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BERICHT/334: Rancière - der Augenblick zählt ... (SB)


Der Aufstand muß daher immer auch als eine spontane Artikulation gegen diese Strukturierung der staatlichen Gewalt und des Alltags verstanden werden. (...) Sie ist eine absolute Ablehnung der alltäglichen erahnten und erfahrenen Demütigung, und diese Anfechtung ist eine im Negativen. Das große Nein und aus der Verneinung geborene Bewegung, eine Subtraktion, eine Unterbrechung der Legitimität des Staates und der gewöhnlichen Kommunikation. Die Anfechtung verweist auf das Unwahrscheinliche. Dabei ist hier die Spontaneität als Teil eines Ereignisses, das dem Institutionellen entgeht, zu verstehen. Sie ist sogar konstitutiv für den Widerstand, und infolgedessen ist die Spontaneität in diesem Fall der Feind der Macht. Aufstände sind gewissermaßen aus der Spontaneität heraus entstandene urbane Kämpfe um die Kontrolle, die Durchgänge und die Aneignung des Raumes.
Joshua Clover: Riot. Strike. Riot [1]


Auf der Bühne nach dem Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Jacques Rancière
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die neoliberale Innovation des Kapitalismus nahm ihren Anfang bei der Vernichtung des Allende-Sozialismus durch die Militärjunta in Chile, deren Machtübernahme den Einzug der Chicago Boys unter Milton Friedman zur Folge hatte. In den frühen 80er Jahren zwang Margaret Thatcher die Kohlebergarbeiter in die Knie. In Deutschland schuf die Agendapolitik den größten Niedriglohnsektor Europas und knebelte die Ausgegrenzten. Emmanuel Macron nahm mit seinen am deutschen Muster orientierten Reformen die nächsten Eingriffe am lebendigen Körper des Menschen vor. Zugleich fand eine Transformation des Kapitals im weltweiten Maßstab statt, die mit Begriffen wie Globalisierung, Finanzialisierung, internationale Lieferketten oder Logistik umrissen werden kann. Das Kapital konzentriert sich in der Sphäre der Zirkulation, sei es Finanzsystem, Transport, Distribution oder Dienstleistung. Mithin ist die Zirkulationssphäre zum zentralen Raum in der Welt des Kapitalismus geworden. Alles zirkuliert, die Produktionsstätten, die Waren des Finanzkapitals, die globalen Flüchtlingsströme. Dieser Raum entwertet einen traditionellen Raum des Kapitals, den der Produktion. Dessen Kämpfe, von der Traditionslinken bis zu den Gewerkschaften organisiert, sind als Widerstandsort zwar nicht passé, aber entmachtet.

Dieses System schließt wachsende Teile der Menschheit aus und schafft eine Surplusbevölkerung, die mit prekärer Beschäftigung oder Sklavenarbeit zu überleben trachtet, teils in Lagern gehalten oder der Vernichtung preisgegeben wird. In den Metropolen hatte die Fabrikgesellschaft ihre Disziplin etabliert: Durch den Takt der Arbeit, durch Schaffung von gewissen Lebensstandards, deren Verlust durch Arbeitslosigkeit drohte, im Äußeren durch Nationalismus und Staatsapparate, die für Sicherheit und Integration sorgten. Die Nichtintegrierten und Ausgeschlossenen müssen anders kontrolliert und bedroht werden, gegen sie wurde der Polizeistaat aufgebaut. Die Menschen sollen in diesem System nur als Produktions- und Konsummonaden, also als Produktions- und Konsumidioten existieren. Das ist die vernichtende Zumutung, die notfalls gewaltsam an sie herangetragen wird.

Dieser neue Raum des Kapitals, in dem es schrankenlos agieren kann, ist bislang von keiner Gegenbewegung erobert worden. Es finden jedoch weltweit Zirkulationskämpfe statt, nicht in der Produktion, sondern auf Straßen und Plätzen. Dabei ist die Zirkulation nicht nur als eine ökonomische Relation, sondern auch als eine soziale Organisation zu begreifen. In diesem Aufstand erhebt sich das Moment des Unverhandelbaren als reale Position. Für einen Moment taucht die verlorene Freiheit und der Untergang der Kontrollgesellschaft auf, wird das umfassende Universum der Verwertung des Lebens in Frage gestellt. Wenngleich damit innerhalb der Zirkulationssphäre noch keine Widerstandsposition greift, welche die Proteste gegen den globalisierten Kapitalismus in eine machtvolle Bewegung transformieren könnte, gibt es doch keinen Grund, sich von derartigen Eruptionen zu distanzieren.

