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BERICHT/081: Petersberg II - Türkische Außenpolitik zwischen Bauernschläue und Größenwahn (SB)


Workshop auf der Afghanistankonferenz am 4. Dezember 2011 in Bonn

Gesprächsrunde mit Ulf Petersen und Reimar Heider - Foto: © 2011 by Schattenblick

Gesprächsrunde mit Ulf Petersen und Reimar Heider
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Türkei hat sich in jüngerer Zeit von der subalternen Handlangerfunktion eines Randstaats westeuropäischer und transatlantischer Hegemonialinteressen emanzipiert und paart ihren Anspruch auf eine bedeutende Rolle in der NATO mit einer bemerkenswerten Eigenständigkeit in ihrer außenpolitischen Ausrichtung. Sie entwickelt sich zu einer Regionalmacht, die ihren Einfluß auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien und dem Nahen Osten geltend macht und ausbaut. Angesichts der Umbrüche in den arabischen Ländern positioniert sich Ankara als unverzichtbare Stütze des Westens und Schlüssel zur muslimischen Welt. Zugleich sieht sich die Türkei in zunehmendem Maße als Schutzmacht der von um sich greifender Islamfeindlichkeit des Westens bedrohten Minderheiten oder Staaten wie auch der turkmenischen "Brudervölker" im Osten bis hin zu derartigen Bevölkerungsteilen in den afghanischen Provinzen Faryab und Baglan, in denen rund 600.000 Turkmenen leben.

Seit Beginn ihrer Regierungszeit im Jahr 2002 verfolgt die AKP unter Premier Recep Tayyip Erdogan eine ausgesprochene Großmachtpolitik, die US-amerikanischen, westeuropäischen und israelischen Bestrebungen mitunter heftig in die Parade fährt, wenn die Türkei etwa die Palästinenser unterstützt oder Beziehungen zum Iran aufrechterhält. Andererseits fürchten Kritiker das als "neo-osmanisch" beschriebene Muskelspiel als akute Bedrohung, die sich insbesondere gegen die Kurden im eigenen Land richtet, deren Freiheitsbewegung sich verschärfter Verfolgung ausgesetzt sieht. So sehr daher die partielle Unabhängigkeit türkischer Ambitionen als Kontrapunkt zur restlosen Vereinnahmung für die strategische Offensive der westlichen Mächte hervorzuheben ist, so unterläge man doch einem fatalen Irrtum, die Maxime türkischer Staatsräson mit einer grundsätzlichen Parteinahme für Minderheiten zu verwechseln.

Seit Frühjahr 2009 kam es zu einer Verhaftungswelle gegen die kurdische Zivilgesellschaft, die dazu führte, daß sich heute mehr als 4.000 kurdische Oppositionelle in Haft befinden. Bei ihnen handelt es sich keineswegs um Akteure des bewaffneten Widerstands, sondern legal agierende PolitikerInnen und MenschenrechtlerInnen, denen im Rahmen der sogenannten KCK-Verfahren auf juristisch unhaltbarer Grundlage Unterstützung einer terroristischen Vereinigung oder Propaganda für dieselbe vorgeworfen wird.

Im Laufe dieser Woche kam es im Zuge landesweiter Razzien gegen prokurdische und linke Zeitungen und Nachrichtenagenturen zu zahlreichen Festnahmen. [1] Sondereinsatzkräfte der Polizei verhafteten in mehreren Städten 45 JournalistInnnen und beschlagnahmten Festplatten, Nachrichtenmaterialien und Archive. Dem Menschenrechtsverein IHD zufolge befinden sich in der Türkei derzeit mindestens 71 JournalistInnen in Haft. Während sich die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Dunja Mijatovic, besorgt über die Bedrohung der Pressefreiheit zeigte, erklärte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie, BDP, Hasip Kaplan, was dieser Tage in der Türkei geschehe, sei nicht weit von einem zivilen Putsch entfernt.

