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BERICHT/259: Übergangskritik - Besinnung auf soziale Tugenden ... (SB)


... im Kampf um eine humane Sorgearbeit

"UmCare. Feministische Ansätze der Krise der Reproduktion" am 4. März 2017 in Berlin


Wenn von der gesamten gesellschaftlichen Erwerbsarbeit fast ein Drittel der dafür aufgewendeten Zeit auf den Bereich der Sorgearbeit entfällt, dann kann über die Krise des Kapitalismus nicht gesprochen werden, ohne diesem Sektor ausführlich Beachtung zu schenken. Bezahlte Haus- und Pflegearbeit repräsentiert jedoch nur einen Teil der zum Erhalt einer Gesellschaft notwendigen Tätigkeiten. Auch außerhalb lohnförmiger Beziehungen werden beträchtliche Leistungen erbracht, die nicht nur dem privaten Wohlbefinden dienen, sondern ohne die der produktive Sektor kapitalistischer Gütererzeugung kollabierte. Was im Endeffekt in der abstrakten Ziffer des Bruttoinlandsproduktes als gesellschaftlicher Reichtum bilanziert wird, fußt in großem Ausmaß auf kostenlos erbrachten Dienstleistungen in der Familie, im Bereich der Nachbarschaftshilfe oder ehrenamtlicher Tätigkeiten in der sozialen Arbeit, beim Natur- und Umweltschutz wie in der kommunalen Selbstorganisation.

Die Hälfte der von Frauen in der EU verrichteten Arbeit findet im Care-Sektor statt, rund 80 Prozent der weiblichen Lebensarbeitszeit werden mit bezahlter wie unbezahlter Sorgearbeit verbracht. Dieses Ergebnis des systematisch von Staat und Kapital betriebenen Versuches, die Kapitalakkumulation von Reproduktionskosten freizuhalten, wurde auch durch die progressive Forderung möglich gemacht, Frauen aus der unbezahlten Sorgearbeit und der Subordination unter den männlichen Ernährer der Familie zu befreien und ihre Arbeitskraft lohnförmig zu verwerten. Nach wie vor profitiert der patriarchalisch organisierte Industrie- und Finanzkapitalismus in erheblichem Ausmaß von Gratisarbeit oder gering entlohnten Tätigkeiten im Dienstleistungssektor, die zum größten Teil von Frauen verrichtet werden.

Deren Doppel- und Dreifachbelastung durch die heute typische Kombination aus prekärer Beschäftigung im Dienstleistungssektor und einer Subsistenzarbeit, in der der Lebenserhalt der eigenen Person wie der Kinder weiterhin kapitalistischen Verhältnissen unterworfen bleibt, ohne jedoch an diesen auf angemessene Weise teilzuhaben, bietet allen Anlaß dazu, sich auf widerständige Weise zusammenzuschließen. Die in den letzten Jahren verstärkt erfolgte Thematisierung der Sorgearbeit etwa im Rahmen des Netzwerkes Care Revolution und die feministische Debatte zu Fragen der sozialen Reproduktion sind Zeichen eines Aufbruches, der über die Frauen in den westliche Metropolengesellschaften hinaus auch die weibliche Bevölkerung des Globalen Südens betrifft, deren Ausbeutung schon vor der Dauerkrise des Spätkapitalismus, aber unter den Bedingungen stagnierenden Wachstums um so mehr Formen frühkapitalistischer Barbarei angenommen hat.

Trauer "am Sterbebett des Kapitalismus" ist denn auch kontraindiziert, selbst wenn das eigene Leben von der relativen Funktionsfähigkeit des warenproduzierenden Systems abhängt. Die Antwort auf die Frage, wer genau das Subjekt dieser Krise ist, liegt im Sinne dessen, daß es in der politischen Debatte stets um Menschen und ihre Lebensverhältnisse geht, zweifellos auf der Hand. Allzu leicht entschwindet sie jedoch im Numinosen programmatischer Kontingenz. Werden die gesellschaftlichen Konflikte, die sich gerade im Bereich der sozialen Reproduktion in den Himmel türmen, auch noch so detailliert ausdifferenziert, bleibt die Bestimmung der konkreten sozialen Antagonismen, Klassenwidersprüche und Gewaltverhältnisse unentbehrlich, um in dieser Auseinandersetzung eine verbindliche Position zu beziehen.