Es gilt im Gegenteil danach zu suchen, was dabei an Produktivem auftaucht und, zum Begriff entwickelt, weiterhelfen kann. Wer die kapitalistische Besetzung von Leben und Natur beenden will, wird die Aneignung, Umverteilung, Umorganisierung und völlige Umstrukturierung der Produktions- und Zirkulationssphäre für absolut notwendig erachten. Die Zuwendung gilt mithin all jenen, die dieses vernichtende globalisierte System nicht als ihr eigenes und ihre Heimat betrachten. War die Selbstlosigkeit von 68 ein Gefühl zum anderen hin, eine Entscheidung der Solidarität und für eine andere Welt, herrscht heute gesellschaftlich die Selbstentwertung vor. Ich bin jederzeit ersetzbar, und die Haltung zum anderen hin ist allenfalls die feindliche Haltung einer Bande gegen die andere. Laßt uns gegen die anderen zusammenstehen und für unser egoistisches Interesse gemeinsam gegen feindliche Konkurrenten kämpfen. Der Kapitalismus wird zum System eines Menschheitsteils, der die gesamte Welt für sich beansprucht. Es stellt über die Herrschaft des Eigentums an dieser Welt einen immer größer werdenden Teil an anderen Menschen in ein Außen, denen nichts mehr gehört, um das eigene Leben sichern zu können.

Die Aufständischen von heute mögen Arbeiter sein, aber sie fungieren während des Aufstands nicht als solche, denn die Beteiligten werden hier nicht durch ihre Jobs, sondern in ihrer Funktion als Enteignete innerhalb des gesamten sozialen Reproduktionsprozesses vereinigt. Gewöhnlich wird der Aufstand, was das Politische angeht, im Kontext von Deprivation, Mangel und Defizit gefaßt. Der wichtigste Surplus ist jedoch die aktiv negierende, die widerständige Bevölkerung, dieser Keil in den kurzen aufbrechenden Momenten einer Massenmobilisierung, die sich zu einem Ereignis verdichten, bei dem der Aufstand das politische Management einer konkreten Situation sprengt und sich zugleich vom alltäglichen Leben radikal entkoppelt.


Jacques Rancière und Peter Engelmann auf der Bühne - Foto: © 2019 by Schattenblick

Autor und Verleger im Disput
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Jacques Rancière im Passagen Gespräch mit Peter Engelmann

Im Rahmen der "Passagen Gespräche: Forum für neues politisches Denken", die der Wiener Passagenverlag seit einigen Jahren veranstaltet, war der französische Philosoph und emeritierte Professor Jacques Rancière am 4. März in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel zu Gast. Im Gespräch mit Passagen-Verleger Peter Engelmann, das von Vincent von Wrobleski simultan übersetzt wurde, erörterte er die emanzipativen Elemente, die sich in aktuellen Protestbewegungen wie insbesondere jener der Gelbwesten in Frankreich abzeichnen. Der 1940 in Algier geborene Rancière hat gemeinsam mit Louis Althusser 1965 "Lire le Capital" (Das Kapital lesen), ein bahnbrechendes Werk der marxistischen Theorie, verfaßt. Er distanzierte sich später von Althusser und war als Teil der 68er Bewegung Aktivist einer maoistischen Gruppe. Im Unterschied zu zahllosen Zeitgenossen zog er sich nicht in die angepaßte Bürgerlichkeit zurück, sondern setzte seine Studien sozialer Bewegungen intensiv fort. Er schärfte dabei seine Kritik an jenen traditionellen marxistischen Ansätzen, die ihre zentrale Aufgabe in der Aufklärung und avantgardistischen Führung des Proletariats sehen. Demgegenüber vertritt er die Position, daß die Lohnabhängigen wie auch jegliche anderen Aufbegehrenden als autonome Subjekte begriffen werden müßten.

In seinem bis heute wohl einflußreichsten Text "La Mésentente" (Das Unvernehmen) [2] faßt er Politik als eine Praxis des Streits. Der Kampf zwischen Arm und Reich, zwischen Mächtigen und von der Macht Ausgeschlossenen ist demnach nicht ein Problem, welches es qua Politik zu lösen gilt, sondern Politik selbst. Indem der gesellschaftliche Anteil der Anteillosen sich seiner Position bewußt wird und erhebt, werden herrschende Strukturen durchbrochen. Dieses Verständnis emanzipatorischer Aufbrüche weist Rancières Ansatz zu einem bedeutsamen Beitrag bei der Charakterisierung aktueller sozialer Bewegungen aus, die sich der Straßen und Plätze bemächtigen.


