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BERICHT/200: Armut, Pott - und viele Köche ... (SB)


Die Krise bleibt Wegbegleiter profitgetriebener Wachstumslogik

"Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!" - Konferenz am 12. Juni 2015 in Bochum


Armut bleibt das Damoklesschwert im Nacken der Bewohner des Ruhrgebiets, das wie kein anderer deutscher Ballungsraum die immanente Krisenhaftigkeit der profitgetriebenen Wachstumslogik in aller Deutlichkeit widerspiegelt. An der Geschichte dieser Region läßt sich ablesen, wie die Konkurrenz der Kapitale die massenhafte Verwertung menschlicher Arbeitskraft vorantreibt, diese zunehmend durch Effizienzsteigerung der Technologie ersetzt und so das Fundament der produktiven Wertschöpfung untergräbt. Die Wellen von Aufschwung und Niedergang seit Beginn der Industrialisierung trafen nie alle gesellschaftlichen Klassen gleichermaßen: Während die Herren der Gruben, Verhüttung und Bankhäuser Einfluß und Vermögen in Boom- wie Krisenzeiten zu vermehren wußten, kämpfte die wachsende Heerschar der Besitzlosen um die mehr oder minder unzureichende Reproduktion ihrer Arbeitskraft.

Das Versprechen auf Fortschritt und Wohlstand erwies sich durchweg als brüchig, wechselten doch Phasen relativer Besserung der Lebensverhältnisse mit einem weitgehenden Verlust vermeintlich unveräußerlicher Existenzsicherung. Was als Errungenschaft von Arbeits- und Sozialkämpfen wie eine festgefügte Stufe auf dem Weg in ein zuträglicheres Dasein anmuten mochte, nahm stets aufs Neue den Charakter einer Spaltung des Widerstands und Befriedung des Aufbegehrens an. Blieben die gesellschaftlichen Besitzstände und Herrschaftsverhältnisse ihrem Wesen nach unangetastet, kehrte das Schreckgespenst der Armut unvermeidlich zurück.


Fürsorge ist die Schwester der Ausbeutung

Zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Lage der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet katastrophal. Kinder im Alter ab neun Jahren schufteten bis zu zehn Stunden täglich als Schlepper in den Bergwerken. Von einem angemessenen Lohn konnte keine Rede sein, die soziale Absicherung war ungenügend oder gar nicht vorhanden. Nur wenige Unternehmer sahen sich zu einer gewissen Milderung dieser Notlage veranlaßt: So wurde bei Krupp eine Betriebskrankenkasse eingerichtet, die Gutehoffnungshütte folgte mit einer Werkssparkasse. Zugleich wurden den Arbeitern jedoch elementare Erfordernisse wie gesunde Wohnungen, erschwingliche Nahrungsmittel und Bildung verweigert. [1]

Wenngleich die Errichtung von Werkssiedlungen als ein Element sozialer Fürsorge ausgewiesen wurde, ging es dabei doch vor allem um eine Bindung der Arbeiter an das Unternehmen. Der billige Wohnraum wurde bevorzugt an Vorarbeiter und Meister vergeben, was die Spaltung der Arbeiterschaft vertiefte. Jugendliche wurden in Wohnunterkünften kaserniert, wo sie leichter zu kontrollieren waren und von Gewerkschaften ferngehalten werden konnten. Neben Fabriken entstanden zunehmend Wohnkolonien, in denen möglichst viele Arbeiter auf möglichst wenig Raum untergebracht wurden. Bei Krupp wurde die 1836 eingerichtete Krankenkasse 1856 zur Pflichtkasse für alle Arbeiter. Auch richtete das Unternehmen 1853 die "Consum-Bäckerei" ein, um die Beschäftigten mit Lebensmitteln zu versorgen. Diese Fürsorge vergrößerte jedoch die Abhängigkeit, da Wohlverhalten als Gegenleistung erwartet wurde und die Arbeiter andernfalls neben ihrem Arbeitsplatz auch die Wohnung verloren.

Die sozialen Probleme der Industriearbeiterschaft kulminierten während der Märzrevolution 1848 in die Forderung nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, es kam zu Streiks für Arbeitszeitverkürzungen. Das Scheitern der Märzrevolution traf insbesondere die Arbeiter hart, etablierte die Verfassung vom Dezember 1849 doch die neue Klasse des Bürgertums und führte zur Durchsetzung forcierter Industrialisierung. Als die Wirtschaftskrise von 1857 Absatzschwierigkeiten für Kohle und Stahl hervorrief, waren die Beschäftigten gravierend betroffen. Aufgrund fallender Kohlepreise und gleichzeitig sinkender Eisenpreise in England stagnierte der Bergbau des Ruhrgebiets, mußten Hochöfen schließen.

