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BERICHT/180: Bündnis breit und gegen - Nadel, Faden, Erdogan (SB)


Personifizierung der Widerspruchslage greift zu kurz

Großkundgebung gegen Erdogans Auftritt am 24. Mai in Köln


Fronttransparent der Demonstration - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

An Recep Tayyip Erdogan scheiden sich die Geister. Das gilt für die Wählerschaft in der Türkei, die den Vorsitzenden der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und langjährigen Ministerpräsidenten je zur Hälfte als hochverehrten Führer in den Himmel hebt oder als Haßfigur zum Teufel wünscht. Auch aus westlicher Sicht glich die Einschätzung und Unterstützung des türkischen Regierungschefs zumindest vordergründig einem Wechselbad der Gefühle, das von Lob und Hofierung in harsche Bezichtigung umschlug. Wenn sich wie im Falle Erdogans Freund- und Feindschaft derart auf eine politische Reizfigur konzentrieren, spitzt sich die von ihr beförderte wie in Reaktion auf sie ausgelöste Polarisierung fast zwangsläufig auf die Fehleinschätzung zu, daß das in dieser Gestalt gebündelte System mit ihr stehe und falle. Eine solche Personifizierung läuft Gefahr, die Kritik an der Ideologie und Politik der türkischen Regierung wie auch der sie beeinflussenden westlichen Mächte ausschließlich und unzulässig über den Leisten Erdogans zu schlagen. Eine fundierte Kritik, die ökonomische, soziale, politische und kulturelle Aspekte angemessen entschlüsselt und gewichtet, bliebe dabei auf der Strecke, so daß anstelle analytischer Schärfe, wirksamer Handlungskompetenz und Bündnisfähigkeit ohne Preisgabe entschiedener Positionen eine kurzschlüssige, diffuse und einhegbare Beliebigkeit das Feld beherrschte.

Daß sich die Einschätzung der Türkei mit einer ganzen Reihe von Widersprüchen konfrontiert sieht, die sich zum gordischen Knoten auswachsen, ist nicht zuletzt auf die Rolle des Landes an der Ostflanke der NATO, am Rande der EU und als geopolitische Schnittstelle der Kontinente und Kulturen zurückzuführen. Damit die Führung in Ankara die Funktion dieses Vorpostens in mehrfacher Hinsicht erfüllen kann, stattet man sie westlicherseits mit militärischer, polizeilicher, geheimdienstlicher und juristischer Unterstützung aus. Sie wird aufgerüstet, um nach innen und außen gemeinsame Gegner niederzuhalten, wozu es einer angemessenen Stärke bedarf. Sie soll andererseits diese Wirkmacht nicht im Dienste eigenständiger Interessen zu Zwecken einsetzen, die mit denen des transatlantischen Militärbündnisses inkompatibel sind, geschweige denn eine eigenständige Regionalpolitik betreiben.

Im Zuge neoliberaler Zurichtung formte westliche Einflußnahme die Türkei zu einem Standort um, der den Erfordernissen ungehinderter Kapitalverwertung Tür und Tor öffnet. Günstige Investitionsbedingungen wie insbesondere ein niedriges Niveau der Löhne, Arbeitsbedingungen und -rechte sowie geschwächte Gewerkschaften und unterdrückte Arbeitskämpfe samt einer insgesamt stabilen Sicherheitslage sind erwünscht und gefordert. Die bloße Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU im Verbund mit deren fortgesetzter Verweigerung gestattet die Implementierung von Auflagen, während deutsche Unternehmen die Vorzüge der Produktion in einem Niedriglohnland auskosten, dem man eine gleichwertige Partnerschaft vorenthält.

Erdogan wurde solange von den westlichen Mächten offen unterstützt, wie er und die AKP als möglicher Kristallisationskern eines gemäßigten Islam moderner Prägung die Umbrüche der gesamten Region einzuhegen versprach. Längst ist die Strategie gescheitert, die Führung der Moslembruderschaft zu übernehmen, die in Ägypten von der Macht verdrängt wurde und in Syrien die Baath-Regierung nicht stürzen konnte. Statt dessen unterstützte die AKP Gotteskrieger der Al-Qaida, um eine kurdische Autonomiezone im Norden Syriens zu verhindern. Diese massive Präsenz von Dschihadisten bedroht westliche Interessen in der Region wie auch Erdogans Kontakte zum Iran maßgeblich dazu beitrugen, ihm die Rückendeckung zu entziehen und seine Demontage zu betreiben.

