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BERICHT/067: Eurokrake Sicherheit - Position in unwegsamem Gelände bestimmen (SB)


Abschlußplenum auf dem entsichern-Kongreß in Berlin am 30. Januar 2011

Veranstaltungsplakate zum entsichern-Kongreß - © 2011 by Schattenblick

Eröffnung einer fruchtbaren Debatte
© 2011 by Schattenblick

In einem abschließenden Beitrag zum entsichern-Kongreß wollen wir an dieser Stelle nicht nur ein Fazit ziehen, sondern darüber hinaus der Frage nachgehen, welche Impulse diese Fachtagung der radikalen Linken zum Thema Europäische Union einem wachsenden Kreis engagierter Kritiker des europäischen Projekts geben könnte. Der Bedarf, sich mit diesem Prozeß tiefgreifender Interventionen in die unmittelbaren Lebenszusammenhänge zahlloser Menschen zu befassen, der sich der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend entzieht, liegt auf der Hand. Dem dringenden Wunsch folgend, langjährige Erfahrungen und Recherchen von AktivistInnen zusammenzuführen, um sich ein schärferes und umfassenderes Bild von der Sicherheitsarchitektur Europas zu machen, war der Kongreß konzipiert und realisiert worden. In ihm kam zugleich das Bedürfnis nach einer Theoriebildung zum Ausdruck, die sich nicht in einer Zusammenschau relevanter Phänomene erschöpft, sondern Anhaltspunkte für eine fundierte strategische Analyse liefert und somit die künftige Praxis beflügelt.

Wie in den Workshops und Diskussionen im Plenum immer wieder zum Ausdruck kam, zeichnet sich die polizeiliche, juristische und administrative Innovationskraft des Europas der Führungsmächte nicht zuletzt durch seine Fähigkeit zu präventivem und präemptivem Handeln aus. Der herrschaftssichernde Entwurf, die Zukunft in wesentlichen Strukturen und Prozeßverläufen festzuschreiben, zielt darauf ab, dem potentiellen Widerstand gegen den Frontalangriff auf die Lebensverhältnisse dramatisch wachsender Teile der Bevölkerung auf dem Vorweg den Boden zu entziehen. Die soziale Fragmentierung, repressive Zurichtung und ideologische Einfriedung zermürbt und sanktioniert jede Fundamentalopposition gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse. In marginale Fraktionen zersplittert, die ihre Kämpfe auf separate Konfliktfelder beschränken, sehen sich die verbliebenen Gruppierungen der Linken in reaktive und nur mehr punktuelle Abwehrgefechte verstrickt, die der Wucht und konzeptionellen Reichweite innovativer Verfügungsgewalt wenig entgegenzusetzen haben.

So restriktiv zugespitzt und doktrinär verhärtet die Attacken neokonservativer bis offen reaktionärer Kräfte geführt werden, geht die technokratische Offensive doch insbesondere von jenen Gesellschaftskreisen und parteipolitischen Sammelbecken aus, die die Führerschaft sozialer Bewegungen und bürgerlicher Protestkampagnen für sich reklamieren, um sie auszubremsen und sich deren Schwung zur Beförderung karrieristischer Pfründe und machtbewußter Beteiligungsoptionen einzuverleiben. Die unablässige Spaltung, Befriedung und Neutralisierung widerständigen Aufbegehrens vollzieht sich im Prozeß der Okkupation positiv konnotierter Wertsetzungen wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechten zum Zweck ihrer Indienstnahme für herrschaftsrelevante Sozialregulation, elitäre Überlebenssicherung und imperialistische Übergriffe. Dabei wird die traditionelle Rolle der Sozialdemokratie in Gestalt der Eindämmung von Arbeitskämpfen, Kanalisierung sozialreformerischer Bestrebungen und hegemonialer Expansion längst in den zweiten Rang verwiesen vom lodengrünen Griff nach den ideologischen Vorposten und politischen Schaltstellen.