Podium 'UmCare. Feministische Ansätze der Krise der Reproduktion' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Julia Dück, Alexandra Wischnewski, Katharina Hajek
Foto: © 2017 by Schattenblick

Problemaufriß der Krise der sozialen Reproduktion

"UmCare. Feministische Ansätze der Krise der Reproduktion" lautete der Titel eines Podiums auf der Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Vereins Helle Panke in Berlin, die diesen Sterbevorgang wohlweislich mit einem Fragezeichen versah. Die Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen Julia Dück und Katharina Hajek präsentierten ihre Überlegungen zum Thema unter der Moderation von Alexandra Wischnewski, Referentin für feministische Politik in der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke.

Um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, holte Julia Dück in ihrem Impulsreferat weit aus und beleuchtete die verschiedenen Ansätze der linken Debatte unter dem Gesichtspunkt der Frage, wie die Krise der sozialen Reproduktion im allgemeinen Krisenszenario kapitalistischer Entwicklung zu verorten ist. So deutet die Arbeits- und Geschlechterforschung die Krise der Reproduktion als fordistische Erosionskrise, die zu keiner tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation geführt habe, sondern als andauernder Krisenverlauf die Reproduktion der Gesellschaft permanent in Frage stelle. Die neuere feministische Ökonomiekritik wiederum verenge den Blick auf lohnförmig organisierte Reproduktionsbereiche vor allem des Pflege- und Gesundheitswesens, was in einem ökonomisch bestimmten Krisenbegriff resultiere, der im Rahmen der Krise der Akkumulation zwar die Logik der Kostensenkung erklären könne, aber davon abweichende Kapitalinteressen ausblende.

Für Dück entspringt die Veränderung der sozialen Reproduktion vom Fordismus, in dem massenhaft kostenlos oder sozialstaatlich erbrachte Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit in das gesellschaftliche Gesamtprodukt eingespeist wurde, zum Postfordismus, in dem diese Arbeiten zusehends unter prekären Bedingungen marktförmig organisiert werden, eben nicht nur dem neoliberalen Primat, die soziale Konkurrenz durch Entwertungs- und Prekarisierungsprozesse anzuheizen. Zu der Entwicklung, die nach wie vor zum größten Teil von Frauen verrichtete Sorgearbeit unter Niedriglohnbedingungen zu kommodifizieren, also als Ware Arbeitskraft verwertbar zu machen, habe auch die feministischer Kritik an Familie, Ehe, Sozialstaat und der Rolle der Hausfrau wie auch die Pluralisierung der Familienverhältnisse und der Abbau der Sozialstaatlichkeit beigetragen.

So hat die Forderung eines großen Teils der Frauenbewegung der 1970er Jahre, die bis dahin zur Reproduktion der gesellschaftlichen Arbeit kostenlos erbrachten Dienstleistungen in Wert zu setzen, damit sichtbar zu machen und zur Gleichstellung der Frau beizutragen, durchaus widersprüchliche Ergebnisse gezeitigt. Während Frauen neue Möglichkeiten eröffnet wurden, Erwerbsarbeit unter allerdings bis heute nicht gleichgestellter Entlohnung zu verrichten, mußten sie sich auch einer unverändert patriarchal bestimmten Produktionsweise unterwerfen. An der Benachteiligung doppelter Belastung, zum einen Lohnarbeit verrichten zu müssen, aber dennoch nicht der Sorgearbeit entledigt zu sein, hat sich für viele Frauen nichts verändert. Es ist kein Zufall, daß ein Leben als alleinerziehende Mutter bis heute eine der sozial prekärsten Existenzformen in dieser Gesellschaft ist.

Julia Dück plädiert denn auch dafür, die soziale Reproduktion im Zusammenspiel von politischen, ökonomischen und ideologischen Faktoren in den Blick zu nehmen und nicht auf den Wert der Arbeitskraft zu reduzieren. Um den Begriff der sozialen Reproduktion für Krisenprozesse fruchtbar zu machen, brachte die Referentin die Infragestellung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit und ihrer generativen Reproduktion durch die Erschöpfung der Subjekte zur Sprache. Manifest werde die Krise der physischen und generativen Reproduktion der Arbeitskraft auch in angespannten Verhältnissen in Familien und Partnerschaften, im Anstieg der Scheidungsraten, dem Rückgang von Geburten und dem vermehrten Auftreten von Burn-Out-Symptomatiken, Depressionen oder Krankmeldungen.

