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INTERVIEW/073: Haneen Zoabi, Mitglied der Knesset, kämpft für Demokratie in Israel (SB)


Gespräch mit Haneen Zoabi in Hamburg am 3. April 2011

Haneen Zoabi - © 2011 by Schattenblick

Haneen Zoabi
© 2011 by Schattenblick

Haneen Zoabi stammt aus einer palästinensischen Großfamilie in Nazareth. Der Bruder ihres Großvaters war Bürgermeister der Stadt, ein Onkel stellvertretender Minister und ein anderer Richter am Obersten Gerichtshof. Sie studierte Psychologie und Philosophie (B.A.) an der Universität Haifa und "Communications and Media" (M.A.) an der Hebräischen Universität Jerusalem. Als Studentin der Medienwissenschaften war sie einzige Palästinenserin ihres Jahrgangs. Zoabi führte Medienunterricht in arabischen Schulen ein, war als Mathematiklehrerin tätig und arbeitete später als Schulinspektorin für das Erziehungsministerium.

Im Jahr 2001 schloß sie sich der Balad-Partei an und war 2003 Mitbegründerin des Medienzentrums für Palästinenser in Israel. Haneen Zoabi wurde 2009 als erste Frau auf der Liste einer palästinensischen Partei in das israelische Parlament, die Knesset, gewählt. Ziel ihrer Partei "Nationales demokratisches Bündnis" ist die Verwirklichung der Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser in einer dadurch erst realisierten Demokratie. Als Gradmesser für die Entwicklung einer Gesellschaft gilt für Zoabi auch, inwiefern die Rechte der Frauen eingelöst sind.

Der internationalen Öffentlichkeit wurde Haneen Zoabi bekannt, als sie 2010 auf der Free Gaza Flotilla mitfuhr und damit gegen die Blockade des Gazastreifens protestierte. Die Flottille wurde am 31. Mai in internationalen Gewässern von israelischen Truppen gestoppt, die bei dem Angriff auf die "Mavi Marmara" neun Aktivisten töteten. Wegen ihres Engagements wurde Haneen Zoabi massiv unter Druck gesetzt. Ihr gingen über 50 Morddrohungen zu, so daß ihr Personenschutz verstärkt werden mußte.

Als sie im Parlament die Darstellung dieses Angriffs auf den Schiffskonvoi, mit dem die israelische Regierung an die internationale Öffentlichkeit trat, in Frage stellte, kam es zu tumultartigen Szenen. Die Abgeordnete Anastasia Michaeli von der ultrarechten Partei Israelis Beitenu (Unser Haus Israel) unterbrach Zoabi mit den Worten, Israel sei ein demokratischer Staat und könne niemanden in der Knesset reden lassen, der Positionen von Terrororganisationen vertrete. "Ihr Platz ist nicht in der Knesset, sondern im Gefängnis", wurde Haneen Zoabi beschimpft. "Geh nach Gaza, du Verräterin", rief die Abgeordnete Miri Regev vom Likud. "Wir brauchen kein trojanisches Pferd in der Knesset." Ihre Gegner versuchten sogar, sich auf sie zu stürzen und sie vom Mikrofon zu drängen, worauf es zu einem Handgemenge kam und mehrere Abgeordnete des Saales verwiesen wurden. [1]

Am selben Tag billigte die Knesset einen Gesetzentwurf, der sich gegen den Gründer von Zoabis Partei, Azmi Bishara, richtete. Ihm wurde die Pension gestrichen, auf die er nach seinem Rücktritt aus dem Parlament ein Recht hatte. Er lebt im Libanon, seit man ihm in Israel mit einer Anklage wegen Spionage droht.

Der Innenminister ersuchte den Rechtsberater der Regierung um die Genehmigung seines Plans, Zoabi wegen Hochverrats die israelische Staatbürgerschaft zu entziehen. Wenngleich es dazu nicht kam, wurde doch bei der nächsten Vollversammlung der Knesset mit 34 zu 16 Stimmen entschieden, der Abgeordneten aufgrund ihrer Beteiligung an der Flottille drei parlamentarische Privilegien zu entziehen: das Recht auf einen Diplomatenausweis, das Recht auf finanzielle Unterstützung, sollte sie Rechtsbeistand benötigen, sowie das Recht, Länder zu besuchen, zu denen Israel keine diplomatischen Beziehungen unterhält.

Ein Anlaß der Vortragsreise, die Haneen Zoabi durch mehrere europäische Städte führt, ist die Verabschiedung diverser neuer Gesetze durch die Regierungsmehrheit der Knesset, die die demokratischen Bürgerrechte in Israel grundsätzlich in Frage stellen. Zuletzt wurde am 28. März 2011 ein neues Staatsbürgerschaftsrecht geschaffen, das die konstitutionelle Beschaffenheit des Staates selbst verändert und im Zusammenhang mit dem Loyalitätsgesetz vom Oktober 2010 die Transformation Israels zu einem nicht mehr demokratischen Werten, sondern ethnisch-religiöser Zugehörigkeit verpflichteten Gemeinwesen vorantreibt.

