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BERICHT/097: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Feindbild politischer Islam dekonstruiert (SB)


Mit dem Werkzeug der Aufklärung Deutungshoheit perforieren


Nachdem der Kalte Krieg mit dem proklamierten Sieg der kapitalistischen Gesellschaftsordnung im Kampf der Systeme geendet hatte, entwarfen die westlichen Mächte ein neues Feindbild. Forcierte Ausbeutung und Verelendung im Innern wie auch die waffengestützte imperialistische Offensive im Nahen und Mittleren Osten mit Stoßrichtung Zentralasien erforderten eine innovative Doktrin. Das Konstrukt "terroristischer" Bedrohung durch "Islamisten" diente fortan der Rechtfertigung unausgesetzter Angriffskriege und repressiver Gouvernementalität. Was in US-amerikanischen Denkfabriken kreiert und mit dem Konzept des "Kampfs der Kulturen" ideologisch festgezimmert wurde, hielt Schritt für Schritt Einzug in das Alltagsverständnis der westlichen Gesellschaften. Islamfeindlichkeit als Speerspitze sozialrassistischer Bezichtigung gegen die ihrer Lebensgrundlage beraubten und ausgegrenzten Opfer profitgenerierenden Verwertungsdrucks bricht jegliches Aufbegehren gegen die unerträglichen Verhältnisse zugunsten einer Diskreditierung der Muslime als rückständig, demokratiefeindlich und Hort subversiven Hasses auf die Errungenschaften westlicher Zivilisation.

Sadik Hassan Itaimish - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sadik Hassan Itaimish
Foto: © 2012 by Schattenblick
Auf dem Kongreß "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" setzte der Islamwissenschaftler Prof. Dr. Sadik Hassan Itaimish dieser aus fabrizierten Unterstellungen und gezielten Mißverständnissen genährten Definitionshoheit einen Vortrag zum Thema politischer Islam entgegen, der fehlurteilsbefrachteten Denkweisen mit dem Werkzeug der Aufklärung zu Leibe rückte. Sadik Hassan Itaimish studierte in Bagdad und Freiburg und war Assistenzprofessor an der Universität Mossul/Ninive im Irak. Er flüchtete 1982 nach Deutschland und studierte Islamwissenschaft. Seit Anfang der 90er Jahre ist er Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Freiburg für das Fach Islamwissenschaft und mithin ein anerkannter Experte, wenn es gilt, sich kritisch mit innerislamischen Strömungen auseinanderzusetzen und damit zugleich westlichen Kulturkriegern das argumentative Wasser abzugraben.

Einleitend ging der Referent auf die aktuellen Protestbewegungen im arabischen Raum ein, die er als arabischen Frühling für die Menschen und arabischen Herbst für die Machthaber bezeichnete. Zweifellos habe diese Erhebung gegen die alten Regime vielfältige Veränderungen in Gang gesetzt, von denen seines Erachtens zwei besonders hervorzuheben und zu analysieren seien. Zum einen hätten die Menschen im arabischen Raum die Angst verloren, welche nicht länger in den Lehmhütten der Armen, sondern nun in den Palästen der Oligarchen herrsche und dort solange bleiben werde, bis alle Despoten und Profiteure verschwunden seien. Zum andern sei der Aufstieg der religiösen Parteien und Organisationen bemerkenswert, die sich islamisch nennen. In Deutschland sei auch von "islamistisch" die Rede, wobei niemand nachvollziehbar erklären könne, worin der Unterschied zwischen den beiden Bezeichnungen bestehen soll. Um eine Klärung dieses Phänomens herbeizuführen, solle man daher vom politischen Islam sprechen.

Es handle sich dabei um Gruppierungen, die den Namen Islam tragen, jedoch politische Ziele verfolgen und damit die Religion für ihre Zwecke instrumentalisieren. Man könne in diesem Zusammenhang zwischen zwei verschiedenen Ansätzen unterscheiden: Bei den religiösen Gruppen, die von Anfang der islamischen Geschichte an auftraten wie die 657 u. Z. gegründeten Charidschiten, handelte es sich um philosophische Strömungen, die zwar politische Ziele formulierten, aber nicht selber an die Macht kommen, sondern Reformen anregen wollten. In der jüngeren Vergangenheit entstandene und heute in Erscheinung tretende Organisationen versuchten demgegenüber, ihre politischen Ziele nicht selten gewaltsam durchzusetzen und sich selbst der Staatsgewalt zu bemächtigen.