Dementsprechend belastet ist auch die psychische und emotionale Reproduktion der Arbeitskraft, auf deren geschlechtspezifischen Charakter die Referentin näher einging. So konstatiere die kritische Männlichkeitsforschung eine Krise der Männlichkeit durch die Prekarisierung männlicher Erwerbsbiografien, die Infragestellung der männlichen Ernährerrolle, durch neu entstandene Ansprüche an die Gestaltung der Vaterrolle bei gleichzeitiger Abkehr vom Primat männlicher Erwerbsarbeit wie durch Gesundheitsprobleme, die sich in Reaktion auf die zunehmende Arbeits- und Zeitverdichtung häufen. Während das fordistische Männerbild des lohnarbeitenden Familienvaters zusehends verschwinde, sei das neoliberale Männerbild des selbstoptimierten, eigenverantwortlich agierenden Managertypus für viele Männer in prekären Arbeitsverhältnissen nicht erreichbar.

Tritt die Infragestellung der hegemonialen Männlichkeit für das angeblich "starke Geschlecht" vor allem im Verlust vertrauter Dominanzpositionen in Erscheinung, so wird Weiblichkeit im Neoliberalismus zum Teil sogar aufgewertet. Die weibliche Repräsentation in der Öffentlichkeit hat deutlich zugenommen und weibliche Soft Skills wie das Steuern durch Teamfähigkeit, Empathie und emotionale Kompetenz sind Aktivposten neoliberalen Managements. Daß demnach keine zur Krise der Männlichkeit vergleichbare Krise der Weiblichkeit stattfinde, täusche jedoch. Die Erschöpfung der Subjekte treffe vermehrt auf Frauen zu, sie seien weiterhin Doppel- und Dreifachbelastungen ausgesetzt und müßten damit auch mehr Widersprüche der neoliberalen Lebensweise aushalten.

Wenn es nicht gelingt, die durch Qualifikation anwachsenden Belastungen der erwerbsarbeitenden Bevölkerung mit Hilfe der Familie, der Sexualität und Generativitätsverhältnisse zu regulieren, dann wachse die Krise der sozialen Reproduktion zu einer Krise ihrer politischen Regulierung aus. Zwar habe eine Pluralisierung der sexuellen, familiären und partnerschaftlichen Beziehungen stattgefunden, doch scheinen die Ergebnisse dieser Entwicklung Teile der Bevölkerung in die Arme rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen zu treiben. Der von dort ausgehende Kampf gegen Frühsexualisierung der Kinder in Schulen, gegen feministische und genderpolitische Konzepte gehe mit einer Retraditionalisierung der Familienverhältnisse Hand in Hand. Die Hegemonie der flexiblen Familie, der Divergenz von Sexualitäten und der Orientierung auf karrierekompatible Reproduktionsverhältnisse im herrschenden Block sei dadurch in Frage gestellt.

Zwar seien subjektive Krisenerfahrungen nicht notwendigerweise gesamtgesellschaftlich zu verallgemeinern, weil derartige Verwerfungen kapitalistischen Verhältnissen seit jeher immanent sind. Doch die Krisen der Erschöpfung könnten sich zuspitzen, wenn sie Ausgangspunkt von Kämpfen werden oder zu einer Infragestellung der hegemonialen Denk-, Fühl- und Handlungsweisen führen, um schlußendlich in eine Krise der Produktivität umzuschlagen. Wenn die Entwicklung der psychischen und emotionalen Reproduktion, der vergeschlechtlichten Lebensweise und Subjektivität, hegemoniale Lebens- und Seinsweisen in Frage stellen, dann rufe dies immer auch die Notwendigkeit einer neuen Regulierung auf den Plan.