Die türkische Regierung trete die Pressefreiheit mit Füßen, erklärte die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke. In keinem Land der Erde säßen so viele Journalisten und Schriftsteller hinter Gittern, wie in der Türkei. Das Antiterrorgesetz diene ganz offensichtlich dazu, jede Kritik an der neoliberalen AKP-Regierung und ihrem Umgang mit der kurdischen Bevölkerung mundtot zu machen. Die europäische Öffentlichkeit, Presse und Politik müßten endlich aufwachen. Die Türkei sei keineswegs ein Vorbild für einen demokratischen Mittleren Osten. Vielmehr würden dort oppositionelle Politiker, Journalisten, Anwälte und Menschenrechtsaktivisten zu Tausenden eingesperrt. Unter Erdogan herrschten Zustände wie zu Zeiten der Militärdiktatur, so die Abgeordnete der Linkspartei. [2]


Positionierung als Großmacht im regionalen Umfeld


Zu den 15 Workshops, die im Rahmen des Protests gegen "Petersberg II" am 4. Dezember im LVR LandesMuseumBonn während einer Internationalen Konferenz für ein selbstbestimmtes Afghanistan stattfanden, gehörte auch eine Arbeitsgruppe zum Thema "Türkische Außenpolitik zwischen Bauernschläue und Größenwahn". Geleitet von Ulf Petersen (Kampagne Tatort Kurdistan) und Reimar Heider (Internationale Initiative Freiheit für Öcalan - Frieden in Kurdistan) widmete sich die Gesprächsrunde neben einer Auseinandersetzung mit grundlegenden Aspekten türkischer Positionierung im regionalen Umfeld insbesondere der auch aus deutscher Sicht brisanten Frage, wie weit die Dämonisierung des kurdischen Widerstands vorangeschritten ist.

Wie Ulf Petersen einleitend ausführte, lasten die während der Herrschaft des osmanischen Reichs begangenen Verbrechen nach wie vor auf der türkischen Gesellschaft und Öffentlichkeit, die dieses historische Erbe massiv verdrängt oder rundweg leugnet. Angesichts dieser Untaten sehen sich die Minderheiten in der Türkei selbst wie auch Angehörige betroffener Volksgruppen in den Nachbarländern als Zeugen dieser Vergangenheit. Zugleich projiziert die türkische Staatsführung und Bevölkerung ein Bedrohungspotential auf diese Minderheiten. Herausragendes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915. Die im Titel des Workshops genannte Bauernschläue mag eine Aussage Recep Tayyip Erdogans illustrieren, der vor drei Jahren beklagte, wie unfair es sei, die Türkei eines Völkermords zu bezichtigen, der nie stattgefunden habe. In einem Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Aghet - Ein Völkermord" (2010), einer deutschen Fernsehproduktion, wird der Regierungschef mit folgenden Worten zitiert: "Da ist die Rede von abgeschlachteten Christen, von abgeschlachteten Armeniern. Auf welcher Grundlage wird so etwas behauptet? Es ist absolut inakzeptabel, die Türkei zu beschuldigen, 1915 sei ein solches Massaker geschehen. Und wenn es noch so häufig behauptet wird, wir werden das niemals akzeptieren. Kommen Sie und legen Sie Ihre Beweise vor, dann werden wir auch Rechenschaft über unsere Vergangenheit ablegen. Und das sage ich ganz offen und klar."

Den Niedergang und Zerfall des osmanischen Imperiums erläuterten die Referenten anhand eingeblendeten Kartenmaterials. Im Ersten Weltkrieg schloß die Türkei ein Bündnis mit dem Deutschen Reich, und während sich die türkischen Eliten im Kampf gegen den fortschreitenden Verlust einstiger Macht und Größe stemmten, kam es zu Verlusten an allen Fronten, so auch im Kaukasus, wo Massaker verübt wurden. Diese historische Entwicklung liefert Hinweise für die Analyse der aktuellen türkischen Außenpolitik, die nicht ohne die Leichen im Keller der Nation zu entschlüsseln ist. Einem Beitrag des Kultursenders Arte waren Landkarten entnommen, anhand derer die Stellung der Türkei in der Region veranschaulicht wird:

Die erste Karte lokalisierte die Türkei jenseits der Balkanhalbinsel am östlichen Ende des Mittelmeers, also in einer Randlage im Verhältnis zu den Entscheidungszentren der EU und zum transatlantischen Verkehr. Das ist jedoch eine einseitige Sichtweise. Die zentrale Lage des Landes wird in einem anderen Kartenausschnitt deutlich: In der Türkei treffen mehrere Welten aufeinander: Die russische Welt am Schwarzen Meer und am Kaukasus, die türkischsprachigen Staaten Zentralasiens, der Nahe Osten - im Süden grenzt die Türkei an Syrien, den Irak und den Iran - sowie die Ägäis und das Mittelmeer und natürlich grenzt die Türkei an Griechenland und damit die Europäische Union. Diese Perspektive sollte man wählen, wenn man die verschiedenen Aspekte der türkischen Außenpolitik untersuchen möchte.

