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BERICHT/114: Zu Besuch bei den Piraten in Berlin-Charlottenburg (SB)


Zu Besuch bei den Piraten in Berlin-Charlottenburg

Ein Abend der Piraten-Crew "1984" im Cafe Z, Charlottenburg, 04.06.2012

Am deutschen Polithimmel sind derzeit die Piraten die "shooting stars". Während konservative Kommentatoren und Demoskopen den Untergang der "Volksparteien" bejammern und in der weiteren Aufsplittung der Parteienlandschaft den Auftakt chaotischer Verhältnisse zu erkennen meinen, finden viele, vor allem jüngere Wähler, Gefallen an einer Partei, die sich mehr als die anderen der Frage nach einer angemessenen Antwort auf die rasanten Auswirkungen der digitalen Technologie auf das gesellschaftliche Leben zu stellen scheint. Nach dem Einzug in die Landtage von Berlin (September 2011 / 8,9%), Saarland (März 2012 / 7/4%), Schleswig-Holstein (Mai 2012 / 8,2%) und Nordrhein-Westfalen (Mai 2012 / 7,8%) hat die erst 2006 gegründete Partei der Piraten nun beste Chancen, 2013 auf Bundesebene erstmals über die Fünfprozenthürde zu kommen und Sitze im Bundestag zu erobern.

Nächtlicher Anblick des Cafe Z mit Neonreklame - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Kneipe an der Ecke - Treffpunkt der Piratenbasis
Foto: © 2012 by Schattenblick

Über die Entstehung der neuen Konkurrentin sind die Verantwortlichen bei den fünf etablierten Parteien nicht gerade begeistert. Die Christ- und Sozialdemokraten versuchen die Piraten so gut wie möglich zu ignorieren und tun so, als kämen sie auf keiner Ebene als potentielle Koalitionspartner für sie im Betracht. Offenbar in der Hoffnung, daß die neue kleine Partei schnell wieder in der Versenkung verschwindet, zollen ihr CDU (samt bayerischen Appendix CSU) und SPD so wenig Anerkennung wie möglich und mokieren sich über die politische Unerfahrenheit ihrer Vertreter. Anders sieht es bei der Linken, den Grünen und den Liberalen aus, die allesamt Wähler an die Piraten verlieren. Durch die Wählerwanderung zur Piratenpartei ist der Wiedereinzug der Liberalen und der Linken in den Bundestag sogar gefährdet. Nicht wenige Wähler sehen in den Piraten, die für informationelle Selbstbestimmung und ein bedingungsloses Grundeinkommen eintreten, bessere Datenschützer als die Liberalen und effektivere Kämpfer für soziale Gerechtigkeit als die Linke. Ob sich diese Einschätzung mit der Realität deckt, muß sich noch zeigen.

Aufgrund einer zufälligen Begegnung erhielt der Schattenblick die Einladung, am 4. Juni einem Treffen der Berliner Piraten-Crew "1984" beizuwohnen. "1984" ist die älteste von vier Crews, der untersten Organisationseinheiten bei den Piraten, im Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf. Sie trifft sich regelmäßig im Cafe Z im Charlottenburger Kiez. Die Benennung nach dem berühmten Big-Brother-Roman von George Orwell geht auf die Gründung während der Regierungszeit der großen Koalition aus CDU und SPD zurück, als 2007-2009 der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen Pläne zur Bekämpfung der terroristischen "Selbstradikalisierung" und der Kinderpornographie im Internet lautstark jeweils mittels Onlinedurchsuchungen durch Polizei und Geheimdienst sowie der Sperrung verdächtiger Webseiten unter Inpflichtnahme der Provider schmiedeten. Nur dank großen öffentlichen Drucks konnte die Umsetzung der drakonischen Maßnahmen, welche die Kritiker als "Stasi 2.0" anprangerten, verhindert werden.