Im Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Julia Dück
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bewältigungsstrategien kollektiver Art

Einige der von Julia Dück angeführten Beispiele, mit Hilfe derer die auch durch das Anwachsen von Frauenerwerbsarbeit entstandenen Reproduktionslücken in den Privathaushalten wieder geschlossen werden könnten, lassen vor allem die Bereitschaft erkennen, derartige Belastungen auf dem Rücken anderer auszutragen. So werden vermehrt kostengünstige migrantische Hausangestellte beschäftigt, und für die bislang noch nicht erlaubte Pflege rund um die Uhr durch im Haus der zu versorgenden Menschen lebendes Personal könnten Geflüchtete angelernt werden. Die Schaffung sogenannter Caring Communities und die Ausnutzung ehrenamtlichen Engagements verschieben das Problem, das für diese Leistungen kein oder nur wenig Geld bereitgestellt werden soll, ebenso ins Unbestimmte wie die Einführung einer Großelternzeit oder flexibler Lebenszeitkonten. Die verstärkte Investition in sogenannte Care-Robotik sieht ganz von menschlicher Arbeit bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen ab, und die reproduktionsmedizinische Geburtenplanung findet zumindest teilweise unter Kauf körperlich belastender Prozeduren von Eizellproduzentinnen oder Gebärdienstleisterinnen statt.

Nicht durch höheres Einkommen zum Kauf derartiger Care-Leistungen privilegierten Menschen bleibt kaum eine andere Wahl, als sich entweder individuell der Verantwortung durch den Verzicht auf eigene Kinder oder Flucht aus der Verantwortung für pflegebedürftige Angehörige zu entziehen oder über kollektive Solidaritäts- oder Sorgestrukturen nachzudenken. Da die neoliberale Bezichtigungslogik, stets selbst für die Miseren des Lebens verantwortlich gemacht zu werden, auch die Erschöpfung der Subjekte als individuelle Schwäche markiert, empfiehlt Julia Dück, wieder Kollektivität herzustellen und Erschöpfung als verbindendes, nicht sprengendes Moment herausarbeiten.

Daß dies nicht ganz einfach ist, weil das Private immer noch privat und kein Teil eines politisierten Raumes sei, könnte auch als Erfolg neoliberaler Strategien zur Atomisierung der Bevölkerung in allseitig verfügbare Subjekte kapitalistischer Produktivität verstanden werden. Julia Dück konstatiert allerdings, daß die Menschen das ewige Rennen im Hamsterrad niemals zureichender Erwerbsexistenzen und die permanente Verunsicherung durch die programmatische Sozialkonkurrenz satt hätten. Der Wunsch, auf andere Weise zu leben und die Neigung, die sozialen Bindungen nicht immer hintenanzustellen, könnten mithin Ausgangspunkt eines politischen Engagementes sein, das sich nicht nur in Stellvertreterpolitik artikuliert, sondern vom Basisaktivismus in sozialen Bewegungen bis zur Entwicklung kollektiver Lebensformen eine Vielzahl von Möglichkeiten bietet, die eigene Ohnmacht zu überwinden und Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen.

Für die Referentin stellt sich unter Verweis auf Michael Brie auch die Frage, mit welcher positiven Erzählung die Erschöpfung der Subjekte aufgegriffen und überwunden werden könnte. Dafür sei ein Lernprozeß der Linken erforderlich, die es zum Beispiel mit dem Begriff des Prekariats nicht geschafft hat, daß die Menschen sich als ausgebeutete Subjekte begriffen hätten und dementsprechend aktiv geworden wären. Als positive Errungenschaft führte Julia Dück politische Initiativen an, die Pflege- oder Kita-Streiks initiiert haben. Dabei gelte es, die von Pflegekräften zum kollektiven Ausgangspunkt des Kampfes gegen Arbeitsverdichtung gemachte Erschöpfung auch auf Privathaushalte zu übertragen, um den der herrschenden Akkumulationslogik unterworfenen Verlauf der Care-Ökonomie auf widerständige Weise zu politisieren.


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Katharina Hajek
Foto: © 2017 by Schattenblick

Katharina Hajek schloß an diesen Vortrag mit der Frage nach der Krise der weiblichen Subjektivierungsweise als Bestandteil der Krise der sozialen Reproduktion an. Heute werde Weiblichkeit zwar durch Quotenregelungen, Diversity Management und Frauen zugeschriebene Soft Skills aufgewertet, doch resultiere dies in einem unternehmerischen Feminismus, als dessen Prototypen etwa Hillary Clinton oder Ursula von der Leyen genannt werden können. Dieser Business oder Corporate Feminism werte Weiblichkeit auf betriebswirtschaftlicher Ebene auf und versage als umfassende Subjektivierungsweise, weil er Belange der materiellen, physischen und psychischen Reproduktion wie auch die damit verbundenen Hierarchien ausspart. Die Arbeitsteilungen unter Frauen, so die Inanspruchnahme prekärer Care-Arbeit im eigenen Haushalt oder reproduktionsmedizinischer Dienstleistungen als auch die ungelöste Frage der Doppelbelastung von Frauen durch Lohn- und Hausarbeit, werden im liberalen Diskurs unterschlagen.