Jahrelang hatten westliche Politik und Medien zu Verhaftungen laizistischer Regierungsgegner, Tausender kurdischer Politiker, kritischer Journalisten und Gewerkschafter ebenso geschwiegen wie zu Chemiewaffeneinsätzen gegen kurdische Guerillakämpfer und systematischer Folter in den Gefängnissen. Erdogans repressives Regime wurde erst dann angeprangert, als sein geopolitischer Einfluß schwand und das brutale Vorgehen gegen die Gezi-Park-Proteste im vergangenen Sommer eine Destabilisierung des Landes und damit die Sicherheit der Kapitalanlagen zu gefährden schien. [1]

Karikatur mit Erdogan und Sultan - Foto: © 2014 by Schattenblick

Absage an neoosmanische Träume
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die AKP war nie ein Hoffnungsträger der Demokratie, zu dem sie befristet hochstilisiert wurde. Als konservativ-islamische Partei repräsentiert sie eine jener religiös und nationalistisch verbrämten Strömungen, die die Klassenwidersprüche verschleiern und mit repressiver Staatlichkeit die Vorherrschaft des nationalen wie internationalen Kapitals durchsetzen. Die Doktrin, es gebe keine Alternative zur neoliberalen Offensive, die seit den 1970er Jahren weltweit vorangetrieben wurde, setzte der IWF seit 1980 auch in der Türkei mit einem Strukturanpassungsprogramm durch. Das exportorientierte Entwicklungsmodell aktivierte nicht zuletzt durch die Senkung der Löhne bestehende Produktionskapazitäten für die Ausfuhr, ohne jedoch neue und diversifizierte Kapazitäten zu schaffen. Nachdem graduelle politische Liberalisierungen ein Wiedererstarken der Gewerkschaftsbewegung ermöglichten, geriet dieses Modell Ende der 1980er Jahre in die Krise.

Die Verlagerung des Akkumulationsprozesses auf den Finanzmarkt brachte einen neuen Wachstumsimpuls, indem die Banken günstige Kredite auf den internationalen Kapitalmärkten aufnahmen und sie in hochverzinsliche Anleihen des türkischen Staates investierten. Diese staatszentrierte finanzielle Akkumulation war jedoch in sich instabil und reagierte empfindlich auf die Schwankungen der internationalen Kapitalmärkte. So führten die häufigen Krisen der 1990er Jahre erneut zu Einbußen bei den Reallöhnen. Im Gefolge der große Krise des Jahres 2001 wurde der türkische Neoliberalismus neu formuliert: Ein kreditbasierter Finanzialisierungsprozeß, der wesentlich auf Steigerungen von Privatkonsum und -verschuldung basierte, führte zu relativer Stabilität und hohen Zuflüssen ausländischen Kapitals, das dazu beitrug, die steigenden Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren. Dies ermöglichte den Mittelschichten einen auf Kredit basierenden Konsumschub und generierte nicht zuletzt gesellschaftliche Zustimmung für die seit Ende 2002 regierende AKP.

Solange die Türkei mit einem beträchtlichem Wirtschaftswachstum aufwarten konnte, wurde sie westlicherseits für diese Entwicklung gelobt. Der vernachlässigte Ausbau des produktiven Sektors, der erhebliche Anteil armer Bevölkerungsschichten und die Krisenanfälligkeit des auf die Finanzmärkte konzentrierten Akkumulationsregimes zwangen schließlich auch der Türkei unvermeidlich die globale Krise der kapitalistischen Verwertung auf. Allerdings war es der AKP zwischenzeitlich gelungen, nicht nur den Handel zu fördern und den Lebensstandard der Mittelschichten zu heben, sondern sich zugleich eine stabile Wählerschaft in den ärmeren Bevölkerungsgruppen zu schaffen. Unter Ausblendung der strukturellen Ursachen von Armut und Arbeitslosigkeit etablierte die Regierung eine Armutsverwaltung mittels gewisser sozialer Hilfen, baute die Infrastruktur aus und etablierte das Trugbild, sie trete für die Unterdrückten ein. So sind Erdogan und die AKP heute für die Hälfte der türkischen Bevölkerung eher fiktiv als real, doch tief verwurzelt und gleichsam alternativlos mit dem Fortkommen der Menschen assoziiert.