Als sich der preußische Staat 1861 aus der Verwaltung der Kohlegruben zurückzog, verlor der Bergmann den Status eines preußischen Beamten, der mit gewissen ständischen Privilegien verbunden war. Fortan mußte er seinen Arbeitsvertrag direkt mit dem Unternehmer aushandeln und sank auf das Niveau eines Industriearbeiters herab. Der Rückzug des Staates aus der Aufsicht über die Gruben führte zu Überproduktion und Konkurrenzdruck, ab 1865 kam es zur Stillegung älterer Zechen im Ruhrtal. Die Krise löste erste Massenentlassungen und eine Verelendung der Bergleute aus, da die Löhne gekürzt und die Arbeitszeiten verlängert wurden.

Unterdessen ließ der Industrielle Alfred Krupp 1869 im Essener Süden die schloßartige Villa Hügel errichten, deren Bau vier Jahre dauern sollte. Im Grundbuch der Stadt wurde das prächtige Anwesen als Einfamilienhaus mit Garten eintragen.


Wachstumsmotor imperialistische Expansion

Eine Antwort auf die innere Krise der Kapitalakkumulation bot die imperialistische Expansion, die in den Krieg gegen Frankreich 1870/71 mündete. Der Sieg verschaffte Deutschland den Zugriff auf die Erzvorkommen Lothringens, die zusammen mit frischem Geldkapital aus den französischen Kontributionszahlungen die Unternehmen des Ruhrbergbaus befeuerten. In diesen ebenso euphorischen wie kurzen Gründerjahren erhitzte sich die Konjunktur, wurden bestehende Industrieimperien ausgebaut und neue gegründet.

Nun verlangte auch die Arbeiterschaft einen Anteil am Zugewinn, und so kam es vom 17. Juni bis 28. Juli 1872 zum ersten großen Bergarbeiterstreik, an dem sich etwa 20.500 Bergleute beteiligten und der fast alle Städte des Ruhrgebiets erfaßte. Die Streikenden forderten unter anderem eine 25prozentige Erhöhung der Gedingesätze, Mindestlohn, achtstündige Schicht inklusive Ein- und Ausfahrt sowie den Bezug verbilligter Kohle zur Heizung der Wohnungen. Die Unternehmer blieben jedoch hart, und da die Streikkassen nach einem Monat leer waren, wurde der Arbeitskampf ohne Ergebnis abgebrochen. Daraufhin versuchten die Bergleute, einen Verband zu gründen, der ihre Interessen wahrnehmen sollte, doch fand sich dafür vorerst keine Unterstützung auf breiterer Basis.

Die Gründerkrise von 1873, ausgelöst durch eine platzende Spekulationsblase deutscher Anleger, stürzte die Wirtschaft im Ruhrgebiet nach der zwischenzeitlichen Scheinblüte in die nächste Rezession. Die Stahlproduktion nahm um 13 Prozent ab, und als die Stahlarbeiter bei Hoesch in Dortmund um den 10. April 1874 eine Reduzierung der täglichen Arbeitszeit erstreiken wollten, war eine Massenentlassung die Folge. Nachdem sich die Gewinne der Unternehmen wieder stabilisiert hatten, forderte die Arbeiterschaft erneut einen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung. 1889 breitete sich von Bochum ein großer Bergarbeiterstreik auf das gesamte Ruhrgebiet aus, und noch im selben Jahr wurde mit dem "Alten Verband" in Dorstfeld die erste dauerhafte Bergarbeitergewerkschaft gegründet.

Wenngleich die Arbeiterbewegung bis in die 1890er Jahre vom Staat unterdrückt wurde und das Sozialistengesetz offene politische Aktivitäten verhinderte, hatte sich die Arbeiterschaft inzwischen gut organisiert. Sie fand eine Nische in Gesangs- und Sportvereinen, die einerseits die Lebensweise des Bürgertums kopierten, andererseits aber auch politische Aktivitäten tarnten und eine sozialistische Subkultur schufen. Unterdessen hatte die Arbeit unter Tage trotz mancher technischen Verbesserungen nichts von ihren Schrecken verloren. Je schneller die Kohle gefördert wurde, desto mehr drohten Grubenunglücke, vor allem aufgrund von "schlagenden Wettern". Soziale Reparaturen der Arbeitsverhältnisse änderten nichts an dem geringen Lohn, dem ungenügenden Wohnraum, den schlechten hygienischen Bedingungen und der eingeschränkten Organisationsfreiheit.