Zudem seien neoliberale Formen des Feminismus Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer Kräfte wie der AfD, die eine erneute Familialisierung von Frauen fordern. Hier stelle sich die Frage, welche Position eigentlich die progressive Linke dazu einnimmt. Das gelte auch für eine rechte Vereinnahmung der Krise der Reproduktion, die etwa unter dem von Thilo Sarrazin geprägten Motto "Deutschland stirbt aus" angebliche bevölkerungspolitische Probleme des Geburtenrückgangs und der sogenannten Überalterung skandalisiert. Daß sie damit vor allem die Interessen der deutschen Wirtschaft an einer für sie günstigen Reproduktion der Arbeitskraft artikuliert, unterstreicht den neoliberalen Charakter nationalchauvinistischer Positionen, wie sie etwa in der AfD vertreten werden.

Doch der rechte Rand hat die gesellschaftliche Mitte längst unterlaufen, wenn man nur an die allgemeine Inanspruchnahme billiger weiblicher und migrantischer Arbeitskraft zum Zwecke sozialer Reproduktion denkt. So erinnert Katharina Hajek daran, daß Arbeitskraft in großem Ausmaß außerhalb kapitalistischer Zentren, wo Löhne und Lebenshaltungskosten niedrig sind, in Anspruch genommen wird. Um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen dorthin verlagern zu können, muß wiederum billige Arbeit importiert werden. Die rassistische selektive Funktion der europäischen Flüchtlingsabwehr ist ein Beispiel für internationale Grenzregime, die ein differenziertes System von Aufenthalts- und Arbeitstiteln hervorbringen und daher als integraler Bestandteil sozialer Reproduktion zu gelten haben.

Wenn Migrantinnen und Migranten aus dem Globalen Süden verängstigt und ohne Rechte nach Deutschland kommen, dann wird mit ihnen auch die Voraussetzung zur kostengünstigen Reproduktion inländischer Arbeitskräfte geschaffen, wie Katharina Hajek mit einem Zitat aus einer Dokutheaterproduktion des Ballhauses Naunynstraße illustriert: "Wenn sie in Neukölln ein Mittagsmenü für 3,50 Euro essen, können Sie davon ausgehen, daß die Person in der Küche ebenfalls nur 3,50 Euro in der Stunde verdient und höchstwahrscheinlich keinen gültigen Aufenthaltstitel hat."


Drei Standbilder - Foto: © 2017 by Schattenblick

Revolutionäre Versammlung - Rosa Luxemburg (Bronzeskulptur von Rolf Biebl) zwischen Karl Liebknecht und Mathilde Jacob (Terrakotta-Reliefs von Ingeborg Hunzinger) vor dem Sitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin-Friedrichshain
Foto: © 2017 by Schattenblick

Nicht haltmachen bis zur Überwindung der Lohnarbeit

In der anschließenden Diskussionsrunde wurde mit Kritik nicht gespart, was auch dem akademischen Duktus der Referentinnen geschuldet sein könnte, der Menschen ohne soziologische Vorkenntnisse leicht überforderte. So zeigte sich eine Frau befremdet davon, daß Begriffe wie Ausbeutung und Mehrwertproduktion fehlten. Sie erinnerte daran, daß Männer und Frauen in der DDR gleiches Recht auf Arbeit hatten und die gleichberechtigte Entwicklung der Geschlechter seit jeher Programm war. Nach dem Ende der DDR hätten sich Frauen aus Angst, in der kapitalistischen Gesellschaft am Arbeitsmarkt benachteiligt zu werden, massenhaft sterilisieren lassen. Bis heute sei die Gleichbezahlung für Frauen, die in DDR die Regel war, in der BRD noch nicht durchgesetzt worden.