Am besagten Abend im belebten Cafe Z nahmen rund 15 Menschen unterschiedlichen Alters und beiden Geschlechts an der locker geführten Diskussionsrunde der Piraten teil. Die meisten von ihnen waren Aktivisten der Partei, andere wiederum lediglich politikinteressierte Bürger aus der Nachbarschaft. Als wichtigstes Thema stellte sich der Kampf um die Rekommunalisierung der Stromversorgung der -netze Berlins heraus, die derzeit von einer Interessensgemeinschaft namens Energietisch, an dem die Piraten, die Grünen und andere beteiligt sind, angestrebt wird. Derzeit findet eine Unterschriftensammlung mit dem Ziel statt, eine Volksbefragung in Berlin über die Rekommunalisierung des Stromsektors durchführen zu können. Angesichts des Erfolgs bei einer ähnlichen Aktion im vergangenen Jahr zwecks Rekommunalisierung der Wasserbetriebe in der Hauptstadt dürfte auch dieses Vorhaben gute Chancen haben, verwirklicht zu werden.

Konkret sprach man in der Piratenrunde über die Modalitäten der laufenden Kampagne, über die Beantragung von Genehmigungen beim Ordnungsamt, Infotische im öffentlichen Raum aufzustellen, was diese Kosten würden sowie wo und zu welchen Zeiten man sie aufstellen sollte. Demnächst laufen die Konzessionen der privaten Energiebetriebe aus, also besteht dringender Handlungsbedarf. Die Gegner der Bürgerinitiative, also in erster Linie die großen Energieunternehmen wie Vattenfall, schätzen die Kosten der Rekommunalisierung auf drei Milliarden Euro und versuchen damit den Einwohnern des ohnehin überschuldeten Stadtstaates Berlin Angst einzujagen. Die Piraten dagegen gehen von Mehrkosten aus, die lediglich zwischen 300 und 400 Millionen Euro liegen dürften. Darüber hinaus sprachen die Crewmitglieder von "1984" über die anderen Implikationen der Rekommunalisierung wie zum Beispiel die Frage der Stromproduktion und inwieweit diese dezentral und über erneuerbare Energien statt fossile Brennstoffe zu realisieren wäre.

Unerfahren und sicher nicht ganz so professionell, wie es der unbeteiligte Beobachter von der Diskussionsgestaltung einer mit parlamentarischer Verantwortung befrachteten Bezirksparteiversammlung erwarten mußte, war der Umgang mit der zeitintensiven und stimmungsdrückenden Diskussionsintervention eines Nichtparteimitgliedes, dessen privates Ansinnen, gerade bei diesem Treffen Beratung und Zuspruch in einem persönlichen Behördenkonflikt einzufordern, besser bei einer Selbsthilfegruppe oder in einer fachlichen Beratung aufgehoben gewesen wäre. Bis dieser Frage und dem offenbar elementaren Anspruch demokratischer Offenheit und Transparenz der beteiligten Crewmitglieder Rechnung getragen worden war, hat es doch verhältnismäßig lange Zeit und eines großen Energieaufwandes bedurft. Im Anschluß an der Diskussionsrunde sprach der Schattenblick mit Holger Pabst, dem Kapitän der Crew "1984", der seit dem letzten Herbst zusammen mit drei politischen Kampfgefährten die Piraten in der 54sitzigen Bezirksverordnetenversammlung von Charlottenburg-Wilmersdorf vertritt.

Viel Betrieb und eine bestens bestellte Bar im Cafe Z - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gemütliches Beisammensein in der Musik- und Raucherkneipe Cafe Z
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Wie lange sind Sie schon bei den Piraten dabei?

Holger Pabst: Ich bin der Partei im Juni 2009 kurz nach der Europawahl beigetreten. Damals kam es zum ersten großen Zustrom an neuen Mitgliedern bei den Piraten.

SB: Worauf führen Sie den Erfolg der Piraten bei der Berlin-Wahl im besonderen und den nachfolgenden Landtagswahlen in Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im allgemeinen zurück?