Die zweite Karte war eine des Landes selbst. Die Türkei ist mit 800.000 km2 mehr als doppelt so groß wie Deutschland. Das Land hatte 2010 rund 73 Millionen Einwohner und die Geburtenhäufigkeit betrug 2,04. 80 Prozent der Einwohner sind Türken, 20 Prozent Kurden, so daß in der Türkei also 15 Millionen Kurden leben. Kurden leben indessen auch in mehreren anderen Staaten der Region, vor allem in Syrien, im Irak und im Iran. Ihre Forderung nach einem eigenen Staat seit den Verhandlungen von 1920 hatten bisher keinen Erfolg.

Die türkische Außenpolitik nach 1945 war während des Kalten Kriegs wie auch nach dem Zerfall der Sowjetunion davon bestimmt, daß das Land ein wichtiger Faktor westlicher Politik blieb. Als NATO-Mitglied seit 1952 beherbergte die Türkei bereits Ende der 1950er Jahre US-amerikanische Luftwaffenstützpunkte, die das Land gewissermaßen zu einem Flugzeugträger der USA in der Region machen. Wichtigste Basis ist die Incirlik Air Base in der Provinz Adana, von wo aus der Irakkrieg begonnen wurde und unter anderem der Wassernachschub für die Truppen in Afghanistan ausgeflogen wird. Der Stützpunkt verfügt über eine drei Kilometer lange Landebahn für Fernbomber und Großtransporter, hat eine Besatzung von über 1000 Mann und ist logistisch nach wie vor von großer Bedeutung.

Nach 1989 legte die Türkei insbesondere Wert darauf, ihre Stellung als wichtiger Söldner des Westens zu behaupten und ihre Dienste im Kontext einer veränderten Weltlage anzubieten. General Cevik Bir forderte die NATO 1999 auf, sich auf den Balkan, den Nahen Osten und den Kaukasus zu konzentrieren. Die Türkei werde ihre Aufgabe, für Stabilität in der Region zu sorgen, in vollem Umfang erfüllen, wofür er sich die rückhaltlose Unterstützung der Verbündeten wünsche. Die Türkei ist nach dieser Auffassung nicht länger ein Flankenstaat, sondern ein Frontstaat an der östlichen Peripherie Europas und bedingt sich dafür eine besondere Stellung in der NATO aus. Nach dem dritten Wahlsieg der regierenden AKP erklärte Erdogan in eine Rede, neben Ankara habe auch Sarajewo, Damaskus, der Gazastreifen und das Westjordanland gewonnen. Europa, der Balkan und der Nahe Osten verzeichneten einen Zuwachs an Frieden und Stabilität. Von Kritikern als "neo-osmanische Ambitionen" ausgewiesen, beanspruchte die türkische Regierung Führerschaft bei der Neuordnung des Balkans wie der gesamten Region. Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann die finanzstarke und ideologisch versierte Fethulla-Gülen-Bewegung, die wie ein islamischer Orden strukturiert ist, Schulen und Wirtschaftsunternehmen zu gründen. Sie spielte eine bedeutende Rolle bei der Neudefinition türkischer Einflußnahme in ehemaligen Sowjetrepubliken wie im Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan oder im Georgienkonflikt.


Bürgerkrieg gegen die kurdische Minderheit

Reimar Heider kam auf die inneren Konflikte der Türkei zu sprechen, die seit den 1980er Jahren zu einem Bürgerkrieg gegen die kurdischen Rebellen eskalierten. Im Staatshaushalt wurden Rüstungsausgaben in Milliardenhöhe beschlossen, wobei insbesondere deutsche Waffenschmieden für den Nachschub der Streitkräfte sorgten. Ökonomisch war die Lage ausgesprochen schlecht, da die Inflationsrate bis zu 70 Prozent betrug und die Türkei abhängig von Krediten des IWF war. Im internationalen Kontext war das Land zu diesem Zeitpunkt ein Leichtgewicht. Die türkische Regierung versuchte zusammen mit der NATO, die in der kurdischen Bevölkerung verankerte Rebellenbewegung zu unterdrücken. Um das Jahr 2000 erlebte die Wirtschaft einen Zusammenbruch vergleichbar dem in Argentinien und Rußland.