Hatte sich die Bevölkerung des Ruhrgebiets bis 1870 verzehnfacht, so kamen bis 1914 weitere 700.000 Zuwanderer hinzu. Der sprunghaft gestiegene Bedarf an Industriearbeitern wurde durch Polen, Masuren und Schlesier gedeckt, die mit Werbekampagnen ins Ruhrgebiet gelockt wurden. Da sie aus überwiegend ländlichen Gebieten stammten, fanden sie sich schwer in die ihnen fremde Industrielandschaft ein. Meist wohnten sie landsmannschaftlich getrennt in ghettoähnlichen Arbeitersiedlungen. Dort waren die Familien auf engstem Raum zusammengepfercht und teilen oft das Zimmer mit Schlafgängern.

Mit einem ruhrgebietsweiten Streik erkämpften die Bergleute 1905 eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf 8,5 Stunden. Als ein Bergarbeiterstreik 1912 das gesamte Ruhrgebiet lähmte, ließ Kaiser Wilhelm das Militär aufmarschieren.


Weltkrieg statt Klassenkampf?

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellten Gewerkschaften und Sozialdemokraten den sozialen Kampf aus vaterländischen Gründen ein. Die proklamierte Vereinigung der Proletarier aller Länder wurde von Soldatenstiefeln in den Schlamm nationalstaatlicher Konkurrenz getreten. Als Kanonenfutter zog man auch Arbeiter aus dem Ruhrgebiet ein, die Bergleute und Hüttenwerker fehlten in der Produktion, die um mehr als die Hälfte zurückging. Um die Produktionsverluste aufzufangen, wurden ab 1915 Frauen in fast allen Bereichen eingesetzt. Später kamen noch Kriegsgefangene aus Holland und Belgien hinzu, die unter Tage eingesetzt wurden. Während der enorme Waffenbedarf des Stellungskrieges die Gewinne der Unternehmen ins Unermeßliche steigen ließ, lebten immer mehr Menschen im Elend. Im Hungerwinter 1916/17 war die Lebensmittelversorgung im Kaiserreich katastrophal, worunter insbesondere die Menschen im Ballungsraum des Ruhrgebiets litten.

Nachdem es bereits im Spätwinter 1916/17 und in der ersten Hälfte des Jahres 1918 zu Streiks gekommen war, erfaßte die Novemberrevolution ausgehend von einem Matrosenaufstand in Wilhelmshaven und Kiel bald das Ruhrgebiet. Am 8. November 1918 bilden sich die ersten Arbeiter- und Soldatenräte, die unter anderem die Forderung nach Verstaatlichung der Montanindustrie erhoben. Am 19. Januar 1919 gründeten Spitzen der deutschen Industrie-, Handels- und Bankwelt den Antibolschewistenfonds der deutschen Unternehmerschaft in Berlin. Als die Herrschaft der Räte an der Ruhr im Frühjahr 1919 endete, waren die Vertreter des gemäßigten Flügels mit dem ersten Manteltarifvertrag für das Ruhrrevier zufriedengestellt. Die linken Parteien und die Mehrheit der Arbeiter hatten hingegen ihr Ziel verfehlt, war doch die Sozialisierung der Betriebe nicht erreicht worden. Im März 1920 setzte die Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet all ihre Kräfte ein, um das Gelingen des Kapp-Putsches zu verhindern. In Mengede und Ickern wurden erste Arbeiterbataillone für den Ruhrkampf aufgestellt, wobei sich die Rote Ruhrarmee vor allem aus Anhängern der KPD, der USPD und Syndikalisten zusammensetzte.

Für die Ruhrindustrie hatte sich nach dem Krieg die ökonomische Situation erheblich verändert. Abgeschnitten von den Rohstoffbasen in Lothringen und Oberschlesien hatte sie über 80 Prozent der nationalen Erzreserven verloren. Zudem war sie von den internationalen Märkten abgeschnitten, und das Militär als wichtigster Auftraggeber fiel durch den Versailler Friedensvertrag weg. Die Rüstungsindustrie brach zusammen, große Teile der Belegschaft wurden entlassen. Allein Krupp reduzierte in kurzer Zeit die Zahl der Beschäftigten um etwa 100.000 auf ein Drittel.