Da diese Gruppierungen mit ihren inhaltlichen Vorstellungen relativ wenige Menschen überzeugen könnten, sprächen sie vorzugsweise die Emotionen an. Sie führten den Islam im Munde, wofür die Bevölkerungen in dieser Region empfänglich seien. Obwohl diese Organisationen im Grunde naive Ideen vorhielten, verstünden sie es doch, die herrschenden Verhältnisse klug auszunutzen, was kein Widerspruch sei. Sie nutzten die Elendsfolgen der Regimes, die Unterdrückung, die Verfolgung, die soziale Situation, unter der die Menschen leiden, und präsentierten sich als Retter aus jahrhundertealten Zwängen. Die Machthaber hätten sich liberaler, demokratischer, ja sogar sozialistischer Theorien bedient, doch keines dieser Regimes habe die soziale Lage der Menschen verbessert. Armut, Arbeitslosigkeit und Repression beherrschten das Feld. Die meisten dieser Despoten blieben 20, 30 oder gar 40 Jahre an der Macht, weil sie unter Einbindung der religiösen Institutionen herrschten, die ansprechbar für eine Teilhabe an der Macht waren. Dieses Phänomen habe man beispielsweise während der Regierungszeit Anwar as-Sadats in Ägypten erlebt, der mit den Muslimbrüdern zusammengearbeitet hat.

In einem historischen Rückblick führte Sadik Hassan Itaimish aus, daß es im Osmanischen Reich Bewegungen gegeben habe, die mit dem Islam argumentierten, aber als Hauptziel den nationalistischen Kampf gegen die Türkisierungspolitik führten. Das Osmanische Reich unterdrückte die Menschen auch im Namen der Religion, so daß man durchaus von einer Form des politischen Islams sprechen kann. In der Zeit vom 9. bis 12. Jahrhundert entstanden zumeist philosophische Bewegungen im Namen der Religion, die die Grundlage der weltweiten Wissenschaft schufen. Schon im 11. Jahrhundert postulierte Ibn Arabi die Einheit des Universums und sprach von der Einheit der Elemente und aller Geschöpfe in den Kategorien Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Brüder der Reinheit beschäftigten sich mit der Mathematik und der Chemie, was sie islamische Philosophie nannten. Leider mußte diese philosophische Bewegung in den Hintergrund treten und bis heute schlafen, so der Referent.

Sadik Hassan Itaimish am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Monotheistischer Islam differenziert entfaltet
Foto: © 2012 by Schattenblick
Erst vor zehn bis fünfzehn Jahren habe es Ansätze gegeben, diese Philosophie wieder ins Leben zu rufen, um aller Welt zu zeigen, daß es dabei nicht darum ging, an die Macht zu kommen, sondern die islamische Lehre zu klären. In verschiedenen Epochen habe es zwangsläufig verschiedene Interpretationen der Lehre gegeben: Was versteht man unter Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Humanität - und gelten diese Prinzipien nur für Muslime oder für die ganze Welt? Nach Auffassung der Philosophen besaßen sie Gültigkeit für die gesamte Menschheit, während Theologen diese Begriffe auf Muslime begrenzten. Man findet in der Geschichte berühmte Dispute zwischen Averroës und a-Ghazali, die sich im Namen der Philosophie und Theologie mit derartigen Grundfragen beschäftigt haben und ihre Analyse und Interpretation hinsichtlich des Islams vortrugen. Sie sprachen von einer einheitlichen Religion, dem Islam, den es aus heutiger Sicht nicht gibt.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs wurden die ägyptischen Muslimbrüder im Jahr 1928 in Reaktion auf die Auflösung des Kalifatentums gegründet. Kemal Atatürk hatte 1924 die alte Ordnung aufgelöst, worauf vor allem die arabischen Muslime im Kalifatentum eine Fortsetzung der politisch-religiösen Herrschaft des Propheten sahen, die sie wieder ins Leben rufen wollten. Zu diesem Zweck gründete Hasan al-Banna die Muslimbruderschaft, die die Mutterorganisation aller später entstandenen islamischen Organisationen war, die politische Ziele verfolgten. Anfang der 1940er Jahre faßte in Pakistan als zweitgrößte dieser Organisationen die Islamische Gemeinschaft Fuß, worauf sich diese Strömungen in der gesamten islamischen Welt weiterverbreiteten.