Wie eng verschränkt nationalstaatliches Dominanzstreben und supranationale Zugriffsgewalt der europäischen Mächte agieren, wenn es gilt, hegemoniale Expansion voranzutreiben und innenpolitische Befriedung zu konsolidieren, zeigen die Umwälzungen in Nordafrika und Westasien. Die Europäische Union macht in dieser Weltregion parallel und mitunter auch in Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten vorgelagerte Sicherheitsinteressen und zu schützende Versorgungswege geltend, indem sie die Festung Europa um flexible Pufferzonen ergänzt. Offensichtlich überrascht von den unvorhergesehen Erhebungen in den arabischen Ländern schienen die Mächte Europas zunächst mit den Grenzen ihrer prognostischen Kapazitäten und eingespielten Handlungsstrategien konfrontiert. In ihrem Interesse an stabilen Verhältnissen in ihrer erweiterten Randzone massiv beeinträchtigt, versuchen sie die vielfältigen Bewegungen nicht nur unter Kontrolle zu bringen, um ihnen die antiimperialistische und antikapitalistische Spitze zu nehmen. Sie forcieren darüber hinaus die Transformation zu ihren Gunsten, indem sie mit dem von langer Hand vorbereiteten Angriffskrieg gegen Libyen die strategische Initiative zurückgewinnen. So nützliche Dienste Muammar al-Gaddafi den westlichen Mächten auch leisten mochte, indem er die Ölversorgung sicherstellte, die Flüchtlingsabwehr übernahm und auf diversen anderen Feldern nützlich war, blieb er im Kern doch ein unsicherer Kantonist. Er hat sich in der Vergangenheit in viele Tabuzonen vorgewagt, weshalb man ihn allenfalls als zwangsrekrutierten Erfüllungsgehilfen, aber niemals als vertrauenswürdigen Bündnispartner einstufen mochte.

Der Angriff der Koalition, der nun unter die Führung der NATO gestellt wurde, soll mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Gaddafi zu beseitigen und durch ein in der Wolle westlichen Denkens gewaschenes Regime zu ersetzen ist nur der vordergründige Zweck. Außenpolitik auf europäischer Ebene verwandelt die Not der für sie im Ansatz ungewollten Umwälzung in ihrem nordafrikanischen Vorhof in die Tugend einer von ihr ausgesteuerten Konsolidierung auf höherem Niveau. Der Krieg in Libyen okkupiert Deutungshoheit, Zielsetzung und Durchführung des gesamten Veränderungsprozesses in dieser Weltregion, weshalb die aufgewendete Waffengewalt als ultimative Demonstration unabweislicher Führerschaft aus Sicht der Aggressoren in Washington und den europäischen Hauptstädten für das Mittel der Wahl erachtet wird, zukunftsfähige Führungsgewalt wiederzugewinnen.

Nicht minder bedeutsam wie diese ebenso rasante wie brachiale Reaktionsfähigkeit des europäischen Projekts bei der Rückgewinnung und Innovation ihrer expansionistischen Initiative ist deren zersetzende Wirkung im innenpolitischen Kontext. Im Streit um das Für und Wider der Kriegsbeteiligung setzen sich beträchtliche Fraktionen der Linken in mehreren europäischen Ländern endgültig ins bürgerliche Lager ab. Die langersehnte Absolution durch das Bekenntnis zum vorgeblich guten Krieg gestattet das Überwechseln auf die richtige Seite, auf der man Antiimperialismus und Antikapitalismus getrost als anachronistisch entsorgen kann, verfügt man doch über das geschmeidige Universalwerkzeug westlicher Kultur und Werte, zu dessen Suprematie man sich endlich offen und uneingeschränkt bekennen kann. Daß Angriffskriege gegen autoritäre Regime mit einer Absetzbewegung aus dem linken Lager einhergehen kommt nicht von ungefähr: Wer sich auf die Seite des Stärkeren schlagen will, um fortan guten Gewissens Jugendsünden abzuschwören und seiner Beteiligung am System zu frönen, bedarf eines konsensfähigen Feindbilds. Die Marschflugkörper, Raketen und Bomben haushoch überlegener Militärmächte einzufordern und zu bejubeln, um das personifizierte Böse auszumerzen, stellt gleichsam die Feuertaufe eines wiedergeborenen Demokraten dar.

Internationalismus wiederzugewinnen und im Kontext aktueller Offensiven imperialistischer Zugriffssicherung zu prüfen und weiterzuentwickeln, ist mithin unverzichtbar für die Kritikfähigkeit der Linken in Bezug auf das Projekt der Europäischen Union. Es geht um nichts weniger, als deren Angriffe nach außen und innen aus dem Stadium einer selektiven und fragmentierten Wahrnehmung in einen Gesamtzusammenhang der Streitbarkeit zu überführen, der prognostische Qualitäten entwickelt. Faßt man Herrschaftssicherung als permanentes Bestreben auf, die Zukunft strategisch zu besetzen und zu einem Entwurf unausweichlicher Verfügung zu verdichten, so gilt es dem einen Prozeß der Frageentwicklung entgegenzusetzen, der weit über die postulierten Zwangsläufigkeiten und daraus abgeleiteten Anpassungsnöte hinausweist.