HP: Der Durchbruch in Berlin dürfte auf mehreren Punkten basieren: Dazu gehört als erstes die Tatsache, daß wir eine basis-demokratische Bewegung sind und alle unsere Veranstaltungen - wie auch diejenige heute abend - für alle offen sind. Da kann jeder, der will, daran teilnehmen. Es gibt bei uns keine geheimen Sitzungen, bei denen sich Interessierte nicht einbringen dürfen. Als Kriterium für eigenes Engagement gilt das piratische Mandat: Denk zweimal darüber nach, was du machen willst; rede mit Piraten in deiner Umgebung, ob es eine gute Idee ist; und wenn du nicht von allen Seiten zu hören bekommst, daß es Quatsch ist, dann mache es. Das bedeutet, daß man nicht einen ganzen Instanzenbaum durchlaufen muß; jeder kann mitmachen und seine Ideen verwirklichen. Das ist ein großer Anziehungspunkt.

Natürlich profitieren wir auch von den Aktionen der etablierten Parteien, deren Politik momentan bei vielen Leuten nicht die Unterstützung findet, die sie sich sicherlich wünschen, wie man anhand der stetig sinkenden Wahlbeteiligung ja auch sehen kann.

Der dritte wichtige Aspekt ist, daß wir - als wir 2009 erstmals richtig bekannt wurden - als moderne Partei auftraten, die mit der modernen Technologie umzugehen wußte. Damals kamen viele von uns aus der IT-Branche. Und die Erfahrung die wir dort gesammelt hatten, haben wir mitgebracht. Wir sind in der Lage, obwohl über ganz Deutschland verteilt, unsere Experten online zusammenzuziehen und zusammenarbeiten zu lassen, ohne daß wir auf einen physischen Treffpunkt festgelegt sind. Damit kann sich jeder beteiligen, ohne Hotel- oder Fahrtkosten aufbringen zu müssen. Das hat sich inzwischen allerdings etwas verändert. Gerade im letzten Jahr haben wir sehr viele Mitglieder bekommen, die nicht aus dem IT-Sektor kommen und die uns mit ihren speziellen Fähigkeiten unterstützen. Dadurch besteht jetzt die Aufgabe darin, die modernen Arbeitsmethoden auch für nicht so internet-affine Mitmenschen nutzbar zu machen. Ich hoffe, daß wir dadurch für noch breitere Bevölkerungsschichten interessant werden. Wie Sie heute abend ja auch gesehen haben, ist auch die Frauenquote inzwischen recht hoch - unabhängig was die Berichte der letzten Zeit über uns sagen.

SB: Inwieweit, meinen Sie, ist die informationelle Selbstbestimmung ein wichtiger Punkt, den die Piraten im Vergleich zu den anderen Parteien als Sorge der Bürger wahrgenommen haben?

HP: Ich denke daß wir das nicht nur in der Vergangenheit wahrgenommen haben, sondern auch in der Zukunft wahrnehmen und danach Handeln werden. Es ist ein sehr großes und sehr diffiziles Problem bzw. Themenfeld, auf das die klassischen Parteien bisher keine wirkliche Antwort haben. Denn zur informationellen Selbstbestimmung gehören auch Sachen wie das Urheberrecht. Die Tatsache, daß wir hier aufnehmen, heißt noch lange nicht, daß ich das Verwertungsrecht, welches ich an meinem gesprochenen Wort habe, übertrage. Also, daß Sie es veröffentlichen dürfen. Formal gibt es da sehr viele Hürden, die man überwinden muß. Dabei ist es heute selbstverständlich, daß man Interviews gibt - erst recht im Namen der Piratenpartei - ohne auf diesen ganzen Papierkram und die rechtlichen Formalitäten großen Wert zu legen.

Der ganze künstlerisch Bereich - siehe z.B. Creative-Commons-Lizenzen - die heute möglich sind und eigentlich weiterführend die Kultur beflügeln würden, sind bei den klassischen Parteien nicht wirklich angekommen und verstanden worden. Was dazu führt, daß die alten Vorstellungen, die bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts ja auch einigermaßen funktionierten, jetzt auf das Internet angewendet werden. Dort aber kann jeder seine Meinung und seine Daten veröffentlichen und ist somit selber Urheber. Möchte man hier jedoch seine Daten geschützt haben, gibt es Probleme: wenn ich mich z.B. bei Facebook anmelde, kann ich mich nicht auf mein Urheberrecht berufen, um meine Daten zu schützen.

