden-Württemberg sei eine einzige Polizeizone gewesen, in der ein extrem repressive Klima geherrscht habe mit Polizeikontrollen wieder und wieder, durchgeführt weit im Vorfeld der eigentlichen Ereignisse von Polizeibeamten mit Maschinenpistolen. Neu und zugespitzt sei an dieser Entwicklung vor allem auch gewesen, daß all dies präventiv geschah und nicht mehr, wie vielleicht noch vor 40 Jahren, in Reaktion auf einen und sei es noch so geringfügigen Anlaß wie eine kleine Ordnungswidrigkeit, die seinerzeit als Vorwand genutzt worden war, um Demonstrationen von der Polizei zusammenprügeln zu lassen.

Die Repression von heute sei ohne die Datenerhebung und -verwertung nicht zu fassen und so richtete die Referentin zum Abschluß den dringenden Appell an alle Interessierten, bei der Polizei regelmäßig Auskunft darüber zu verlangen, ob und welche Informationen über sie gespeichert seien. Wie ein Teilnehmer anmerkte, sei im Unterschied zur europäischen Polizeibehörde Europol, um von den Geheimdiensten ganz zu schweigen, die (deutsche) Polizei in ihren diesbezüglichen Auskünften zuverlässig. Das Problem sei allerdings, daß die Beamten selbst nicht immer den Überblick hätten, was es alles für Datenbanken und Speicherungen gäbe, doch wenn sie erklärten, daß sie keine Informationen gespeichert hätten, dann stimme das auch. Angela Furmaniak erklärte zu diesem Thema, sie sei rechtsstaatsgläubig genug um zu glauben, daß die Polizei, wenn von ihr verlangt werde, rechtswidrig erlangte Informationen zu löschen, dies auch täte. Der Workshop endete nicht ohne den Hinweis, daß es dazu auch andere Erfahrungen gäbe.



Anmerkungen:

[1] Siehe: BERICHT/065: Eurokrake Sicherheit - Barrikadenfragen aus sozialwissenschaftlicher Sicht (SB)

[2] Zum Anti-NATO-Gipfel im Schattenblick in POLITIK -> REPORT erschienen:
BERICHT/013: Gipfelbruch - Strasbourg 4. April 2009 (SB)
BERICHT/014: Konferenz der NATO-Gegner bei Strasbourg, 3. April 2009 (SB)
INTERVIEW/012: US-Antikriegsaktivist Joseph Gerson (SB)
INTERVIEW/013: Malalai Joya, Mitglied des Parlaments Afghanistans (SB)
INTERVIEW/014: Otmar Steinbicker zur Organisation der Anti-NATO-Proteste (SB)
INTERVIEW/015: Alain Pojolat, Noveau Parti Anticapitaliste (NPA) (SB)
INTERVIEW/016: US-Nahost-Expertin Phyllis Bennis (SB)
INTERVIEW/017: Sasha Simic, Socialist Workers Party (SWP) (SB)
INTERVIEW/018: Matthis Chiroux, Iraq Veterans Against the War (IVAW) (SB)
INTERVIEW/019: Pierre Villard, Le Mouvement de la Paix (SB)
INTERVIEW/020: Dave Webb, Campaign for Nuclear Disarmament (CND) (SB)


Zum entsichern-Kongreß bisher erschienen:
BERICHT/055: Eurokrake Sicherheit - entsichern ... (SB)
BERICHT/056: Eurokrake Sicherheit - Risse in der Festung Europa(SB)
BERICHT/057: Eurokrake Sicherheit - Administrative Logik eines Gewaltapparats (SB)
BERICHT/058: Eurokrake Sicherheit - Netzwerke der Repression (SB)
BERICHT/059: Eurokrake Sicherheit - Vom Himmel hoch ... (SB)
BERICHT/060: Eurokrake Sicherheit - Präventionspolizei probt den Zugriff (SB)
BERICHT/061: Eurokrake Sicherheit - Exekutive Vernetzung, atomisierte Bevölkerungen (SB)
BERICHT/062: Eurokrake Sicherheit - Widerspruchsregulation im Staatsprojekt Europa (SB)
BERICHT/063: Eurokrake Sicherheit - Ökonomische Verfügungsgewalt im Staatsprojekt EU (SB)
BERICHT/064: Eurokrake Sicherheit - Ein neuer Internationalismus des sozialen Widerstands (SB)
BERICHT/065: Eurokrake Sicherheit - Barrikadenfragen aus sozialwissenschaftlicher Sicht (SB)
INTERVIEW/070: Eurokrake Sicherheit - Matthias Monroy zur Spitzelproblematik (SB)
INTERVIEW/071: Eurokrake Sicherheit - Detlef Hartmann - Horizonte linker Radikalität (SB)


28. März 2011