Danach kam es zu einem Wechsel in der Regierung, der das Wiedererstarken türkischer Einflußnahme einleitete. Die islamische neoliberale AKP kam an die Macht und entwickelte eine neue Positionierung der Türkei in der Außenpolitik. Zu diesem Zeitpunkt herrschte seit 1999 Waffenstillstand mit dem kurdischen Widerstand. Nach der Gefangennahme Öcalans zog sich die PKK in den Nordirak zurück und strebte eine politische Lösung des Konflikts an. Diese schien nicht ausgeschlossen, bis mit dem 11. September 2001 veränderte Voraussetzungen eintraten. Nun machten sich in Politik und Militär Kräfte stark, die sich dafür aussprachen, das kurdische Aufbegehren endgültig mit eiserner Faust zu zerschmettern. Wie sie erklärten, führten sie den "Antiterrorkrieg" bereits seit Jahrzehnten, wofür sie uneingeschränkte Unterstützung einforderten. Mit demselben Argument beteiligten sich die türkischen Streitkräfte an diversen Operationen der NATO wie insbesondere in Somalia und später in Afghanistan. So steht die türkische Außenpolitik der Gegenwart in unmittelbarem Zusammenhang mit dem inneren Konflikt, der natürlich nicht die ausschließliche, aber eine oftmals unterschätzte oder gezielt ausgeblendet Rolle darin spielt.

Inzwischen hat sich die ökonomische Situation der Türkei erheblich verbessert. Indessen steht Wachstumsraten von sechs bis sieben Prozent im Jahr eine wesentlich höhere Staatsverschuldung als in den Krisenzeiten der 1990er Jahre gegenüber. Dessen ungeachtet geht die türkische Führung von einer Position eigener Stärke aus und sieht sich auf dem Balkan ebenso wie in Zentralasien (Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan und Kasachstan) als Schutzmacht von "Brudervölkern". Als das einzige überwiegend muslimische Land in der NATO fühlt sich die Türkei auch als Vorbild für die arabischen Länder, indem sie auf ihre derzeit florierende Wirtschaft und ihr stabiles Gesellschaftssystem verweist. Während des arabischen Frühlings wurde die Türkei auch in Politik und Medien des Westens als Modell hochgehalten.

Außenminister Ahmet Davutoglu, der zuvor ein Berater Erdogans war, ist nach wie vor mehr Akademiker als Diplomat, jedoch ein strategisch denkender Politiker, der sehr erfolgreich mehrere Doktrinen entwickelt hat. Zu den bekanntesten zählt "Null Probleme mit den Nachbarn", was erstaunlich ist, da die Türkei so gut wie mit allen Anrainerstaaten Streitigkeiten auszutragen pflegt, wie etwa den Konflikt mit Griechenland wegen Zypern, den Wasserstreit mit Syrien oder den Kurdenkonflikt an der Grenze zum Irak. Mit dem Iran unterhält die Türkei enge Wirtschaftsbeziehungen, doch streitet man sich zugleich um Pipelineprojekte wie Nabucco, an dem mehrere westliche Staaten beteiligt sind. Damit sollen Öl und insbesondere Gas aus dem Irak und Aserbeidschan bis in die Schweiz geleitet werden, doch ist Nabucco nur mit iranischem Gas wirtschaftlich tragfähig, da Aserbeidschan und der Irak nicht genügend produzieren. Aufgrund dieser engen wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran hat sich die Türkei nicht dem Boykott angeschlossen, den die USA gegen Teheran verhängt haben. Wenngleich die Türkei ein Mitglied der NATO ist, wird sie gar nicht erst gefragt, wenn es um Boykott geht, da man weiß, daß sich Ankara nicht beteiligen wird. Die lange Grenze zu Armenien ist seit mindestens 20 Jahren vollständig geschlossen, es gibt keinen einzigen Grenzübergang. Mit Georgien gibt es keine besonderen Probleme, wohl aber mit Rußland, da die politische Rechte in der Türkei die Rebellen in Tschetschenien unterstützt. An mehr oder minder gravierenden Problemen mit nahezu allen Nachbarn herrscht als kein Mangel, weshalb Dovatuglus Doktrin um so mehr überraschte, zumal diese zwei Jahre lang recht gut funktionierte. Es kam zu einer Annäherung mit Armenien, einem Freundschaftspakt mit Syrien und sogar Abkommen mit den Kurden im Irak.