Fragen entwickeln, Streitbarkeit entfalten

Das dem Abschlußplenum des entsichern-Kongresses vorangestellte Bedürfnis, im Licht der vorangegangenen Diskussionen in den Arbeitsgruppen über die Praxis zu sprechen und Handlungsoptionen zu formulieren, ließ sich nicht übers Knie brechen. Daß mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gefunden wurden, unterstrich, wie fruchtbar dieser Kongreß für die radikale Linke werden könnte, sofern die dort begonnene Debatte über die Grenzen direkt beteiligter Gruppen und Personen weitergeführt wird. Offen einzuräumen, wie sehr man von der Reaktions- und Adaptationsfähigkeit staatlicher und supranationaler Strategien in die Defensive gedrängt zu werden droht, macht die Schwäche zum Ausgangspunkt, die sich weder von Illusionen blenden, noch Erfolgsperspektiven korrumpieren läßt.

Wurde zunächst kontrovers bewertet, ob man die EU grundsätzlich als innovatives Herrschaftsprojekt ablehnen sollte oder mit dieser Fundamentalopposition nicht ins Fahrwasser einer rückwärtsgewandten und reaktionären Position gerät, so herrschte doch Einigkeit darüber, daß man einem Europa von oben nichts Positives abgewinnen kann. Gilt es demgegenüber ein Europa von unten zu schaffen, wie dies in der Diskussion mehrfach angemahnt wurde? Wie die Erfahrungen der AktivistInnen belegen, hatte beispielsweise die Gipfelprotestbewegung durchaus den Charakter grenzüberschreitenden Widerstands, der geeignet war, Kämpfe in verschiedenen Ländern zusammenzubringen. Als Alleinstellungsmerkmal der radikalen Linken wurde immer wieder die Vernetzung genannt, mit deren Hilfe Freundschaften mühelos aktiviert werden könnten.

Andererseits fehlte es nicht an offen eingeräumter Skepsis hinsichtlich der Mobilisierungsfähigkeit von Aktionsformen wie Sommer- und Grenzcamps, die nur für einen überschaubaren Personenkreis in Frage kommen. Wie müßten Aktionsformen beschaffen sein, die sich breiteren Zuspruchs erfreuen? Daß man die Kritik im Alltag befördern und Gegenöffentlichkeit schaffen müsse, fand allgemeinen Zuspruch. Mit ihren Tausenden Toten an der Südgrenze schaffe die EU doch Projektionsflächen, an denen man viele Menschen mobilisieren könnte. Überall lebten Ausgebeutete, die ihre Klassenkämpfe führten, bei denen man zusammenkommen müsse. Seien frühere Kämpfe nationalstaatlich geführt worden, so wiesen etwa die Auseinandersetzung bei Fiat oder die Streiks der Hafenarbeiter europaweiten Charakter auf.

Wie man zusammenkommen könne, blieb jedoch eine offene Frage, zumal von einer gemeinsamen Identität der Unterdrückten weniger denn je die Rede sein könne. Das Beispiel der Castor-Proteste zeige ja, daß es demgegenüber durchaus möglich sei, durch zahlreiche dezentrale Aktionen befristete Gemeinsamkeit zu schaffen. Andererseits sei die Unverbundenheit der Kämpfe an verschiedenen Fronten ein grundsätzliches Manko, das es zu überwinden gelte. Wen man hierzulande als revolutionäres Subjekt definieren und auf die Straße bringen könne, wurde ebenso in Frageform beraten wie die weiteren Voraussetzungen einer massenhaften Mobilisierung.

Interessant war nicht zuletzt der Ansatz, eine Unberechenbarkeit zurückzugewinnen, wie sie unter anderem den Gipfelprotest anfänglich ausgezeichnet hat. Die Erhebungen im Nahen Osten zeugen von dieser Unvorhersehbarkeit, da sie Gesellschaften entspringen, die unentrinnbar im unlösbaren Griff despotischer Regimes gefangen zu sein scheinen. Das bürokratische Monstrum EU sieht sich zu einem enormen Transformationsmanagement genötigt, um diese Entwicklungen, die ihm zu entgleiten drohen, wieder unter Kontrolle zu bringen.