Die Daten im Internet sind im allgemeinen frei verfügbar und liegen auf irgendeinem Server bei einer Firma, die ihren Hauptsitz aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Deutschland hat - welches Urheberrecht gilt dann? Das sind alles Probleme, die man nicht mit den Konzepten, die bis zum 20. Jahrhundert entstanden sind, lösen kann. Da sind neue Gedanken, wie sie die Piraten in die öffentliche Diskussion eingebracht haben, erforderlich.

SB: Einen Kritikpunkt, der in Bezug auf die Piraten hin und wieder ins Feld geführt wird, ist, daß sie die Datensammelwut des Staates anprangern, dafür jedoch ähnliche Umtriebe der Privatwirtschaft vernachlässigen bzw. nicht im selbem Ausmaß problematisieren. Halten Sie diesen Vorwurf für gerechtfertigt?

HP: Ich bin unter anderem wegen des Themas Datenschutz 2009 den Piraten beigetreten. Meiner persönlichen Meinung nach macht es keinen Unterschied, ob ich Datensammlungen beim Staat oder bei irgendwelchen Privatfirmen habe. Es sind in beiden Fällen Datensammlungen auf die der Staat letzten Endes zugreifen kann - siehe Vorratsdatenspeicherung. Das sind private Datensammlungen der Telekommunikationsunternehmen, auf die der Staat per Gesetz Zugriff haben möchte. Insofern sind beide gleich problematisch. Aber es ist natürlich so, daß man bei staatlichen Datensammlungen nicht unbedingt entscheiden kann, ob ich erfaßt werden möchte. Möchte ich zum Beispiel in einer Datenbank "Sport" erfaßt werden, weil ich einmal in einem Stadion war, wo es zu einer Ausschreitung kam? Und mich so dem Verdacht aussetzen, daß ich möglicherweise beteiligt war? Möchte ich in irgendwelchen staatlichen beziehungsweise polizeilichen Datenbanken landen, ohne eine Chance zu haben, dagegen etwas unternehmen zu können? Da habe ich keine große Möglichkeit, irgendwie Einfluß zu nehmen, oder gar auch nur davon zu erfahren. Etwas anders sieht es bei privaten Datensammlungen aus. Ich kann mich zum Beispiel entscheiden, bei Facebook nicht teilzunehmen und damit die Datenmenge die über mich gesammelt wird zu reduzieren.

Andererseits ist es auch von Facebook bekannt, daß sie die Daten aus allen möglichen Quellen sammeln. Das heißt, es gibt Daten von mir bei Facebook, die ich niemals autorisiert habe. Das ist natürlich ein Problem. Deswegen muß man auf beiden Seiten aufpassen und genau hinschauen, was man mit seinen Daten macht. Von daher sind die Piraten auch in der Pflicht, Privatfirmen wie Google, Facebook oder Twitter, deren Dienste wir gern in Anspruch nehmen, sehr kritisch zu betrachten. Was wird mit den Daten gemacht? Und wie kann man für die Zukunft ein Konzept entwickeln, um eine Balance zwischen der Informationsfreiheit, also der Tatsache, daß Informationen, wenn sie einmal draußen sind, sich nicht mehr einfangen lassen, und dem persönlichen Wunsch sein Privatleben selbst bestimmen zu können, findet?

SB: In den letzten Jahren haben in den USA, vor allem seit den Anschlägen vom 11. September 2001, private Sicherheitsunternehmen immer mehr staatliche bzw. geheimdienstliche Aufgaben übernommen. Es scheint auch der Fall zu sein, daß einer der Gründe, warum dieser Weg beschritten wurde, darin besteht, daß man sich dadurch über die Rechte der Bürger und der Legislative nach dem Informationsfreiheitsgesetz hinwegsetzen kann. Es wird dem Bürger folglich immer häufiger der Zugriff auf Daten mit dem Argument verwehrt, daß sie nicht der Kontrolle des Staates unterliegen, sondern sich im Besitz von irgendwelchen Privatunternehmen befinden, der Schutz von deren Betriebsgeheimnissen wiege schwerer als die informationelle Selbstbestimmung des einzelnen. Deutet diese Entwicklung, die in Europa bereits zum Teil Schule macht, nicht darauf hin, daß in Sachen Datensammelwut der Staat und die Großkonzerne auf Kosten des einzelnen Bürgers längst gemeinsame Sache machen?