Obgleich sie keine soziale, politische, kulturelle oder wirtschaftliche Alternative zur Verbesserung der Gesellschaft vorzuweisen hatten, verbreiteten diese Gruppierungen ihre beiden naiven und unzutreffende Kernparolen, nämlich daß der Islam die Lösung sei und keine Trennung zwischen Staat und Religion kenne. Fragt man diese Gruppen, was sie mit "dem Islam" meinten, antworteten sie, daß der Islam überall derselbe sei. Alle Muslime der Welt seien Monotheisten und hielten bestimmte Gebote ein. Indessen existieren fünf übergeordnete Rechtsschulen im Islam, die jeweils ihre eigenen Überzeugungen vertreten und Entscheidungen treffen, vier für die Sunniten, eine für die Schiiten. Auch innerhalb der sunnitischen Schulen gibt es verschiedene Zweige, was ebenso für die schiitische Schule gilt. Heute zählt man in der islamischen Welt 73 wichtige Schulen und damit 73 Hauptrichtungen, die sich weiter aufspalten, so daß man mehr als 400 verschiedene Gruppierungen vorfindet. Wie wollte man aus dieser Vielzahl einen einzigen Islam benennen, der die Lösung sein soll?

Auch wenn die Wiederkehr des Kalifatentums als Ziel ausgewiesen wird, bleibt offen, woher dieser Kalif kommen soll. Heute leben rund 1,3 Milliarden Muslime auf der Welt, die verschiedener Nationalität sind. Im Islam gibt es bekanntlich keine Zentralisierung und mithin keine Institution, die als zuständig für alle Muslime erachtet werden könnte. Wo soll der Sitz dieses Kalifs sein? Welchen Ort man auch immer nennen würde, sofort meldeten sich zahlreiche Gruppen zu Wort, die mit der dort präsenten Richtung des Islam absolut nichts zu tun haben wollen. Daher sei das Postulat, "der Islam" sei die Lösung, im Grunde vom Tisch, so der Referent.

Wenn der Islam angeblich keine Trennung zwischen Staat und Religion kennt, müßte eine Begründung für diese Idee geliefert werden. Der übliche Verweis auf den Koran helfe da nicht weiter, da in den mehr als 6000 Versen kein einziger über Politik oder die Form des Staates spreche. Der Koran behandle vier Hauptthemen: Gebete, Verträge wie Verkauf, Heirat und Scheidung, Beziehungen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Gott und schließlich die Geschichten, die man aus allen heiligen Büchern der monotheistischen Religionen kennt. Politisch zu nennende Themen fänden hingegen keinerlei Erwähnung. War Mohammed nicht zugleich religiöser und politischer Führer, wie diese Gruppierungen geltend machen? Ja gut, aber wer von euch ist Mohammed, könne man darauf erwidern. Wenn diesem ausdrücklich eine Sonderstellung in der Gesellschaft eingeräumt wird, könne niemand mit ihm verglichen werden.

Wenngleich es sich also um naive Parolen handle, beeinflußten sie die Bevölkerung doch in hohem Maße. Wer in der islamischen Welt freiheitliche säkulare Positionen verfechte, habe einen harten Kampf mit diesen Organisationen zu führen, die die Religion instrumentalisierten, um die Menschen zu täuschen. Dieser Kampf müsse mit wissenschaftlichen, friedlichen Methoden weitergeführt werden, um das allgemeine Verständnis zu nähren, daß die Gruppierungen des politischen Islam lediglich an die Macht gelangen wollen, um an den damit verbundenen Privilegien zu partizipieren und ihrerseits Herrschaft auszuüben. Abschließend rief Sadik Hassan Itaimish zur Unterstützung all jener Menschen auf, die diesen harten Kampf führen, worauf ihm mit lebhaftem Beifall für seine Ausführungen gedankt wurde.

(Fortsetzung folgt)

21. Februar 2012