Büchertisch des Passagen Verlags im Foyer auf Kampnagel - Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Stimme der Anteillosen
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Demokratie bei der Wurzel gepackt

Wie Rancière ausführt, produziert das System Erklärungen, welche die Ausübung seiner Macht begründen. Die Gelbwesten werden unter Verweis auf Identitäten als soziale Bewegung ausgewiesen, obgleich diese Klassifizierung längst ihre Gültigkeit verloren hat. Solche sozialen Zuweisungen greifen nicht mehr, da erhebliche Teile der Bevölkerung marginalisiert worden sind. Aus kleinen Anfängen tritt unvermittelt eine Bewegung hervor, die wächst und schließlich das ganze Land erfaßt. Die soziale Ordnung wird in Frage gestellt, ohne daß es dazu einer besonderen gesellschaftlichen Identität bedürfte. Die sogenannte schweigende Mehrheit kommt zusammen und beginnt zu sprechen. Man kann von einer Transition der Infrastruktur ausgehen, da Kreisel und Mautstellen blockiert, Hütten errichtet und Diskussionen in Gang gesetzt werden. Den klassischen Formen der Besetzung von Fabriken und Universitäten verwandt, geschieht dies jedoch an einem unvorhersehbaren Ort. Die interpretative Maschine versucht, den Gelbwesten eine Identität zu geben. Die Rede ist von periurbanen Regionen mit schwacher Infrastruktur. Die dort lebenden Menschen fühlten sich verlassen und seien verzweifelt, wird eine spezifische Situation identifiziert und daraus eine Erklärung abgeleitet. Dabei besagt ihre Situation jedoch, daß sie sich gerade nicht bewegen dürften. Die gängige Erklärung negiert diese Gruppe in ihrer Originalität, weshalb eine andere Perspektive erforderlich sei. Starke Bewegungen kommen immer unerwartet, man sollte aufhören, sie zu verdammen, argumentiert Rancière.

Demgegenüber wirft Engelmann die gängige Frage auf, ob die Gelbwesten angesichts ihrer Heterogenität, die auch rechtsradikale Elemente enthält, tatsächlich eine emanzipative Bewegung seien. Emanzipatorisches Potential heißt, aus der Ordnung herauszutreten, führt Rancière seinen Kerngedanken unbeirrt fort. Menschen entscheiden plötzlich, sich die Zeit und den Raum zu nehmen, zu denken, zu handeln, Aktionsformen zu entwickeln. Bewegungen waren schon immer durchmischt, Rassismus gab es auch in der Arbeiterbewegung. Doch die neue Bewegung überwindet die Politik des Ressentiments, schafft Kollektivität, beruft sich nicht auf Vorsitzende oder Vertreter, wendet die Methoden der Jugend wie insbesondere die Vernetzung an. Sie besetzt Räume, worauf die Macht versucht, diese Orte zu zerstören und die Bewegung nach Paris und in die Konfrontation mit der Polizei zu treiben.

Engelmann beharrt darauf, daß Erscheinungen wie Antisemitismus oder Rechtspopulismus im Spiel seien, worüber man doch nicht hinwegsehen könne, als seien die Folgen im traditionellen politischen Raum ohne Belang. Populismus, was ist das?, kontert Rancière. Ein Begriff ohne Inhalt, der stigmatisieren soll. Das Volk existiert nicht, dem liegt keine Substanz zugrunde, es handelt sich vielmehr um eine Pluralität. Das repräsentative System schafft erst das Volk, dessen Vertreter sich im 18. Jahrhundert selbst gegen die Masse konstituiert haben. Berufspolitiker repräsentieren nicht das Volk, sondern die herrschende Klasse. Das Phantasma des "wahren Volkes" tritt in zwei Versionen auf: Die positive lautet, das Volk ist verlassen und braucht Vertreter seiner Interessen. Die negative spricht von einer dumpfen, brutalen Masse derjenigen, welche die anderen hassen, die sich nicht bewegen wollen, die Diktatur und Ordnung ersehnen, die repressive Maßnahmen einfordern. Auf der einen Seite eine Positivierung, ein substantielles Volk und Kandidaten, die dieses Volk repräsentieren, und auf der anderen Seite der Diskurs einer Elite, die erklärt, wir sind von diesen Barbaren bedroht, von diesem niederen Volk, das zutiefst rassistisch ist. Rancière stellt absolut in Frage, daß die Demokratie in eine Krise geraten sei. "Die Demokratie" gibt es seines Erachtens nicht, auch wenn man sich daran gewöhnt hat, die Verhältnisse in den reichen Ländern mit ihren Wahlverfahren so zu bezeichnen. Demokratie sei demgegenüber eine Form der Ausübung einer Macht von Gleichen als Gleiche, womit sie seit jeher im Gegensatz zu Repräsentation steht.