In der EU, die man als einen Prozeß der Herstellung neuer hybrider Staatlichkeit charakterisieren kann, kommt es zu einer massenhaften Entwertung immer breiterer Schichten der Gesellschaft wie auch der menschlichen Arbeit als solcher. Was früher substantiell existierte, wird heute zerstört, so daß eine wachsende Reservearmee ausgegrenzt bleibt. In diesem Verlauf werden neue Verhältnisse hergestellt, die Verbindungen zu den Kämpfen in Griechenland oder in den französischen Banlieues ebenso nahelegen wie zu jenen gegen Argen, Militarisierung oder für MigrantInnen hierzulande. Dieser Prozeß sei nicht endgültig auf Herrschaft festgelegt, er werde vielmehr von seinen Akteuren und damit auch seinen Gegnern bestimmt, so eine markante Stimme in der Plenumsdiskussion.

Eine Aktivistin bemühte das geläufige Experiment des Frosches im Wasserglas, der eine sukzessive Erhitzung nicht realisiert, bis es zu spät ist. Wann Menschen anfangen, sich zu wehren, wenn sie stranguliert werden, lasse sich nicht beantworten, doch sei es allemal abwegig, weitere Verelendung in der Hoffnung abzuwarten, daß daraus zwangsläufig Widerstandspotentiale entspringen müßten. Wie die Erfahrung lehre, sind Einschüchterung und Vereinzelung längst integrale Bestandteile der Alltagsrealität geworden, fügte eine andere Diskussionsteilnehmerin hinzu. Zusammenhalt sei inzwischen weder proletarische Lebenspraxis, noch zeichne sich die Linke durch einen diesbezüglichen Gegenentwurf aus.

Kann die auch in dieser Debatte vielzitierte Vernetzung dem Dilemma etwas entgegensetzen und unter Zuhilfenahme der Informationstechnologie neue widerständige Strukturen schaffen? Während es nicht an Stimmen fehlte, die eine stärkere Vernetzung zur Voraussetzung erfolgreicher Aktionsformen erklärten, wandten andere ein, daß man dies nur im Rahmen eines bestimmten Projekts und nicht zuletzt in Kenntnis der daran beteiligten Partner für sinnvoll erachte. Generell zeichne sich dieses anlaßbezogene Handeln durch fehlende Kontinuität aus, da die Zusammenarbeit der AktivistInnen oftmals wieder einschlafe, wenn keine weiteren Aktionen stattfänden.

Grundsätzlicher Natur war der Einwand, daß es nicht um Netzwerke, sondern die Herstellung konkreter Beziehungen durch Teilnahme an den Kämpfen gehe. Wolle man ein Europa von unten durchsetzen, dürfe man die radikale Linke nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern sei gehalten, sich für Prozesse von Unterdrückung und Widerstand in anderen Gesellschaftsbereichen zu öffnen. Man lebe in Deutschland im Herz der Bestie, wie die hier geführten Auseinandersetzungen ebenso zeigten wie der Übertrag der europäischen Führungsmacht und des Projekts EU auf schwächere Mitgliedsländer. Die vielbeklagte Vereinzelung über die Grenzen Europas zu tragen, könne jene Gemeinsamkeiten schaffen, die außer in der realen Begegnung, beim Zuhören und im gemeinsamen Kampf de facto nicht mehr existierten.

Nakba-Ausstellung Düsseldorf 26.03.2011 - © 2011 by Schattenblick

Palästinensische Geschichte in Deutschland sprachlos gemacht
© 2011 by Schattenblick

Bruchlinien linker Handlungsfähigkeit überwinden ...

In den zwei Monaten seit dem entsichern-Kongreß hat sich die Welt nicht nur weitergedreht, sondern eine desaströse Beschleunigung aufgenommen, die jedes Warten auf bessere Zeiten rechts überholt. Der revolutionäre Aufbruch in der arabischen Welt wird nach Kräften durch die alten Eliten korrumpiert, die westlichen Hegemonialmächte greifen einmal mehr zu dem bewährten Mittel, antagonistische Erschütterungen der von ihnen verfügten Ordnung auf einer höheren Ebene gewaltsamer Regulation zu kontern, die Staatsschuldenkrise wird in ein Mangelregime gebannt, das die Bevölkerungen noch enger an die Kette der täglichen Reproduktionsnot legt, auf daß ihnen keine Luft zum Aufbegehren bleibt, und die Atomkatastrophe in Japan läßt zu allem Überfluß Konturen einer globalen Reorganisation staatlicher Verfügungsgewalt in Erscheinung treten, die die sozialdarwinistische Überlebenslogik zur ultimativen Matrix künftiger Vergesellschaftung erklärt.