HP: Was die informationelle Selbstbestimmung in den USA betrifft, bin ich nicht auf dem neuesten Stand. Ich weiß aber, daß hierzulande viele interessante Anfragen, wie zum Beispiel wer vom deutschen Bundestag an den ACTA-Verhandlungen [Anti-Counterfeiting Trade Agreement - Anm. d. SB-Red.] teilgenommen hat, mit dem Hinweis nicht beantwortet wurde, daß die Preisgabe jener Informationen die staatliche Sicherheit gefährden würde. Es gibt sehr viele Antworten, die in diese Richtung laufen, sobald es interessant wird. Dies zeigt, daß das Informationsfreiheitsgesetz bisher leider ein ziemlicher Papiertiger ist und das es wenig Unterschied macht, ob die Daten bei einem Privatunternehmen oder beim Staat liegen, insbesondere jetzt, wo es Bestrebungen gibt, das Informationsfreiheitsgesetz auch auf Privatfirmen auszudehnen. Wir haben das selbst mitbekommen, als vor einiger Zeit ein Unternehmen die Lebensläufe von 150 Mitgliedern der Piraten veröffentlichte, ohne uns als Partei oder die Betroffenen vorher zu fragen. Und ich weiß, daß auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes bei der Firma Dutzende von Anfragen seitens der Betroffen eingingen, was alles über sie in diesem Buch geschrieben wurde. Es gibt von privatrechtlicher Seite also schon die Möglichkeit, solche Informationen einzufordern.

SB: Vorhin in der Diskussion ist der Begriff "liquid feedback" gefallen. Wie findet die Entscheidungsfindung, die Beschlußfassung bei den Piraten denn statt? Läuft der Prozeß von der Crew- auf die Squad- und von dort auf die Bezirks-, Landes- und Bundesebene?

HP: Formal gesehen ist, aufgrund des Parteigesetzes, der Landes- bzw. Bundesparteitag die höchsten Entscheidungsgremium, die wir haben. Das sind die einzigen Organe, die Beschlüsse fassen dürfen. Sobald ein Parteitag einberufen wird, kann jedes Mitglied daran teilnehmen. Es ist bei uns nicht über hierarchische Delegiertensysteme bzw. Parteigliederungen gestaffelt, wie bei den klassischen Parteien. In Berlin würden wir gerne "liquid feedback" intensiver einbinden, um zwischen den Parteitagen Beschlüsse zu fassen, an denen alle mitwirken können. Es gibt da aber im Parteiengesetz ein paar formal-juristische Hürden - Stichwort "imperatives Mandat", "dezentraler Parteitag" bzw. "permanenter Parteitag".

SB: Um diese Bestimmungen zu ändern?

HP: Sowohl um sie zu ändern, als auch innerhalb der bestehenden Regelungen einen Weg zu finden, unsere Ideen zu verwirklichen, damit über moderne Werkzeuge jedem Mitglied eine jederzeitige Mitarbeit ermöglicht werden kann.

Interviewszene: Das Zwiegespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

SB-Redakteur und Holger Pabst
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Vorhin in der Runde gab es eine sehr lebhafte Diskussion um das Thema Energietisch, bei dem es um die Rekommunalisierung der Energienetze und -versorgung in Berlin geht. Ist es aber nicht so, daß die Piraten durch ihren Eintritt für einen Umstieg auf eine dezentralisierte Energiegewinnung und -versorgung auch eine Transformation der Gesellschaft verfolgen?

HP: Die Gesellschaft wird sich so oder so transformieren. Man muß sich nur überlegen, was die Erfindung des Buchdruckes für die Verbreitung von Wissen bedeutet hat. Das hat die Gesellschaft radikal verändert. Diejenigen, die bis dahin die Bücher mühselig abgeschrieben und kopiert haben, wurden auf einmal arbeitslos. Diese Arbeit hat damals die gutenbergsche Druckerpresse übernommen. Bücher fanden plötzlich viel mehr Verbreitung. Die Bevölkerung wurde im Laufe der Zeit wesentlich gebildeter.