Das Klischee, Erdogan sei ein Autokrat, der jeglichen Realitätsbezug verloren habe und kurz vor dem Sturz stehe, weshalb er Wählerstimmen kaufe, Urnengänge manipuliere und die Menschen mit Almosen besteche, blendet die Stabilität seiner Basis, die sozioökonomischen Faktoren seines Rückhalts und die Mechanismen seiner Ideologie aus. Die AKP hat die Grundfunktionen einer Regierung durchaus erfüllt und kann auf materielle Erfolge in der letzten Dekade verweisen. Indem Erdogan den "nationalen Willen" für sich reklamiert, Stabilität verspricht und sich zum Maßstab des "Muslimischen" und damit der Moral an sich erklärt, diskreditiert er jegliche Kritik als Angriff finsterer in- und ausländischer Mächte, die die Rechtmäßigkeit seines Handelns nur um so mehr bestätigten und verteidigenswerter machten. Die AKP geriert sich als Hüterin der "wahren Religiosität" und treibt die Islamisierung einer Gesellschaft voran, die sich zu einem beträchtlichen Teil von dieser Identität, Ordnung und Führerschaft vor allem Schutz vor jeglichen Verwerfungen ihrer Existenz verspricht.

Dank dieses Narrativs ist es der Regierung gelungen, trotz fortgesetzter Repression gegen Minderheiten und Oppositionelle, eingeschränkter Medienfreiheit und parteiischer Gerichte, Korruption und zahlreicher weiterer Verschärfungen der Verhältnisse bis hin zu ihrer verächtlichen Reaktion auf das Grubenunglück von Soma ihren autoritären Kurs voranzutreiben, ohne nennenswerte Teile ihrer Anhängerschaft einzubüßen. Um so mehr bedarf die Protestbewegung einer Diskussion und Formierung, die über die bloße Anti-Erdogan-Position hinausweist, die grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche thematisiert und sich insbesondere nicht als Werkzeug eines vom Ausland betriebenen Regimewechsels mißbrauchen läßt.

Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick


Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick

Fotos: © 2014 by Schattenblick


Erdogans Griff nach der türkischen Diaspora

Erdogan legt großen Wert auf die Verbundenheit zur türkischen Diaspora in Europa. Er befürwortet eine Integration türkischer Migranten in Gesellschaft und Kultur des Aufnahmelandes, lehnt jedoch eine "Assimilation" ab. Bei seinem Deutschlandbesuch im Februar 2008 bezeichnete er die Assimilation als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Zudem versucht er, Beziehungen zu türkischstämmigen Politikern in europäischen Ländern aufzubauen, um sie zu bewegen, die Interessen der Türkei dort aktiv zu vertreten. Im Februar 2011 forderte er die Türken in Deutschland in einer Rede in Düsseldorf dazu auf, ihre Kinder zunächst die türkische und erst danach die deutsche Sprache erlernen zu lassen.

Für Erdogan sind die rund 1,5 Millionen türkischen Wähler in Deutschland - die mit Abstand größte Gruppe unter den rund fünf Millionen im Ausland lebenden Türken - bei der Präsidentenwahl am 10. August von hoher Bedeutung. Da die Auslandstürken in der Vergangenheit in die Türkei reisen mußten, um ihre Stimme abzugeben, sank ihre Wahlbeteiligung auf unter zehn Prozent. Nun können sie zum ersten Mal an ihren Wohnorten abstimmen, so daß eine hohe Beteiligung zu erwarten ist. Erdogan, der wohl kandieren wird, will als Präsident das Land nicht nur repräsentieren, sondern weiter mitregieren. Wie er angekündigt hat, werde er im Falle eines Wahlsieges alle Vollmachten des Präsidentenamtes nutzen, darunter das Recht, Kabinettsitzungen zu leiten.