Der Synchronizität sich verschärfender Krisen nicht mit anwachsender Verwirrung und regressiver Passivität zu erliegen fällt den Menschen schon unter normalbürgerlichen Lebensverhältnissen schwer. In einer materiell wie ideologisch randständigen Position nicht nur zu "über"-leben, sondern im urtümlichen Sinne freier und selbstbestimmter Entwicklung zu leben scheint, wenn man die überschaubare Zahl an den Fronten sozialrevolutionärer Kämpfe verbliebener AktivistInnen in den westlichen Metropolengesellschaften bedenkt, von besonders großen Widrigkeiten bestimmt zu sein. Was der ökonomische Mangel und daraus erwachsende Angebote, schon für den Lohn geringer Vergünstigungen zu kapitulieren, nicht bewirken, erledigt die in suprastaatliche Unüberschaubarkeit entufernde Hydra administrativer Sozialkontrolle und Repression um so gründlicher. Während mit bürokratischer Eigendynamik und exekutiver Ermächtigung alle Abweichungen vom verordneten Format humaner Verwertbarkeit kalt reguliert werden, entfachen konsumistische Paradiese und massenmediale Konsensproduktion ein Feuer der affektiven und ideologischen Verheißung, an dem sich nicht nur ausschließlich von der eigenen Überlebensnot getriebene Menschen erwärmen. In diesem Ensemble umfassender Fremdbestimmung gerät auch manchem Linken, der sich in offener Nichtakzeptanz herrschender Verhältnisse auf den Weg gemacht hat, die Konsequenz dieser Position aus dem Blick und aus dem Sinn.

In Frage gestellt ist mehr als linksradikale Handlungsfähigkeit, wenn im RAF-Prozeß gegen Verena Becker die Solidarität mit den von Beugehaft bedrohten Zeugen aufgekündigt wird, weil deren Geschichte nicht die eigene ist und weil die damals vertretenen Positionen als falsch erachtet werden. Wo selbst manch bürgerlich-liberaler Advokat des Rechtsstaats Einspruch gegen die Anwendung von Zwangsmitteln zur Aussageerpressung einlegt, stellen sich einige junge AntifaschistInnen offen gegen die ehemaligen Mitglieder einer nicht mehr vorhandenen Organisation, die die Geschichte der bundesrepublikanischen Linken maßgeblich geprägt hat. Sie ergreifen damit Partei für die Nötigung von Menschen, die sich nicht gegenseitig belasten wollen und damit ein Beispiel von praktischer Solidarität geben, das nichts mit der Frage zu tun hat, wie der oder die einzelne zu dem historischen Kampf dieser militanten Gruppe steht.

Den Widerstand der Palästinenser gegen den israelischen Siedlerkolonialismus als Antisemitismus zu brandmarken ist ein weiteres Beispiel für die Ignoranz einer Linken, die den Zerrspiegel eigener ideologischer Befindlichkeiten über die schlichte Solidarität mit von staatlicher Gewalt seit Jahrzehnten massiv betroffenen Menschen stellt. Dabei muß sich niemand die Grundsätze des politischen Islam zu eigen machen, wenn er das Recht der Palästinenser auf ein von staatlicher Unterdrückung freies Leben verteidigt, gibt es doch genügend säkulare und linke Organisationen in den Palästinensergebieten wie in Israel, die den emanzipatorischen Kern dieses Anliegens trotz aller wie in jeder auch in sich repressiven Gesellschaft vorhandenen Widersprüche hochhält. Selbstverständlich wäre der Kampf der Palästinenser nicht beendet, wenn ihnen ein eigener Staat zugestanden würde oder sie in einem Gemeinwesen aller in Israel und Palästina lebenden Menschen aufgingen. Gegen die eigene Oligarchie anzutreten ist jedoch in einer Situation äußerer Okkupation noch aussichtsloser, als etwa die sozialen Probleme in der israelischen Gesellschaft anzugehen, deren kapitalistischer Charakter meilenweit von den Idealen der Gründergeneration entfernt ist.