Wie Engelmann einwendet, meine die Krise der bürgerlichen Demokratie etwas ganz Bestimmtes, nämlich daß mit den Mechanismen der Demokratie politische Parteien gewählt werden, die die Demokratie abschaffen, die ihre Wahl ermöglicht hat. Auch der Begriff "Populismus" beziehe sich konkret auf rechtsgerichtete Bestrebungen, all das rückgängig zu machen, was in der Demokratie entwickelt worden ist. Rancière läßt jedoch nicht zu, daß die Diskussion hinter den von ihm entwickelten Stand zurückfällt, und betont, daß er nicht von bürgerlicher Demokratie, sondern vom Verhältnis der Repräsentation zu Demokratie gesprochen habe. Er argumentiert nicht in den marxistischen Kategorien, wonach hinter der Demokratie bürgerliche Interessen stehen, sondern verweist darauf, daß das repräsentative System seine eigene Logik hat, die keine demokratische ist, da Demokratie in seinem Verständnis etwas Grundlegenderes sei. Der gängige Diskurs schaffe Gespenster, die er einem haßerfüllten, rassistischen, rückständigen "Volk" in einer Konstruktion von oben zuschreibe. Wenngleich es durchaus zutreffe, daß Leute auf der Straße fordern, die Fremden rauszuschmeißen, handle es sich doch vor allem um Maßnahmen des Staates und Politiker, die solche Reden führen und eine übertreibende Vereinfachung der Ideen praktizieren.

Wir leben in einer Welt, in der das Kapital frei zirkuliert und Migrationsströme existieren. Doch um die Welt zu regieren, reguliert das Kapital die Zirkulation der Individuen nach den Maßgaben von Bedarf und Ausschluß. Daher gibt es objektive Mechanismen des Ausschließens, die in den finanzökonomischen Mächten und der Gewalt des Staates samt seinem repräsentativen System begründet sind. Deshalb spreche er von einem Rassismus von oben, einem kalten Rassismus. Die extreme Rechte habe großen Einfluß über die Wahlen, doch eine rein rassistische Kundgebung, die aus den Vororten, den Fabriken oder der Landbevölkerung kommt, sehe er nicht. Die Strukturierung und Reglementierung von oben täusche vor, daß dies vom Volk so gewollt und gefordert werde. Seit 50 Jahren opfere sich in Frankreich, das sich Demokratie nennt, alle fünf Jahre ein braver Patron von rechts auf, gewählt zu werden. Seit 50 Jahren seien die grundlegenden Freiheiten beschnitten. Gesetze sehen vor, die Menschen von Kundgebungen fernzuhalten, man will das Streikrecht einschränken und vieles mehr. Niemand hat auf der Straßen all diese Maßnahmen gefordert. Daher müsse man die Analyse umkehren, beharrt Rancière auf seiner Position.


Jacques Rancière signiert Bücher, künstlerische Intervention - Fotos: © 2019 by Schattenblick Jacques Rancière signiert Bücher, künstlerische Intervention - Fotos: © 2019 by Schattenblick Jacques Rancière signiert Bücher, künstlerische Intervention - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Signieren für emanzipierte Zuschauer ...
Fotos: © 2019 by Schattenblick