Um seine künftige Position zu stärken, braucht er ein möglichst klares Mandat der Wählerschaft. Bisher hat es die AKP trotz aller Wahlerfolge der vergangenen Jahre nie geschafft, auf über 50 Prozent der Stimmen zu kommen. In der polarisierten politischen Atmosphäre der Türkei hat Erdogan kaum eine Möglichkeit, in der ersten Runde viele Anhänger anderer Parteien auf seine Seite zu ziehen. Da am 10. August einige zehntausend Stimmen den Ausschlag geben könnten, versucht er, auch die Türken in Deutschland zu erreichen. Sein Auftritt am 24. Mai in Köln, wo er zum 10. Gründungstag der UETD (Union Europäisch-Türkischer Demokraten) in der Lanxess Arena sprach, stand daher im Zeichen des Werbens um Wählerstimmen.

Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick


Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick Verschiedene internationale Blöcke des Demonstrationszuges - Foto: © 2014 by Schattenblick

Fotos: © 2014 by Schattenblick


Wirkmächtiges Zeichen gegen Erdogan und die AKP-Regierung

Desto wichtiger war es für die Gegner der AKP-Regierung und Ministerpräsident Erdogans, an diesem Tag ein unübersehbares Zeichen sowohl für ihre Landsleute hier wie in der Türkei als auch für die deutsche Bevölkerung zu setzen. Daß ihnen das gelungen ist, dürfte außer Frage stehen. Die Alevitische Gemeinde Deutschland hatte europaweit zu einer Großkundgebung mobilisiert, an der weit über 60.000 Menschen teilnahmen. [2] Mit dem Fassungsvermögen Kölner Kundgebungsplätze vertraute Ortskundige schätzten die Zahl noch weit höher und sprachen von einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Stadt, vergleichbar nur mit jener zum Weltwirtschaftsgipfel 1999. Damals gingen die Medien von sechzig- bis hunderttausend Teilnehmern aus. [3]

Beeindruckend war jedoch nicht nur die Größe und hervorragende Organisation des Protestmarsches, sondern insbesondere die Errungenschaft, traditionell miteinander rivalisierende oder gar verfeindete Gruppierungen zu einer gemeinsamen Aktion zusammenzuführen. Aleviten, die mit 400 Bussen aus dem In- und Ausland angereist waren, stellten die große Masse der Teilnehmer, doch war auch die kurdische Dachorganisation Yek-Kom mit Tausenden Anhängern unter Fahnen von PKK-Chef Abdullah Öcalan vertreten. Seite an Seite mit ihnen protestierten Kemalisten mit Bildern von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, und zahlreiche Anhänger kommunistischer Gruppierungen waren gleichermaßen präsent.

Demgegenüber nahmen sich Vertreter der deutschen Linkspartei und der Grünen wie auch Gewerkschafter, die sich erfreulicherweise eingefunden hatten, wie versprengte Grüppchen im Menschenmeer aus. Angesichts des Niedergangs linker Politik und Straßenproteste hierzulande war diese Großkundgebung geradezu erfurchtgebietend, wies sie doch wie ein überwältigender Fingerzeig auf entschwundene Mobilisierungsfähigkeit und Präsenz der hiesigen Linken in der Öffentlichkeit.

Türkische Flagge und Bild von Kemal Atatürk - Foto: © 2014 by Schattenblick

Auch Kemalisten zahlreich vertreten
Foto: © 2014 by Schattenblick

Über eine Stunde vor dem offiziellen Beginn der Auftaktkundgebung konnte der dafür vorgesehene Ebertplatz die Menge kaum fassen. Dichtgedrängt und Block an Block standen Menschen aller Altersgruppen unter einem wehenden Fahnenmeer und Schilderwald, während Musik, Sprechchöre und Stimmengewirr zu einem weithin vernehmbaren Getöse kulminierten, als habe man es nicht mit der bloßen Einstimmung auf den Protestmarsch, sondern dessen Höhepunkt zu tun. Als dann, immer wieder von lauten Parolen und Sprechchören unterbrochen, einige einführende Reden in türkischer und deutscher Sprache gehalten wurden, stauten sich die Neuankömmlinge bereits bis weit in die angrenzenden Straßenzüge zurück.