Das Eintreten für die Befreiung von Mensch und Tier als ideologische Verirrung zu brandmarken, anstatt das Überleben zu Lasten welcher Kreatur auch immer im Grundsatz zu bestreiten, um von dort aus weiterführende Fragen der Emanzipation von Raub und Gewalt zu stellen, ist ein weiteres Symptom selbstzerstörerischer linker Grabenkämpfe. Wie soll man die Verhältnisse in einem menschlichen Sinne zum Tanzen bringen, wenn dies auf dem Rücken schmerzempfindender Wesen erfolgt? Warum sich der Einschränkung in ihrer Konsequenz weithin offener Entwicklungsmöglichkeiten fügen, indem eine Form der biologischen Reproduktion verteidigt wird, die die materielle Bedingtheit des Menschen mit unlösbaren Fesseln festzurrt? Dabei kann es weder darum gehen, Menschen zugunsten von Tieren zu opfern, Veganismus und Antispeziesismus in den Stand einer puritanischen Zivilreligion zu erheben oder das Problem stoffwechselgebundener Bedürftigkeit zu leugnen. Wer sich jedoch aufmacht, an der essentiellen Frage natürlicher Bedingtheit zu rühren, kann nur zum Ziel feindseliger Häme werden, wenn das Potential gelebter Utopie von vornherein negiert wird.

Die Verwerfungen eines postmodernen Denkens, in dem das Aufspüren identitätspolitischer Differenzen an die Stelle der materialistischen Klassenanalyse tritt, das gesellschaftskritische Kategorien als essentialistische Irrwege verwirft, das kapitalistische Gewaltverhältnisse kulturalistisch überdeterminiert und den Kampf um konkrete Gesellschaftsveränderung in Deutungsebenen und Sprachprozessen verortet, das sich also um die Frage der Machbarkeit und Macht mit evasiven und symbolischen Manövern herumdrückt, haben viel zum Niedergang der radikalen Linken beigetragen. Was immer die poststrukturalistische Theoriebildung über die Transformation sytemkritischer Sozialwissenschaften zu systemkonformen Kulturwissenschaften hinaus zu leisten in der Lage ist, wird anhand realer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vor allem negativ beantwortet.

Das Unmögliche zu wagen heißt nicht, es verwirklichen zu müssen. Der Mut, es dennoch zu tun, ist jedoch Voraussetzung aller Handlungsfähigkeit, die dem Grundsatz der Nichtakzeptanz von Unterdrückung und Ausbeutung verpflichtet ist. Wer mit Karl Marx vorhat, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", tut gut daran, sich im ersten Schritt über die eigenen Anteile an dem Gewaltverhältnis klar zu werden, gegen das anzutreten ist. Dazu ist jeder Mensch in der Lage, weil er auf unmittelbare Weise mit den Verhältnissen verknüpft ist, deren Gültigkeit er bestreitet. Dies nicht alleine zu tun, sondern sich dabei zu verstärken ist der Gedanke, der alle Solidarität beflügelt.

Anmerkungen:

Beispielhafte Entwicklung einer Position zum Libyenkrieg siehe:
"Der Krieg den alle lieben"
http://media.de.indymedia.org/media/2011/03//303837.pdf

Zum entsichern-Kongreß erschienen:
BERICHT/055: Eurokrake Sicherheit - entsichern ... (SB)
BERICHT/056: Eurokrake Sicherheit - Risse in der Festung Europa(SB)
BERICHT/057: Eurokrake Sicherheit - Administrative Logik eines Gewaltapparats (SB)
BERICHT/058: Eurokrake Sicherheit - Netzwerke der Repression (SB)
BERICHT/059: Eurokrake Sicherheit - Vom Himmel hoch ... (SB)
BERICHT/060: Eurokrake Sicherheit - Präventionspolizei probt den Zugriff (SB)
BERICHT/061: Eurokrake Sicherheit - Exekutive Vernetzung, atomisierte Bevölkerungen (SB)
BERICHT/062: Eurokrake Sicherheit - Widerspruchsregulation im Staatsprojekt Europa (SB)
BERICHT/063: Eurokrake Sicherheit - Ökonomische Verfügungsgewalt im Staatsprojekt EU (SB)
BERICHT/064: Eurokrake Sicherheit - Ein neuer Internationalismus des sozialen Widerstands (SB)
BERICHT/065: Eurokrake Sicherheit - Barrikadenfragen aus sozialwissenschaftlicher Sicht (SB)
BERICHT/066: Eurokrake Sicherheit - Polizeilich-juristische Repression gegen Gipfelproteste (SB)
INTERVIEW/070: Eurokrake Sicherheit - Matthias Monroy zur Spitzelproblematik (SB)
INTERVIEW/071: Eurokrake Sicherheit - Detlef Hartmann - Horizonte linker Radikalität (SB)

Transparent 'Get Out Of Control' - © 2011 by Schattenblick

Im Wortsinn zu verstehen ...
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1. April 2011