SB: Es kam zur Reformation.

HP: Das war eine der Auswirkungen. Zu einem ähnlichen Fortschrittsschub kam es infolge der industriellen Revolution. Die technische Möglichkeit, mit Hilfe von Maschinen die Arbeitsleistung der Menschen nicht nur zu ersetzen, sondern sogar um ein Vielfaches zu steigern, hat die Gesellschaft dramatisch verändert. Derzeit befinden wir uns in einer ähnlichen Umwälzungsphase. Das Internet, die Digitaltechnologie und die daraus resultierenden Arbeitsmethoden und -möglichkeiten werden die Gesellschaft noch weiter verändern. Allein wenn man z.B. an die 3D-Drucker denkt, die sich von ihrer Entwicklung her derzeit in einem Stadium vergleichbar demjenigen des Computers in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts befinden, kann man sich eine Situation in 20 oder 25 Jahren vorstellen, in der die Menschen einfache Gebrauchsartikel wie Gläser, Gabeln und ähnlichem selbst zuhause herstellen. Dann haben wir das Problem des Urheberrechts nicht nur für die Musik, sondern auch für Gegenstände. Da sollten wir uns darauf vorbereiten, damit wir die Welt von morgen gestalten können und nicht einfach davon überrollt werden, wie es jetzt den klassischen Parteien beim Thema Internet und Urheberrechte passiert.

SB: Eine Entwicklung, die Deutschland in den letzten 25 Jahren wesentlich geprägt hat, ist die Umverteilung von unten nach oben. In der Zeit hat sich in der Bundesrepublik die Kluft zwischen arm und reich deutlich vergrößert. Die Armut und die Anzahl der Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, haben erheblich zugenommen. Schickt sich die Piratenpartei an, sich dieser Entwicklung in den Weg zu stellen bzw. sie rückgängig zu machen? Treten die Parteien für größere Gleichheit in der Gesellschaft ein?

HP: Wir halten diese Entwicklung sehr wohl für bedenklich und wir haben auch Konzepte wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen, um dagegen anzugehen. Wir wollen auf keinen Fall eine Gleichmacherei erreichen oder gar den Reichtum verhindern, denn das kann man nicht. Das wird es immer geben. Dennoch ist eine strukturierte Neuverteilung sicherlich nötig. Schauen wir uns doch mal an, welche Produktionsleistungen wir heutzutage haben: im Mittelalter benötigte man den Einsatz von neunzig Prozent der Bevölkerung, um allein die zum Überleben erforderlichen Lebensmittel zu produzieren. Heute braucht man von 1000 Leuten vielleicht 20 für die Lebensmittelproduktion. Im gleichen Ausmaß hat sich die Produktionsfähigkeit, die wir haben, erweitert. Der Prozentsatz an Menschen, die zur Erzeugung von Lebensmittel und der Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs erforderlich sind, wird immer weniger.

Das heißt, wir brauchen für die Zukunft auch ein Konzept, was wir mit den Bevölkerungsanteil machen, dessen Arbeitsleistung nicht notwendigerweise benötigt wird. Wir können sie in die Forschung locken und die Forschung vorantreiben. Das wäre eine gute Möglichkeit. Eine andere Variante wäre, sie dazu zu animieren, sich stärker für die Sozialarbeit zu interessieren. Das heißt, den Blick auf den ganzen Bereich Kultur, Soziales, Forschung und Wissenschaft wesentlich stärker zu fokussieren. Dafür muß man natürlich ganz andere Wirtschaftsideen und -modelle haben. Es geht nicht, daß jemand der gerne malt und sich künstlerisch entwickeln will, aus Überlebensgründen gezwungen wird, acht Stunden am Tag zu arbeiten und nur noch in seiner Freizeit malen kann. Das bedingungslose Grundeinkommen ist dafür gedacht, solche Lebensplanungen zu ermöglichen. Kann der- oder diejenige mit dem, wofür er oder sie sich wirklich interessiert, dann auch noch Geld verdienen, dann ist es um so besser.