Ästhetik im Grenzbereich zwischen Kunst und Politik

Engelmann leitet zum zweiten thematischen Komplex des Abends über, nämlich zur Ästhetik der Revolte, mit der sich sein Gesprächspartner seit langem ausgiebig beschäftigt hat. Dazu führt Rancière aus, daß es seines Erachtens "die Politik" nicht gibt, weshalb man auch nicht mit Benjamin von einer Ästhetik der Politik sprechen könne. Ästhetik bedeute mit Blick auf die Kunst nicht das Schöne, sondern betreffe die sinnliche Erfahrung. Rancière unterscheidet zwischen Polizei und Politik, wobei er Polizei als die normale Ordnung der Dinge auffaßt, in der jeder seinen Platz hat und sich die Dinge wie von selbst bewegen. Hingegen schafft Politik einen Erfahrungswert besonderer Art, wo die Leute nicht an ihrem Platz sind, wo es eine Störung der Koordinaten des Zeitlichen und Räumlichen gibt. Historisch gesehen heißt "Demos" zunächst Dorf, also ein abgegrenztes Territorium. Demokratie wurde geschaffen, als die Gesetze in Athen eine Kluft zwischen der materiellen Realität eines Ortes und seiner symbolischen Realität schufen. Politik entsteht, wo bestimmte materielle Orte symbolische Funktionen einnehmen, die eine Störung gegenüber der normalen Ordnung der Dinge darstellen. In einem Dorf gibt es jemanden, der befiehlt, während Politik bedeutet, daß die Räume umverteilt werden, um sie denen zu entreißen, die sie natürlicherweise beherrschen. Diese Ästhetik der Politik ist auch eine Frage der Teilung der Stimme, des Wortes, des Diskurses. Die Politik ist in gewisser Weise nicht nur ein Gegensatz von Kräften, sondern eine Opposition sinnlicher Welten. Es gibt eine sinnliche Welt von Menschen, die regieren, und von anderen, die regiert werden. Es gibt eine sinnliche Welt, die anders ist, in der plötzlich die Regierten Regierende spielen. Wo die, die an ihrem Platz bleiben sollen, heraustreten. Wo die, die schweigen sollen, plötzlich sprechen. Wo die, die keine Zeit haben, sich die Zeit nehmen. Das ist etwas Grundlegendes in der Politik, wie Rancière sie definiert.

Seit der Deindustrialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus sind die bedeutenden sozialen Kräfte zusammengebrochen. In dieser neuen Welt lassen sich keine derartigen Kräfte mehr identifizieren. Dem entgegen rückt eine Politik in den Vordergrund, die aus der Besetzung von Räumen und spezifischen Zeitlichkeiten erwächst. Hinzu kommt die Schaffung bestimmter Fähigkeiten der Performance zwischen Kunst und Politik. So harrte bei der Besetzung des Gezi-Parks in Istanbul ein Performancekünstler sechs Stunden lang reglos vor dem Atatürk-Denkmal aus. Indem er rein gar nichts machte, löste er heftige Reaktionen aus. Damit verwandelte er seine künstlerische Tätigkeit in eine politische. Bei einer der ersten Kundgebungen der gelben Westen standen drei feministische Performancekünstlerinnen unter Gebrauch ihres Körpers einer bewaffneten Polizistin gegenüber. Zwei sinnliche Welten, die im Gegensatz zueinander stehen, zwei Weisen der weiblichen Emanzipation. Als eine weitere künstlerische Form, die ihn sehr berührt habe, nennt der Philosoph die Rede von Emma Gonzalez bei der großen Bewegung der Schülerinnen gegen die Waffengewalt nach dem Parkland-Massaker in den USA. Während ihres Vortrags schwieg sie plötzlich minutenlang, ohne dies zu erklären. Die Leute verstanden nicht, reagierten, schrien, bewegten sich. Es war eine politische Performance, da niemand wußte, was sie tat, es handelte sich um eine Agitation des Publikums. Ihr Schweigen währte so lange, wie die Schießerei gedauert hatte.

Die Bewegung zur Besetzung von Orten schafft so Momente in einem Grenzbereich zwischen Kunst und Politik. Einer Politik, die sich außerhalb dessen befindet, was man normalerweise als solche bezeichnet, und Formen der Kunst außerhalb dessen, was man sich als Werk in einem Museum ansieht. Warum sind Künstlerinnen in den jüngeren Bewegungen so wichtig? Nicht aus klassischen Gründen, indem sie politisierte Kunstformen hinzufügen, sondern weil sie mit dieser Unbestimmtheit der Grenze spielen. Es sind Formen der Kunst, die Identitäten verloren haben und für eine Politik geeignet sind, die sich nicht als eine Aktion politischer Parteien oder sozialer Kräfte definiert, sondern als Aktion improvisierender Akteure.