Da der allseits umringte Lautsprecherwagen unter diesen Umständen die Spitze des Zuges nicht einnehmen konnte, setzte sich die Menge kurzerhand dort in Bewegung, wo sie bereits auf der vorgesehenen Route stand. Bemerkenswert war auch in dieser Situation, daß Empörung gegen die AKP-Regierung und Engagement für den Protest selbst in der Enge dieses riesigen Zuges nirgendwo in Streit oder gar Zwischenfälle umschlugen. Obgleich es sich um eine der lebendigsten und lautstärksten politischen Demonstrationen handelte, die man seit Jahren in Deutschland erlebt hatte, nahm man zugleich Rücksicht aufeinander und schritt mitunter wie auf einem großen Familienausflug die Ringstraße um die Kölner Altstadt ab, die in diesen Stunden fest in der Hand des Protests gegen Erdogan war.

Demonstranten mit gelben Helmen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Bergarbeiterhelme als Zeichen der Solidarität mit den Opfern
Foto: © 2014 by Schattenblick

Blieb man am Rande stehen, um den Demonstrationszug Revue passieren zu lassen, war dessen Ende auch gut eine halbe Stunde später nicht einmal in der Ferne abzusehen. Kaum eine Reihe, die stumm oder lustlos vorbeigezogen wäre, denn wie man sofort erkennen konnte, war dies keine Pflichtübung oder politische Routine, sondern sicht- und hörbar ein auf die Straßen und Plätze getragenes Anliegen zahlloser Menschen. Zum Gedenken an die über 300 Todesopfer des Grubenunglücks im westtürkischen Soma trugen viele Leute gelbe Bergarbeiterhelme, deren Botschaft unmittelbar verständlich war. Auf einem riesigen schwarzen Transparent stand zu lesen: "Das war kein Unglück - es war Massenmord!" Gruppen von Gewerkschaftern trugen Schilder mit der Aufschrift: "12 Jahre AKP-Regierung = über 14.000 Tote am Arbeitsplatz". "Leben ist wertvoller als Profit", hieß es auf einem weißen Transparent mit den Emblemen der DGB-Gewerkschaften und einem großen Schwarzweißbild eines Bergmanns.

Transparent: Kein Grubenunglück, sondern Massenmord - DIDF - Foto: © 2014 by Schattenblick

Protest gegen mörderische Arbeitsbedingungen
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die allgegenwärtige Parole "Überall ist Taksim - überall ist Widerstand" nahm Bezug auf die landesweiten Proteste des vergangenen Jahres in der Türkei, die sich durch eine bemerkenswerte Aktionseinheit der verschiedensten Herkünfte und Gesinnungen ausgezeichnet hatten, deren auch nur befristeter Schulterschluß bis dahin nicht einmal denkbar schien. Ein anderes durchgängiges Thema war der dramatische Verfall der Bürger- und Menschenrechte. "Arbeiter sterben in Soma - Demokratie liegt im Koma", hieß es beispielsweise auf einem Transparent.

Die internationale Solidarität wurde immer wieder in rollenden Sprechchören beschworen. "Schulter an Schulter und Hand in Hand gegen das Kapital in jedem Land", war auf Schildern zu lesen, während ein großes Transparent die Aufschrift trug: "Die Regierungen spalten, wir fügen zusammen", umrahmt von den Ländernamen Ukraine, Rußland, Syrien, Irak, Türkei und Libyen.

Erdogan selbst stand natürlich im Mittelpunkt zahlloser Parolen, Banner, Schilder, Bilder und Zeichnungen. "Tayyip, du wirst nicht gewählt, sondern zur Rechenschaft gezogen!" oder "Premierminister, von deinem Geld trieft ebenso das Blut wie von deinen Händen!" waren darunter noch längst nicht die heftigsten Attacken. Viele Äußerungen bezogen sich auch auf den kurz zuvor entlassenen Berater Yusuf Yerkel, der bei einem Besuch in Soma auf einen am Boden liegenden Mann eingetreten hatte, der von Polizisten festgehalten wurde.

So gewaltig war der Zuspruch zu dieser Großveranstaltung, daß der ursprünglich für die Abschlußkundgebung vorgesehene Domplatz unmöglich ausgereicht hätte. Statt dessen verlegte man den Höhepunkt dieses zunehmend sonnigen Nachmittags aus dem Innenstadtbereich in den nordwestlich gelegenen weiträumigen Grüngürtel am Fernsehturm, der sich mit einer unabsehbaren Menschenmenge füllte. Auf einer großen Bühne gestalteten kulturelle Beiträge und Reden verschiedener Parteimitglieder, Organisationen, Menschenrechtsvereine sowie Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein ebenso unterhaltsames wie kämpferisches Programm, das noch längst nicht beendet war, als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den europäischen Nachbarländern Stunden später zu ihren Bussen gerufen wurden.