Konkurrenzvorteil Kapitalkonzentration

Nachdem imperialistische Expansion und Rüstungsproduktion vorerst als Strategien zur Sicherung und Steigerung der Kapitalakkumulation nicht mehr zu Gebote standen, drängten die deutschen Montanunternehmen nun zur Bildung von Großkonzernen. Um die Krise zu überwinden und die internationale Konkurrenzfähigkeit wiederherzustellen, bildete Hugo Stinnes, einer der einflußreichsten Konzernverwalter, die "Rhein-Elbe-Union", geschmiedet aus der Gelsenkirchener Bergwerks AG, der Deutsch-Lux, dem Bochumer Verein sowie dem größten deutschen Elektrokonzern, der Siemens-Schuckert AG. So befanden sich 1921 bereits 82 Prozent der Produktion im Ruhrrevier in der Hand von nur zwölf Konzernen.

Flankiert wurde diese Tendenz zur Herausbildung industriellen Monopolkapitals durch soziale Befriedungsprogramme der sozialdemokratischen Reichsregierung, die mit Subventionen, Lohnerhöhungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versuchte, die Unruhen in den Griff zu bekommen. Finanziert wurde dies auf dem Wege der Geldvermehrung, die wiederum die Inflation forcierte, unter der die ärmeren Bevölkerungsteile am schwersten zu leiden hatten.

Am 3. Mai 1926 kam es zu einem zweiten Schub industrieller Konzentration im Ruhrgebiet, als Rhein-Elbe-Union, Phoenix, Rheinische Stahlwerke und der Thyssen-Konzern zu den "Vereinigten Stahlwerken" (VST) fusionierten, dem größten Montankonzern Europas. Dieser vereinigte 20 Prozent der Kohleförderung und 42 Prozent der Roheisenproduktion im Ruhrgebiet auf sich. Mit der "Vereinigten Elektrizitäts- und Bergwerks AG" (VEBA) entstand 1929 ein weiterer neuer Großkonzern, der gleichermaßen einen Rationalisierungsschub großen Stils möglich machte. Auf diese Weise erlangte die Industrie an der Ruhr rasch wieder einen technischen und wirtschaftlichen Stand, der Ende der 1920er Jahre der Konkurrenz in Frankreich und England überlegen war.

Der vor allem durch US-amerikanische Kredite gestützte und exportorientierte Aufschwung fand ein jähes Ende, als am 25. Oktober 1929 die New Yorker Börse zusammenbrach und die Weltwirtschaftskrise einsetzte. Im Januar 1931 kam es bei Tarifverhandlungen im Bergbau zu Streiks und Aussperrungen. Unter dem Druck der Krise und mittels der Notverordnungen der Reichsregierungen wurden die in den 1920er Jahren erkämpften Rechte und höheren Löhne wieder zurückgeschraubt. Bis zum Sommer 1932 wurde mehr als die Hälfte der Produktionskapazitäten im Bergbau und der Eisenhüttenindustrie des Ruhrgebiets vernichtet, die Arbeitslosenquote lag über 31 Prozent. Das Elend der Arbeiterschaft verschärfte die politische und soziale Auseinandersetzung, die politischen Strömungen polarisierten sich. Der Industrielle Friedrich Flick rettete sein Vermögen durch ein Geschäft mit Angehörigen der Reichsregierung, was als Gelsenberg-Affäre bekannt wurde.


Ruhrindustrielle finanzieren die Machtergreifung

Angesichts der aufbrechenden gesellschaftlichen Widersprüche setzte das Kapital nun auf die repressivsten politischen Kräfte im Land. Nachdem Hitler als Emporkömmling aus einem anderen Stand zunächst kein hohes Ansehen unter den konservativen Industriellen an der Ruhr genossen hatte, änderte sich diese Haltung angesichts der Krise grundlegend. Als er am 27. Januar 1932 vor dem Düsseldorfer Industrieclub sprach, unterstützten Leitfiguren wie Fritz Thyssen, Albert Vögler und Emil Kirdorf nun offen die NSDAP. Die Ruhrindustriellen trugen finanziell zur Machtergreifung bei, da sie der internationale Konkurrenzkampf zu Verbündeten machte.