Auf Engelmanns Frage, was die Besetzung von Orten im öffentlichen Raum als ein wichtiges Mittel zeitgenössischer Proteste gegenüber der klassischen Besetzungskultur verändert, erklärt Rancière, daß die Besetzung ursprünglich eine Form des Kampfs der Arbeiter war. Sie besetzten eine Fabrik, um sich ein Druckmittel zu verschaffen, errichteten aber zugleich auch Arbeitermacht. So findet eine Umwandlung der sinnlichen Welt statt, weil der Ort der Arbeit und der Unterwerfung zum Ort der Initiative, der Diskussion, des Lebens wird. Es kommt zur Umkehrung zweier sinnlicher Welten. Diese Form wurde 1968 von den Studierenden übernommen, welche die Universität durch ihre Besetzung zu einem Forum machten und den Traum von der Hochschule als rote Basis begründeten. Besetzung bedeutet, daß die normale Bestimmung eines Ortes verändert wird. Von da aus werden an diesen verwandelten Orten andere Zeitlichkeiten geschaffen. Man hat die Zeit zu denken und sie beschleunigt sich, da es Entscheidungen zu treffen gilt.

Die besetzten Fabriken sind verschwunden, einige wenige als Kunst- und Kulturzentren übriggeblieben. Die Besetzung hat sich verschoben, doch die Form ist geblieben. In dem Maße, wie Bewegungen nicht mehr die Konstituierung sozialer Körper sind, wird ein Ort gewählt und Kollektivität erst geschaffen. Das ändert den Sinn der Besetzung. Bei der traditionellen Besetzung sagt der Arbeiter, wir sind hier bei uns zu Hause. Die Leute auf dem Platz sind nicht bei sich zu Hause. Sie greifen aber den Gedanken auf, das es einen Raum gibt, den man umwandeln kann. Es gibt eine Blockade, die Unterbrechung einer bestimmten Logik. In einer besetzten Fabrik gibt es Verhandlungen, auf einem besetzten Platz keine. Dort stehen zwei Welten einander entgegen. Das ist das Frappierende an der Bewegung der Besetzung von Plätzen seit einem Dutzend Jahren, so Rancière. Es gibt eine Gemeinschaft, die sich konstituiert, eine Versammlung von Gleichen, und zugleich ist es eine Welt für sich. Die Zelte auf den besetzten Plätzen sind komplexe Symbole, da sie fast so etwas wie Nomaden charakterisieren. Provisorisch setzt man sich nieder gegenüber der offiziellen Welt. Das sah man auch bei den ökologischen Kämpfen an bedrohten Orten, man läßt sich nieder und konstituiert eine andere Welt. Es ist nicht so sehr das Lager in einem Krieg, sondern eher die Behauptung einer Abspaltung, eine andere Logik. Zwei sinnliche Welten, die einander gegenübertreten. Das ist ein Merkmal der Bewegung unserer Zeit. Man muß nicht darüber urteilen oder fordern, daß es doch darum geht, die Macht zu ergreifen. Denn was heißt das heute, die Macht zu ergreifen?

Hier hakt Engelmann mit der Frage nach, ob die Störung des Verkehrs durch die Besetzung geeigneter Räume dem entspricht, was sein Gesprächspartner unter autonomer Zeitlichkeit versteht. Dies bestätigt Rancière und führt aus, daß nach seiner Auffassung jede subversive Bewegung eine autonome Zeitlichkeit schafft. Politik existiert, weil es Momente der Unterbrechung gibt und die normale Zeit nicht mehr funktioniert. Es funktioniert auch nicht mehr die Verteilung zwischen den Leuten, die Zeit haben, und den anderen, die keine Zeit haben. In revolutionären Momenten haben alle Zeit und können sich das Risiko leisten, zu denken und zu handeln, ohne sich zu fragen, ob es legitimiert ist. Wenn es Politik gibt, dann weil diese Momente der Beschleunigung und der Brüche geschaffen werden. Man schafft eine Zeit, die nicht mehr abhängt von der Agenda der Macht.

Dies führt zu einer Spannung zwischen einer autonomen Logik der Bewegung und der Perspektive künftiger Wahlen. Der Linkspopulismus sagt, man muß das konkretisieren. Doch die revolutionäre Tradition ist eine des Diskontinuierlichen, der Unterbrechung, die Dinge geschehen nicht mehr wie normalerweise. Und dabei handelt es sich nicht nur um Momente, vielmehr wird auch eine langfristige Zeitlichkeit geschaffen. Es wird nicht alles wieder wie zuvor. Es gibt keine Rückkehr, sondern langfristige Wirkungen der Unterbrechung. Neue Formen werden geschaffen, betont Rancière.