Bundestagsabgeordnete der Linkspartei bei Rede - Foto: © 2014 by Schattenblick

Sevim Dagdelen auf Abschlußkundgebung
Foto: © 2014 by Schattenblick

Erwähnenswert ist auch, daß Repräsentanten deutscher Parteien mit Redebeiträgen vertreten waren, da man um eines breiten Bündnisses willen die Einladungen weit gefaßt hatte. Dabei ließ es sich Sevim Dagdelen von der Partei Die Linke nicht nehmen, die scheinheilige Lobpreisung von Demokratie und Menschenrechten einiger ihrer deutschen Vorredner aus dem Kreis derselben politischen Kräfte anzuprangern, die hinterrücks mit dem türkischen Sicherheitsapparat zusammenarbeiten.

Menschenmenge vor Bühne - Foto: © 2014 by Schattenblick Menschenmenge vor Bühne - Foto: © 2014 by Schattenblick

Eindrucksvolle Schlußkundgebung
Fotos: © 2014 by Schattenblick


Alevitische Bündnisfähigkeit schafft Aktionseinheit

Fernab der Proteste, auf der anderen Seite des Rheins, feierten mehr als 15.000 Anhänger Erdogans den als "großen Führer" angekündigten Gast in der Lanxess-Arena in einem Meer aus türkischen Fahnen als Nationalhelden und Märtyrer des Glaubens. Man begrüßte ihn mit Sprechchören wie "Die Türkei ist stolz auf dich" und skandierte "Märtyrer Erdogan" oder "Gott ist groß". Auf der Veranstaltung der UETD, die als verlängerter Arm der AKP gilt, geißelte Erdogan seine Kritiker als "terroristische Gruppen", die "Lügen und Intrigen" verbreiteten und "schwarze Propaganda" gegen seine Regierung in Stellung brächten.

Deutsche Medien hätten das Grubenunglück von Soma zur Verunglimpfung seiner Regierung genutzt, und hinter den Protesten gegen das Vorgehen der türkischen Polizei stehe eine Verschwörung des Westens. Erdogan rief erneut zur Integration ohne Assimilation auf und beschloß seine Rede mit dem Rabia-Gruß, einem Symbol der ägyptischen Moslembrüder: Die vierfingrige Hand stehe in der Türkei für "eine Nation, eine Fahne, ein Heimatland und einen Staat". Dieses nationalistische Dogma kommt einer Kriegsansage an die Zehntausenden Aleviten und Kurden gleich, die für die Gleichberechtigung der ethnischen und religiösen Minderheiten auf die Straße gegangen waren. [4]

Die AKP leitete zu Anfang ihrer Regierungszeit Reformen zur Demokratisierung ein, machte den Kurden kulturelle Zugeständnisse und signalisierte eine Annäherung an Armenien. Entgegen seinen früheren Positionen signalisierte Erdogan zunächst eine Annäherung an die EU mit dem Ziel eines baldigen Beitritts. Nachdem er sich auf diese Weise Rückendeckung verschafft hatte, das Militär und die Justiz zurückzudrängen und religiöse Freiheiten zu etablieren, baute er seine Machtbasis aus. Mit dem Wahlsieg der AKP 2007, die nun über die absolute Mehrheit im Parlament verfügte, zeichnete sich eine deutliche Kurskorrektur ab. Erdogan stellte fortan den Völkermord an den Armeniern in Abrede und verschärfte die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten der Aleviten, Kurden, Armenier und Drusen.

Während die deutsche Linke traditionell mit entsprechenden Bewegungen der Kurden sympathisiert und sich auf diesen Konflikt konzentriert, blendet sie die Repression der Aleviten oftmals aus. Diese sehen sich gleichermaßen einer jahrzehntelangen, von Diskriminierung und Verfolgung geprägten Staatspolitik ausgesetzt. Im Mai 2013 rühmte Erdogan in einer Rede zum Todestag Necip Fazil Kisaküreks diesen als einen der wichtigsten Denker seines Landes und Vorbild für alle folgenden Generationen. Kisakürek hatte in einem seiner Bücher dazu aufgerufen, Aleviten, Drusen und Jesiden wie Brennesseln auszureißen und wegzuwerfen. Daß alle acht durch Polizeigewalt getöteten Aktivisten seit Beginn der Gezi-Proteste im Mai 2013 Aleviten waren, wird von vielen Angehörigen der diskriminierten Religionsgemeinschaft nicht als Zufall angesehen.