Unterdessen drängt die türkische Regierung mit Macht darauf, Oppositionelle auch im Ausland unter Druck zu setzen. Es kam zu Verhaftungen von Mitgliedern kurdischer Organisationen in Deutschland und anderen Ländern, zu Prozessen und Auslieferungen an die Türkei. Wenngleich die Verfahren in vielen Fällen eingestellt werden, da es sich offensichtlich um politische Flüchtlinge handelt, wächst nicht zuletzt im Interesse der jeweiligen Regierungen die Repression. Es gab sogar ein Abkommen mit Neuseeland, das die PKK auf eine Liste sogenannter Terrororganisationen gesetzt hat. Gegen kurdische Aktivitäten weltweit vorzugehen, steht weit oben auf der außenpolitischen Agenda der Türkei. Ihr Engagement in Afghanistan ist unter zwei Aspekten zu sehen: Zum einen ist sie bestrebt, Verantwortung zu übernehmen und sich auf diese Weise als regionale Großmacht zu positionieren. Dies begrüßen USA, NATO und EU als willkommene Möglichkeit der Einflußnahme in ihrem Sinne. Zum andern verspricht sich Ankara wie immer Unterstützung im heimischen "Antiterrorkrieg".


Vertiefendes Gespräch in interessierter Runde

In der anschließenden Diskussion kamen zunächst die Beziehungen zu Israel zur Sprache, die einem tiefgreifenden Wandel unterlagen. Die Türkei setzt sich auf diesem außenpolitischen Feld demonstrativ in Widerspruch zu der bedingungslosen Unterstützung israelischer Regierungspolitik durch die USA und die führenden westeuropäischen Länder wie insbesondere Deutschland und beansprucht darüber hinaus im Kontext des arabischen Frühlings eine Führungsrolle in Zusammenarbeit mit den neuen Regierungen und insbesondere eine Vorbildfunktion für die Bevölkerung in den betreffenden Ländern. Auf dem Balkan retteten die türkischen Streitkräfte durch ihr Eingreifen die muslimische Minderheit im Kosovo, während die deutschen Truppen der UCK freie Hand ließen, zu tun, was immer ihr beliebte. Heute versucht die Türkei, ihre Beziehungen zu Belgrad und Sarajewo zu verbessern, und bietet ihre Vermittlung an. Wenngleich die türkische Regierung Führerschaft für alle Muslime in dieser Region beansprucht, geht sie dabei doch zumeist feinfühliger als der grobschlächtig agierende Westen vor.

Reimar Heider gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß die Türkei zweifellos über historische Verbindungen und Erfahrungen in dieser Weltregion verfüge, die sich freilich nicht immer positiv auswirkten. Viele Menschen sähen sie im Licht zurückliegender geschichtlicher Epochen nach wie vor als wiederkehrende Besatzungsmacht, der sie wenig Sympathien entgegenbringen. Das änderte sich erst in jüngerer Zeit, wobei sich insbesondere der veränderte Umgang mit Israel als sehr funktional erwies. Zunächst beherrschten Diskussionen das Feld, wie aufrichtig diese Initiative Ankaras sei. So wurde zwar die militärische Zusammenarbeit auf Eis gelegt, während die Wirtschaftsbeziehungen unvermindert weiterbestanden, weshalb man argwöhnte, es handle sich um einen Deal mit Israel. Daß Erdogan mehrfach für palästinensische Anliegen und Forderungen Partei ergriff, hatte jedenfalls weitreichende Wirkung in der arabischen Welt, da ihm viele Menschen größere Sympathie entgegenbringen als ihrer eigenen Regierung, was allerdings auch nicht verwunderlich ist. Auch mit Blick auf die Zypernfrage geht Ankara heute in die Offensive, was den Einfluß der Manöverlage unterstreicht, die die Türkei inzwischen erwirtschaftet hat. Für Erdogan war Zypern zunächst längst nicht so bedeutsam wie für frühere türkische Regierungen. Das hat sich in jüngster Zeit grundsätzlich geändert, da Ankara nun enormen Druck auf die EU ausübt, den türkischen Staat Nordzypern anzuerkennen.