Fortan wurden gewaltige staatliche Subventionen in öffentliche Baumaßnahmen umgesetzt, die Rüstungsindustrie avancierte zum Motor der Konjunktur. Diese brach bis 1937 alle Rekorde der Hochkonjunktur Mitte der 1920er Jahre, allein die Stahlproduktion stieg um 400 Prozent. Da die Arbeitslosigkeit im Ruhrrevier rasch verschwand, stieß die Zerschlagung der Arbeiterbewegung auf keinen substantiellen Widerstand. Die immensen Kosten für die Subventionspolitik blieben jedoch Kredite auf die Zukunft, da kein volkswirtschaftlicher Gegenwert geschaffen wurde. Krieg und Eroberung sollten später den Zugriff der deutschen Wirtschaft auf andere Regionen und Ressourcen erzwingen.

Wiederum war es die Bevölkerung des Ruhrgebiets, die einen hohen Preis zu zahlen hatte. Im Zweiten Weltkrieg zerstörten alliierte Luftangriffe 1943 in einigen Städten wie Dortmund und Duisburg die Wohnbebauung zu mehr als 65 Prozent, Tausende Menschen verloren ihr Leben. Die Innenstadtbereiche entlang der Hellwegzone lagen nahezu vollständig in Trümmern. Als am 18. Mai die Möhnetalsperre von der britischen Luftwaffe bombardiert wurde, raste eine Flutwelle die Täler von Möhne und Ruhr hinab, in der über 1000 Menschen umkamen. Noch kurz vor Ende des Krieges forderte der Ruhrkessel etwa 105.000 Tote. Der Hungerwinter 1946/47 traf die Bevölkerung der Region besonders hart und löste massenhafte Hamsterfahrten zu den bäuerlichen Regionen des Umlands aus.

Im Januar 1948 kam es in den Ruhrgebietsstädten immer wieder zu Streiks der Arbeiter, allein in Essen traten 50.000 Menschen in den Ausstand, um auf die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln aufmerksam zu machen. Wenngleich mit der Währungsreform im Juni das zuvor vielfach gehortete Warenangebot wieder zugänglich wurde, hatten gerade die ärmsten Haushalte durch die Abwertung des Geldvermögens die Hauptlast der Kriegskosten zu tragen. Das Ruhrstatut vom 28. April 1949 regelte die Kontrolle der Kohle- und Stahlproduktion durch die Internationale Ruhrbehörde. Am 13. Juni 1949 gingen belgische Soldaten gegen deutsche Arbeiter vor, die mit Barrikaden die Demontage eines Hydrierwerks verhindern wollten.


Letzte Scheinblüte der Montanindustrie

In den 1950er Jahren nahm die Kohleförderung einen rasanten Aufschwung. Die 7,5-Stunden-Schicht für Bergarbeiter unter Tage wurde 1953 eingeführt, 1956 erreichte die Produktion mit 124,6 Millionen Jahrestonnen und 494.000 Kumpeln im Ruhrbergbau ihren Höhepunkt. Im folgenden Jahr startete der Unternehmensverband Ruhrbergbau eine Kampagne zur Anwerbung von Arbeitskräften in ländlichen Regionen Italiens. Wiederum war die Boomphase nur von kurzer Dauer. Die Öffnung der Kohlemärkte und andere Energieträger wie Erdöl und Erdgas ließen die Energiepreise sinken. Das Ruhrgebiet stürzte ab 1958 in die Montankrise, innerhalb eines Jahrzehnts schrumpfte die Zahl der Zechen und der Beschäftigten um die Hälfte. [2]

Zeitversetzt, aber nicht minder gravierend, erfolgte der Niedergang der Stahlindustrie. Sie geriet durch internationale Konkurrenz in den 1970er Jahren in die Krise, 1982 kam es zu revierweiten Protesten der Arbeiter gegen die Schließungs- und Entlassungspläne der Unternehmen. Als 1987 die Hattinger Henrichshütte Thyssens und 1988/89 die Friedrich-Alfred-Hütte Krupps in Duisburg-Rheinhausen schließen sollten, gingen die Belegschaften und Bürger dieser Städte auf die Straße. Einer der größten Arbeitskämpfe in der Geschichte des Ruhrgebiets führte zum vorübergehenden Erhalt von Teilen der Werke und Arbeitsplätze, doch blieb dies nur ein kurzfristiger Erfolg.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember 1994 kippte den Jahrhundertvertrag. Der Kohlepfennig, der auf den Strompreis aufgeschlagen wurde, um die Verstromung der teureren deutschen Kohle zu finanzieren, wurde abgeschafft. Hochsubventioniert wanderte bis dahin ein guter Teil der Kohle aus dem Saarland und von der Ruhr in die Kraftwerke. Die Reduzierung der Zuschüsse bedeutet das Aus für etwa die Hälfte der Zechen in Deutschland. Weitere Rationalisierungspotentiale waren nicht vorhanden, die sozialen Folgen ließen sich nicht länger kaschieren oder gar eindämmen.