Großes Banner mit Symbol der AABK - Foto: © 2014 by Schattenblick

Fahne des Dachverbandes Europäische Union der alevitischen Gemeinden (Avrupa Alevi Birlikleri Konfederasyonu - AABK)
Foto: © 2014 by Schattenblick

Erdogan selbst wirft der Alevitischen Gemeinde Deutschland vor, sie habe "eine atheistische Auffassung", womit er sie nach seiner Lesart zum Freiwild erklärt. Wenige Tage vor seinem Auftritt in Köln wurden bei der gewaltsamen Auflösung einer Gedenkkundgebung für einen von der Polizei getöteten Jugendlichen im vor allem von Aleviten bewohnten Istanbuler Arbeiterviertel Okmaydani zwei weitere Menschen getötet. Erdogan rechtfertigte das Vorgehen der Polizei in seiner Kölner Rede als "Antiterroroperation" und drohte, "auch dieses Problem wird gelöst. So oder so." Nur zwei Tage später rückten weit über 1000 Polizisten mit gepanzerten Fahrzeugen, Wasserwerfern, scharfen Waffen und Tränengasgewehren in mehrere Istanbuler Arbeiter- und Armenviertel wie Okmeydani und Gazi Mahallesi ein, in denen widerständige Gruppen hohes Ansehen in der Bevölkerung genießen. Es kam zu Verhaftungen von mindestens 46 Menschen wegen angeblicher Unterstützung verbotener linker Organisationen. [5]

Nach dem von Fälschungsvorwürfen begleiteten Sieg der AKP bei den Kommunalwahlen Ende März hatte Erdogan angekündigt, er werde die Verfolgung jener, die "Chaos stiften" intensivieren. Die jüngsten Angriffe der Polizei sind mithin als strategische Offensive zu sehen, mit radikaleren Teilen der politischen Opposition im Land aufzuräumen. Aktuelle Berichte bestätigen Pläne der Regierung, im Zuge vorgeblicher Stadtsanierung eben jene Viertel Istanbuls komplett niederzureißen und deren Bewohner zu vertreiben, die Erdogan und der AKP den entschiedensten Widerstand entgegensetzen.

Am 17. März 2012 sollte Erdogan in Bochum mit dem Steiger Award "für 50 Jahre deutsch-türkische Freundschaft stellvertretend für das türkische Volk" geehrt werden. Wenngleich er verhindert war, protestierten mehr als 22.000 Menschen, darunter Aleviten, Kurden und Armenier, gegen den türkischen Ministerpräsidenten. In Deutschland lebende Aleviten haben sich auch im vergangenen Jahr nicht nur an die Spitze des Protests gestellt, sondern dabei wiederum ihre Fähigkeit zum integrativen Zusammenschluß der verschiedenen Fraktionen demonstriert. Der Erfolg der Großkundgebung gegen den Erdogan-Besuch am 24. Mai in Köln kommt also nicht von ungefähr: Er ist vielmehr Ausdruck eines langfristigen Bemühens, die Opposition gegen die AKP-Regierung in der Türkei zu unterstützen und zugleich der türkischen Bevölkerung in Deutschland eine Stimme des Widerstands gegen Repression hier wie dort zu geben.

Transparente auf französisch und türkisch - Foto: © 2014 by Schattenblick Transparente auf französisch und türkisch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Alevitische Delegationen aus Frankreich und Britannien
Fotos: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.jungewelt.de/2014/05-26/034.php

[2] http://alevi.com/de/alevitische-gemeinde-deutschland-ruft-zur-grosdemonstration-gegen-erdogan-auf/

[3] http://www.scharf-links.de/168.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=44881&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=902c214355

[4] http://www.jungewelt.de/2014/05-26/001.php

[5] http://www.jungewelt.de/2014/05-27/001.php


8. Juni 2014