Eine weitere Zuhörerin brachte die Krise der Frauenbewegung zur Sprache. So werfe die US-amerikanische Feministin Nancy Fraser der linken Frauenbewegung vor, sich auf Fragen wie Lifestyle, sexuelle Orientierung und weibliche Karriere orientiert zu haben, aber die Probleme der Frauen, die an Armut, prekärer Arbeit und Doppelbelastung leiden, zu vernachlässigen. Frauen müßten sich im Rahmen einer nicht elitären Konzeption darum kümmern, wie Menschen anders leben und arbeiten können. Die Lebensformen hätten sich in den letzten Jahrzehnten in allen Bereichen der Gesellschaft bis in die Arbeiterfamilien hinein stark verändert, was sich etwa daran zeige, daß mehr als die Hälfte der Bevölkerung Berlins in Single-Haushalten lebt. Diese Entwicklung sei bei der Frage, was zu tun sei, unbedingt zu berücksichtigen.

Die Gewerkschafterin Franziska Wiethold wiederum plädierte am Beispiel einer Arbeitszeitkampagne der IG Metall unter dem Titel "Mein Leben, meine Zeit" dafür, die klassische Forderung der Frauenbewegung, das Private politisch zu machen, ernst zu nehmen. Frauen wollen mit ihren privaten Bedürfnissen über Länge und Struktur der Arbeitszeit bestimmen, und das nicht nur informell durch individuelle Absprachen bei der Planung der Arbeit. Wenn das Thema Zeitsouveränität, tarifpolitisch flankiert, aus Sicht der Beschäftigten thematisiert werden könnte, dann wäre nicht nur etwas im Sinne des Ausbaus der Care-Ökonomie nach dem Motto "Die Frauen sollen gefälligst verfügbar sein, deswegen 24-Stunden-Kitas" erreicht, sondern dann würden private Lebensbedürfnisse zum normalen Bestandteil betrieblicher Personalplanung werden. So könnte der kapitalistischen Verfügbarkeit der Arbeitskraft aus Profitgründen mit einer Verfügbarkeit über die Arbeitszeit aus privaten Gründen entgegengetreten werden, so Wiethold unter Applaus des Publikums.

Ein Zuhörer forderte, nicht die Augen vor dem fremdbestimmten und zwangsverfügten Charakter von Lohnarbeit zu verschließen. Reformen in diesem Bereich könnten das Leben zwar versüßen, aber änderten nichts am grundlegenden Problem kapitalistischer Mehrwertproduktion. Der konstatierten Aufwertung der Weiblichkeit hielt er deren Überführung in eine Ware etwa im Rahmen der Schönheits- oder Sexindustrie entgegen. Das gelte auch für die Verwirtschaftlichung der weiblichen Arbeitskraft im Haushalt und im Betrieb.

Ein weiterer Zuhörer gab zu bedenken, daß die Linke die Debatte um bio- und reproduktionsmedizinische Themen, die einst im Kampf gegen die eugenische Regulation der Bevölkerung, gegen den patriarchalischen Zugriff auf den weiblichen Körper und die Zurichtung von Frauen auf den kapitalistischen Alltag wie für Behindertenrechte eine Domäne der Linken waren, ohne Not fundamentalistischen Christen und rechten Populisten überlasse.

Zum letzten Punkt verteidigte Katharina Hajek das emanzipatorische Potential von Fruchtbarkeitstechnologien, die man nicht nur negativ sehen sehen solle, wenn es dabei auch viele Widersprüche gebe. Tatsächlich befinde sich die Linke in einem Dilemma zwischen Lebensschützern und dem Recht auf den eigenen Körper, so die Wiener Aktivistin. Auch Julia Dück plädierte dafür, Reproduktionstechnologien in ihrer Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen. Das Thema werde von der Linken nicht genügend bearbeitet und daher von der AfD besetzt, stimmte sie ihrer Vorrednerin zu.


Zweckbau hinter altem Baum - Foto: © 2017 by Schattenblick

Verlagsgebäude des Neuen Deutschland am Franz-Mehring-Platz 1
Foto: © 2017 by Schattenblick

Emanzipatorische Perspektiven der Sorgearbeit

Wie die unterschiedlichen Positionen bei den Wortmeldungen aus dem Publikum und die Komplexität der Ausführungen auf dem Podium verrieten, bedarf die Care-Ökonomie in ihrer strukturellen Vielgestalt zwischen familiärer Reproduktion der Arbeitskraft, klinischer und geriatrischer Pflege, affektiver Dienstleistungen etwa beim Sex Work als auch der Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Innovationen der ausführlichen Untersuchung ihrer gesellschaftlichen Dienstbarmachung und politökonomischen Kritik ihrer Verwertung. So dürfte die Frage, ob die Kleinfamilie, die in den 1960er und 1970er Jahren bereits einer fundamentalen Kritik als Ort der Reproduktion autoritärer und staatsaffiner Zurichtungen unterzogen wurde, weiterhin die soziale Keimzelle der Gesellschaft sein sollte, angesichts der anwachsenden Probleme individueller Lebensbewältigung und der programmatischen Zertrümmerung solidarischer Gegenbewegungen zum herrschenden Kapitalregime wieder Zukunft haben.