Auch die als Alternative in die Region geholte Autoindustrie war nicht von Dauer. 1999 wollte die Adam Opel AG auch in Bochum mehrere tausend Arbeitsplätze abbauen. Ein Streik der Belegschaft gegen den Willen der IG Metall und gegen ihren eigenen Betriebsrat legte die europäische Produktion für kurze Zeit still. Am 19. Oktober versammelten sich auf dem Platz am Schauspielhaus 25.000 Menschen zu einer spontanen Solidaritätskundgebung.

Im Jahr 2005 erfolgte die Einführung von Hartz IV, wovon fast eine Million Menschen im Ruhrgebiet betroffen waren. Das Nokia-Werk Bochum wurde 2008 geschlossen, dabei gingen etwa 1700 Arbeitsplätze verloren. Bedingt durch die Finanzkrise mußte General Motors im Februar 2009 Insolvenz anmelden, auch Opel war von der Zahlungsunfähigkeit des Konzerns betroffen. Zeitweilig stand eine sofortige Schließung des Bochumer Standorts im Raum, worauf der Widerstand gegen diese Pläne den vorläufigen Erhalt der Werke im Ruhrgebiet erzwang.


Zauberwort Strukturwandel - Ein leeres Versprechen

Nachdem mit der Montanindustrie die produktive Basis des Ruhrgebiets weitgehend untergegangen war, avancierte der vielbeschworene Strukturwandel zum neuen Zauberwort. Sanierte Umwelt, verbesserte Infrastruktur, innovative Technologie, ausgebaute Dienstleistungen und nicht zuletzt Bildung und Kultur sollten den düsteren Ballungsraum in ein Schmuckstück neuer Erwerbsmöglichkeiten und Lebensqualität verwandeln. Daß dieser Entwurf lediglich einer wohlhabenderen Minderheit zugute kommen konnte und für die Mehrzahl der Menschen bloße Fiktion bleiben mußte, liegt auf der Hand. Die ungebrochene Dynamik der Kapitalakkumulation entwertet menschliche Arbeitskraft und entledigt sich ihrer, sichert ihren eigenen Fortbestand in Gestalt des Finanzkapitals, operiert mit monetären Besitzansprüchen und Schuldtiteln, deren Summe die produzierten Güter der gesamten Menschheit um ein Vielfaches übertrifft.

Heruntergebrochen auf die Situation im Ruhrgebiet bedeutet dies, daß sich massenhaft vernichtete Arbeitsplätze, die ein Auskommen zahlloser Menschen ermöglicht hatten, nur durch ebenso viele entsprechend dotierte Erwerbsmöglichkeiten dauerhaft kompensieren ließen. Genau das ist jedoch nicht der Fall. So begrüßenswert ein blauer Himmel über der Region, Grüngürtel und Parks, moderne öffentliche Verkehrsmittel, Kultureinrichtungen und Festivals, Bildungs- und Forschungsstätten, sanierter Wohnraum und notfalls sogar Einkaufszentren für sich genommen sein mögen, können Konsum, Freizeit und Tourismus doch die unzulängliche produktive Grundlage, die fehlenden Arbeitsplätze und die geminderten Erwerbseinkünfte nicht wettmachen.

Als im Dezember 1994 in der Essener Grugahalle ein EU-Gipfel abgehalten wurde, befaßte sich der Europäische Rat insbesondere mit Entwürfen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Förderung der Chancengleichheit in der Europäischen Union. Daß Ort und Thema des damaligen Gipfels mit Bedacht gewählt waren, seine Ergebnisse jedoch auf ganzer Linie zu wünschen übrigließen, zeigt gut zwei Jahrzehnte später die dramatische Situation in der Region: Im Ruhrgebiet ist die Armutsquote schon seit langem überdurchschnittlich hoch und sie breitet sich heute mehr als doppelt so schnell wie im Bundesdurchschnitt aus.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] http://www.route-industriekultur.de/fakten-hintergruende/geschichte-und-kultur/geschichte-des-ruhrgebietes.html

[2] http://www.metropoleruhr.de/land-leute/daten-fakten/geschichte.html

30. Juni 2015


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