SB: Die Piratenpartei hat sich ein Umdenken in der Drogenpolitik auf ihre Fahne geschrieben. Wie man aus Afghanistan und Kolumbien weiß, hat die von den westlichen Industriestaaten maßgeblich propagierte Drogenprohibition verheerende Auswirkungen auf die Dritte Welt. Sowohl aus dem Antidrogenkrieg und seinem Nachfolgermodell, dem Antiterrorkrieg, leiten sich die USA und ihre europäischen Verbündeten den Anspruch ab, sich auch militärisch in die Belange anderer Länder einmischen zu müssen. Mit der Bekämpfung der Drogen und des "Terrors" wird zudem in den Industriestaaten selbst mit der Installierung einer gigantischen Sicherheitsarchitektur begründet. Wäre es für die Piratenpartei nicht eine Idee, in der Außenpolitik die Dauereinmischung des Westens in den Ländern der nicht-industrialisierten Welt anzuprangern, um auf diese Weise die militaristischen Befürworter des nationalen Sicherheitstaats argumentativ den Boden zu entziehen?

HP: Aus Sicht der Piraten sind Drogen und Terrorismus erstmal zwei voneinander getrennte Politikfelder. In der Drogenpolitik sind wir sehr wohl für eine entspanntere Haltung. Wir befürworten die Freigabe vieler Drogen und den öffentlichen Verkauf, einfach weil sich dadurch die Kriminalität wirksam reduzieren läßt. Wenn ich mir nicht heimlich Drogen beschaffen muß, muß ich auch nicht zum Dealer um die Ecke gehen, der wer weiß was mit dem Geld macht. Ich muß auch nicht irgendwo einbrechen, um mir das Geld zu besorgen, weil die teuren Drogen nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen sind. Eine Auswirkung auf die Außenpolitik wäre, daß der illegale Markt austrocknen würde, wenn der Drogenkonsum und -anbau legalisiert und kontrolliert würde wie beim Tabak. Die Drogenkartelle würden sich wahrscheinlich aus dem Geschäft zurückziehen, weil es sich wegen der niedrigen Preise nicht mehr für sie lohnt.

Was die Antiterrorpolitik betrifft, so habe ich mich ab 2009 intensiv mit allem befaßt, was in diesem Überwachungsbereich anfällt wie Nackt-Scanner am Flughafen und Vorratdatenspeicherung. Ich denke, daß hier in Deutschland sehr viele Menschen solchen Maßnahmen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen und diesen ganzen Trend zurückgefahren sehen möchten. Ich weiß, daß in Schleswig-Holstein die Polizei derzeit großflächig Gentests durchführt, weil sie bei einer Ermittlung wegen eines Überfalls keinen anderen Hinweise auf den Täter haben. Das ist sehr bedenklich, da die Möglichkeit einer Fehlidentifizierung - z. B. des Bruders oder des Zwillingsbruders des eigentlichen Täters - nicht ausgeschlossen werden kann. Zudem wandern auf diesem Weg die Gendaten ganz vieler Menschen in polizeiliche Datenbanken. Dazu gehören nicht nur der genetische Fingerabdruck aller Männer, die an dem Test teilnehmen, sondern aufgrund der genetischen Ähnlichkeit im Grunde genommen auch die Gendaten aller ihrer Verwandten ersten Grades. Die Existenz einer solchen Gendatenbank lädt zum Mißbrauch geradezu ein. Vorstellbar wäre die Überprüfung der Wahlzettel nach genetischem Material aller Wähler, die keine Handschuhe trugen, als sie den Zettel in die Urne geworfen haben. Es wäre dann relativ einfach herauszufinden, wer für welche Partei oder welchen Kandidaten gestimmt hat. Das ist zwar ein extremes Beispiel, aber man muß sich dennoch auch solche Szenarien vorstellen, um sie gar nicht erst entstehen zu lassen.

SB: Wir bedanken uns bei Ihnen, Herrn Papst, für das Gespräch.

Haupteingang des Barock-Rokoko-Schlosses Charlottenburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Schloß Charlottenburg - der Prunk des alten Preußens
Foto: © 2012 by Schattenblick

12. Juni 2012