Also trifft der Vorwurf nicht zu, die neuen Bewegungen beschränkten sich auf individuelle oder unmittelbare Interessen, hätten aber keine langfristige Wirkung, will Engelmann wissen. Soziale Bewegungen, so bestätigt Rancière, weisen seit den 60er Jahren die Besonderheit auf, von einer eng begrenzten Forderung auszugehen, aber etwas Transversales zu schaffen, das ein ganzes System durchdringen kann. Das galt für 68 in Frankreich, als die Bewegung aus kleinen Anfängen die Universitäten, dann die ganze Gesellschaft durchdrang und schließlich zu einer globalen Wirkung auswuchs. Bei den Gelbwesten ist es das gleiche. Es gibt nichts weniger Romantisches als eine Bewegung gegen die Erhöhung der Benzinsteuer. Inzwischen geht es längst um das Steuersystem, die Leitfrage der Gleichheit und vieles mehr. Diese ephemeren Bewegungen sind nicht partikulär, sie treten aus der Besonderheit heraus. Vor 68 sah man Politik als etwas, das die Parteien machen, während soziale Kämpfe Sache der Gewerkschaften sind. Plötzlich gibt es eine Form, die sich neu schafft, das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen wird untergraben. Es entstehen schnelle Durchbrüche. Daraus gingen starke soziale Bewegungen hervor, 68 hat sich verlängert als Fähigkeit, Widerstand gegen die neoliberale Offensive zu schaffen. Das hat gewirkt. Es gibt heute Menschen, die denken, daß man zusammen handeln kann, die sich durch soziale Netze verabreden. Es entstehen Dynamiken, die Langfristiges schaffen.

Braucht es dafür die Vision einer besseren Welt? Auf diese abschließende Frage seines Verlegers erwidert der Philosoph, es gebe Fragmente einer besseren Welt. Es gibt demnach Momente, in denen man im Kollektiv besser lebt, Fähigkeiten freigesetzt werden, reale Formen des Lebens sich entwickeln. In der Tradition der Arbeiterbewegung, der Syndikalisten und Anarchisten gab es eine Entwicklung von Gemeinschaftsformen der Arbeiteraktion, in denen Fragmente einer besseren Welt in Erscheinung traten. Die Emanzipation liegt nicht in weiter Ferne, es handelt sich vielmehr um Lebensprozesse, die in Momenten der Zusammenkunft, der Versammlungen, der Aktion als Gleiche geschaffen werden. Solche Aktionen gibt es überall als Protest gegen Industrieprojekte, gegen Entlassungen, gegen Landraub, gegen das Zurückschicken von Migranten, dort finden sich Praktiken der Gleichheit und Formen des Lebens. Wir leben in der Logik zu fragen, wohin führt das, wozu ist es gut, was heißt das? Das führt zu der Welt, die wir kennen. Der Gedanke der Emanzipation sagt hingegen, eine andere Welt ist möglich und sie kann ständig antizipiert werden, versieht Rancière das Gespräch mit einem ermutigenden Schlußwort.


Publikumsperspektive auf Podium mit Simultanübersetzer - Foto: © 2019 by Schattenblick

Forum für Diskurs- und Streitkultur auf Kampnagel
Foto: © 2019 by Schattenblick


Der Emanzipation fugenlos verpflichtet

Die daran anschließenden Fragen aus dem zahlreich erschienenen Publikum boten Rancière die Gelegenheit, einige Aspekte seiner Denkweise am konkreten Beispiel zu erläutern und zu vertiefen. Was er vom bedingungslosen Grundeinkommen halte? Wer stellt diese Forderung und an wen richtet sie sich?, lautet seine Gegenfrage. Das Einkommen für alle war Ausdruck der Forderung, alle Arbeitenden der immateriellen Produktion sollten am sozialen Kapital teilhaben. Es war eine Emblemfunktion eines bestimmten Typs von Kampf. Fordert man hingegen, man müsse denen Geld geben, die keines haben, und wenn man Arbeitsplätze streicht, eine Kompensation schaffen, führt das heute zu einer staatlichen Maßnahme. Solche Begriffe sind also zweideutig. Von bestimmten Bewegungen her gesehen machen sie Sinn, es sind aber keine Rezepte, die vom Himmel fallen. Es sind ganz verschiedene Logiken im Spiel.

Ein Referendum von Bürgerinitiativen bewertet er skeptisch. So sammle La France insoumise bestimmte demokratische Kämpfe, um sie zu kanalisieren. Der linke Populismus versuche, seine eigene Version des rechten Populismus zu konstituieren. Demokratische Bewegungen brauchen jedoch keine populäre Führungsfigur und können ihre Autonomie entwickeln, ohne daß sie von kleinen Parteien absorbiert werden, die einen Platz an der Sonne suchen, wie das die Linie der offiziellen Linken in vielen europäischen Ländern ist. Es handelt sich also um eine Position innerhalb des repräsentativen Systems. Im Unterschied zu einem Referendum halte er für relevant, wenn Leute zusammenkommen, um Gesetzesvorschläge zu formulieren und sich gewissermaßen zum Gesetzgeber machen. Als seinerzeit das Referendum über die europäische Verfassung anstand, haben sehr viele Menschen in Frankreich ausgiebig darüber diskutiert. Die kollektive Aktion ist interessant und nicht das, was man in die Urne wirft, so Rancière.