Zweifellos ist die Krise der sozialen Reproduktion nicht nur in eine Richtung mit der Krise der Reproduktion der Arbeitskraft verknüpft. Es bleibt zu fragen, worin das Interesse der Subjekte der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft besteht - geht es darum, sie grundsätzlich zu überwinden oder sich Sorgen um den Erhalt ihrer Funktionsfähigkeit zu machen? Julia Dück hat die für die Erfordernisse sozialer Reproduktion relevanten Krisenprozesse ausführlicher als in ihrem Vortrag in dem Text "Krise und Geschlecht - Überlegungen zu einem feministisch-materialistischen Krisenverständnis" [1] diskutiert, dessen Lektüre das auf der Konferenz Vorgetragene produktiv ergänzen kann.

Das gilt auch für den Text von Felicita Reuschling über "Produktives Gebären: Elemente einer feministischen Ökonomiekritik" [2], in dem die gesellschaftliche Bedeutung reproduktionsmedizinischer Techniken kritisch beleuchtet wird. Dieses Kampffeld wird nicht nur durch den Aufmarsch angeblicher Lebensschützer, sondern auch die rasante Entwicklung extrauteriner Methoden der Fortpflanzung zum Mittel der Wahl eines klassenspezifischen, häufig weiß privilegierten Biologismus inklusive aller damit verbundenen Möglichkeiten humangenetischer Selektion und Intervention von anwachsender Bedeutung für die Linke sein. Will sie den Gebrauch reproduktionsmedizinischer Technologien für nicht an heterosexuellen Geschlechternormen orientierte Lebensformen auch nicht missen, so will sie auch nicht einer sozialrassistischen Eugenik ausgeliefert sein, die die generative Reproduktion einem biopolitischen Herrschaftsprojekt unterwirft.

Schließlich sei anläßlich der Konferenz einer Stiftung, die den Namen der Revolutionärin Rosa Luxemburg trägt, an die feministische Anknüpfung an ihre These erinnert, daß die ursprüngliche Akkumulation niemals geendet hat, sondern in der Einspeisung nichtkapitalistischer Produktionsweisen, also auch der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit, in die auf Mehrwertproduktion angewiesene Kapitalakkumulation fortdauert. "Das Theorem der Neuen Landnahme: Eine feministische Rückeroberung" [3] von der Feministischen Autorinnengruppe macht die Ausbeutung weiblicher, menschlicher und natürlicher Ressourcen als Voraussetzung gesellschaftlicher Reproduktion im Kapitalismus auf anschauliche Weise begreifbar und bietet damit Ansatzpunkte für die Entwicklung einer politischen Praxis, die antipatriarchale, antikapitalistische und sozialökologische Probleme nicht isoliert voneinander bearbeiten muß. Die so fundamentale Reproduktion des physischen Lebens und des sozialen Miteinanders als Handlungsfeld einer Erzählung zu nutzen, die die Entwicklung kollektiver und solidarischer, von geschlechtlichen, sozialdarwinistischen, nationalchauvinistischen und patriarchalen Attributen befreiter Formen des Widerstandes zum Gegenstand hat, könnten näher als vermutet liegen.


Fußnoten:

[1] http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2014/dueck.pdf

[2] http://outside-mag.de/issues/3/posts/27

[3] http://www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Das_Theorem_der_neuen_Landnahme._Beitrag_in_Jahrbuch_2013.pdf


Beiträge zur Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/257: Übergangskritik - den Kapitalismus entschärfen ... (SB)
BERICHT/258: Übergangskritik - der umbautheoretische Konsens ... (SB)
INTERVIEW/340: Übergangskritik - Wandlungsthesen ...    Michael Brie im Gespräch (SB)
INTERVIEW/341: Übergangskritik - Die Spielart der Fronten ...    Franziska Wiethold im Gespräch (SB)


21. März 2017


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