Dem fügten Diskussionsteilnehmer hinzu, daß Zypern im nächsten Jahr den EU-Vorsitz übernimmt, was einen zusätzlichen Anreiz schafft, sich in diesem Konflikt demonstrativ zu positionieren. Man müsse aber auch das Interesse der Türkei erwähnen, sich im Streit um die Öl- und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer mit Israel eine günstigere Ausgangsposition zu verschaffen. Der wichtigste Gesichtspunkt sei jedoch die Situation in Syrien, wo sich eine Intervention abzuzeichnen scheint. Die Türkei nimmt dabei eine entscheidende Rolle wahr, da sie einerseits als NATO-Mitglied so handeln muß, und andererseits eigene außenpolitischen Interessen in der Region verfolgt. Nicht zu vernachlässigen sei auch ein religiöser Impuls, da Saudi-Arabien die Islamisten in Ägypten unterstützt und offenbar auch massiv in der Türkei investiert. Drohe nicht die Gefahr eines verheerenden Kriegs zwischen Sunniten und Schiiten in dieser Weltregion, zumal neben Syrien auch der Iran und kampfbereite schiitische Kräfte im Irak involviert seien?

Heider führte dazu weiter aus, daß die Türkei die Führerschaft über alle sunnitischen Moslems beanspruche. Sie habe beispielsweise dafür gesorgt, daß die Hamas im Gazastreifen, die traditionell mit Syrien verbunden war, ihre Führung nun in die Türkei verlagern kann. Während Saudi-Arabien die Salafisten in Ägypten unterstützt und in zunehmendem Maße eine ausgesprochen konservative Variante des Islam favorisiert, erfreuen sich die Muslimbruderschaft und die Hamas in den türkischen Medien enormer Popularität. Die Türkei wolle im Hinblick auf Syrien zweifellos verhindern, daß die Kurden wie im Irak einen mehr oder minder weitreichenden Autonomiestatus erhalten. Zudem ist Syrien ein Hindernis auf dem Weg der Türkei zur regionalen Großmacht, da Damaskus Verbindungen zum Iran unterhält.

Noch deutlicher als hinsichtlich Syriens zeichne sich die Rolle der Türkei im Fall des Irans ab, da sämtliche diplomatische Noten des Westens über Ankara liefen. Man übertrug der Türkei offiziell die Aufgabe, zwischen den USA und dem Iran zu vermitteln. Eine ähnliche Rolle wollte die Türkei zwischen Syrien und Israel in den Verhandlungen über die Golan-Höhen und andere Fragen übernehmen, weshalb man in Ankara sehr enttäuscht war, als dies nicht zum Tragen kam. Wenngleich die Türkei also im Interesse und Auftrag Washingtons agiert, gibt sie ihrer Aufgabe doch des öfteren eine eigene Wendung, die den westlichen Bündnispartnern keineswegs gefällt. Ein Beispiel wäre die Zusammenarbeit mit Brasilien beim Versuch, einen Durchbruch in der Kontroverse um das iranische Atomprogramm zu erzielen.

Abschließend kam der Strafantrag deutscher Anwälte gegen Erdogan unter dem Vorwurf verübter Kriegsverbrechen zur Sprache, der in den türkischen Medien so gut wie keine Erwähnung fand. Inmitten des Bestrebens, sich als regionale Großmacht und Vorbild der Völker zu positionieren, begangener Kriegsverbrechen bezichtigt zu werden, paßte der türkischen Presselandschaft so wenig ins Bild, daß es weitgehend ausgeblendet wurde. Man hätte sich an dieser Stelle gewünscht, die Haltung der deutschen Regierung und Öffentlichkeit in der Kurdenfrage ausgiebiger unter die kritische Lupe zu nehmen, wie dies die Referenten auch vorgesehen hatten. An der Bereitschaft, diese Diskussion zu vertiefen, fehlte es in der Gesprächsrunde augenscheinlich nicht, doch setzte die Dichte des Konferenzprogramms dem Fortgang der Debatte an dieser Stelle zeitliche Grenzen. So bleibt es der Berichterstattung vorbehalten, die Arbeit des Workshops einem breiteren Leserkreis zugänglich zu machen und damit zum Fortgang einer notwendigen Diskussion beizutragen, die Früchte entschiedenen Eintretens für die schwächere Seite in diesem Konflikt trägt.


Fußnoten:
[1] http://www.jungewelt.de/2011/12-23/036.php
[2] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=17319

Logo der Kampagne Tatort Kurdistan - Grafik: © 2011 by Kampagne Tatort Kurdistan

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23. Dezember 2011