Im übrigen stünden die rudimentäre parlamentarische Linke wie auch die nicht minder geschrumpfte revolutionäre Linke in Frankreich den Gelbwesten eher positiv gegenüber, was er auch aus seinem persönlichen Umfeld bestätigen könne, gleich ob es sich um Leute aus maoistischen, trotzkistischen oder anarchistischen Traditionen handle. Hingegen lehnten Zeitungen, die sich für links halten, die Gilets jaunes häufig ab, wie das auch im Ausland zumeist der Fall sei.

Was ist die Grundlage der postulierten Gleichheit in demokratischen Prozessen? In Beantwortung dieser Frage unterstreicht Rancière, daß egalitäre Bewegungen die Gleichheit nicht fordern, sondern sie in der Praxis umsetzen. Eine demokratische Bewegung sei für ihn eine Bewegung von Leuten, die als Gleiche handeln. Sie erkennen anderen die Fähigkeiten zu, die sie selbst haben. Wir leben in einer Welt, die durch Ungleichheiten aller Art strukturiert ist. Egalitäre Beziehungen sind jedoch paradoxerweise sogar notwendig für das Funktionieren einer ungleichen Ordnung. Unternehmen würden zusammenbrechen, wenn alles allein von der strategischen Intelligenz der Führungskräfte abhinge. Gleiches gilt für die Verwaltung des Staates. Gleichheit ist nicht etwas Vorhandenes, aber man kann sie praktizieren. Das habe er von Jean Joseph Jacotot übernommen: Man setzt sie voraus und dann überprüft man sie. Seiner Erfahrung nach werde es interessant zu sprechen, sobald man mit Gleichen spricht.

Aus der Beschäftigung mit Arbeiten Rancières unter Studierenden erwuchs der Zweifel, ob Jacotot nicht ein bürgerliches Beispiel sei. Lernten junge Adlige aus gutem Grund, weil sie das nötige Rüstzeug besäßen, stelle sich die Frage, ob das auch für andere Menschen gelte. Dazu gibt Rancière zu bedenken, daß er nie eine Reform des Unterrichtswesens vorgeschlagen habe. Der Ansatz Jacotots sei kein Reformprojekt des Unterrichts, wohl aber ein Instrument der Reflexion dessen, was man macht, wenn man lehrt und wenn man lernt. Es geht darum, eine Fähigkeit für sich zu entdecken, von der man nichts wußte. Das heißt nicht, daß alle große Gelehrte werden, sondern daß es eine Vielfalt von Formen der Intelligenz gibt. Auch in der Politik gehe es darum, das zu finden, was man kann. Nach meiner Erfahrung war für mich das wichtig, was ich gelernt habe, nicht das, was man mich gelehrt hat, verdeutlicht Rancière zum Abschluß, daß er keinen Unterschied zwischen seiner persönlichen Entwicklung und dem Entwurf eines emanzipatorischen Ansatzes hinsichtlich sozialer Bewegungen macht.

Nach dem ersten Passagen Gespräch in der Kulturfabrik Kampnagel mit Alain Badiou am 12. März 2018 bot auch die zweite Veranstaltung dieser Reihe in Hamburg mit Jacques Rancière einen ebenso aufschlußreichen wie anregenden Einblick in die Denkweise namhafter linker französischer Philosophen. Daß sie dem Ringen um einen Bruch mit den bedrückenden Verhältnissen treu geblieben sind, macht sie weit über Zeitzeugen wirkmächtiger Erhebungen der 68er hinaus zu Protagonisten emanzipatorischer Ansätze, deren Stimme auch in den aktuellen Auseinandersetzungen von Relevanz ist.


Plakatwand mit Veranstaltungsankündigung auf Kampnagel - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Joshua Clover: Riot. Strike. Riot - The New Era of Uprisings, Verso Books London/New York 2016, 224 Seiten, ISBN: 9781784780593

[2] Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 160 Seiten, 10,00 Euro, ISBN-10: 3518291882


11. März 2019


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