Haneen Zoabi - © 2011 by Schattenblick

Streitbar und erzählfreudig
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Schattenblick: Vor wenigen Tagen hat das israelische Parlament mehrere neue Gesetze verabschiedet, die die politische Gesinnung palästinensischer Bürger und andere Formen des politischen Widerstands kriminalisieren. Frau Zoabi, welche Auswirkungen werden diese Gesetze auf die politische Freiheit in Israel haben?

Haneen Zoabi: Im Kern besteht die politische Aufgabe und Wirkung dieser Gesetze darin, die politische Handlungsfähigkeit und die politischen Aktivitäten der Palästinenser in Israel einzuschränken. Möglicherweise haben sie auch eine psychologische Stoßrichtung, indem sie Angst unter den palästinensischen Bürgern Israels schüren. Das weiterreichende Ziel dieser Gesetze besteht darin, unsere Staatsbürgerschaft zu konditionieren. Sie vermitteln die eindeutige Botschaft, daß Staatsbürgerschaft und Rechte nicht selbstverständlich in Anspruch genommen werden können. Beides wird der Loyalität zum Zionismus untergeordnet. Es geht nicht um die Frage, ob man den Rechtsstaat respektiert oder die Staatsbürgerschaft ernstnimmt. In Frage gestellt werden nicht nur politische, sondern auch soziale und ökonomische Rechte.

In einem dieser Gesetze ist verankert, daß der Staat denjenigen ein einjähriges kostenloses Studium garantiert, die Militärdienst leisten. Wir reden also nicht nur darüber, daß unsere politische Handlungsfähigkeit und Meinungsfreiheit eingeschränkt werden. Gemäß dieser neuen Gesetze müssen wir die zionistische Doktrin, das zionistische Narrativ übernehmen. Dies besagt, daß der Staat jüdischen Bürgern Privilegien zuerkennt zu Lasten seiner palästinensischen Bürger. Wenn also verlangt wird, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, und wir uns ihm loyal gegenüber verhalten sollen, dann entspräche das der an die Bürger der Bundesrepublik gerichteten Forderung, Deutschland als einem christlichen Staat Loyalität zu erweisen.

Es ist eine ideologische Definition. Der Zionismus postuliert, daß dieses Land den Juden gehört, daß die Juden in ein leeres Land einwanderten, in dem es keine Palästinenser gab. Weil sie in ein leeres Land kamen, gehört das ganze Land mitsamt seinen Ressourcen ihnen. Der Staat verlangt von mir nun, dieses Narrativ zu übernehmen. Der Staat behandelt meinen Kampf um Demokratie als eine strategische Bedrohung. In jedem normalen europäischen Land würde jede Partei, die Rassismus predigt, für illegal erklärt werden. In Israel ist das Gegenteil der Fall. Wenn man nach Demokratie und Gleichheit verlangt, wird man als strategische Bedrohung eingestuft. Man muß nach jüdischen Privilegien verlangen, man muß den Staat als einen der Juden anerkennen.

Um die Auswirkungen dieser neuen Gesetze zu beurteilen, kann man sich nicht einfach auf die von 1948 bis zu den 1990er Jahren reichende Epoche berufen. Damals konnten wir den Zionismus nicht als rassistische Ideologie abstempeln. Wir haben für Gleichheit gekämpft, aber wir haben nicht erklärt, daß der Zionismus eine rassistische Ideologie ist, die im Widerspruch zu Gleichheit und Demokratie steht. In den letzten Jahren sind wir zu dem Standpunkt gelangt, daß wir nicht nach Gleichheit und Demokratie streben können, solange sich der Staat selbst als jüdischer und zionistischer Staat versteht. Wir sind einen Schritt weitergegangen. Jetzt vertreten wir, daß der Zionismus keine Gleichheit garantieren kann. Der Zionismus garantiert Privilegien für Juden. Der Zionismus betreibt meinen Ausschluß von meiner Heimat. Der Zionismus verortet die Existenz der Palästinenser am Rande der ökonomischen und politischen Sphäre Israels.

Israel verlangt von uns, nur in diesem kleinen Rahmen jüdischer Staatlichkeit nach Demokratie zu streben. Ich glaube allerdings nicht, daß diese Gesetze unseren Kampf um Demokratie überformen oder unsere Bevölkerung einschüchtern können. Im Gegenteil: Die Jugend wird immer aktiver, sie geht immer häufiger auf die Straße. Am 30. März, dem Tag des Landes [2], fanden vier Demonstrationen statt, an denen mehr Jugendliche teilnahmen als in den letzten Jahren. Natürlich werden diese Gesetze einige Menschen einschüchtern, aber sie können unseren Kampf für Demokratie nicht wirklich beeinflussen.

SB: Müßten die jüdischen Bürger Israels nicht ebenfalls gegen diese neuen Gesetze opponieren, weil sie ja auch ihre demokratische Form staatlicher Verfaßtheit einschränken?

HZ: Das trifft zu, wenn man von einer demokratischen Gesellschaft spricht. Wenn man jedoch die Erhebungen des Israelischen Instituts für Demokratie verfolgt, dann zeigt sich eindeutig, daß die israelische Gesellschaft seit dem Jahr 2000 in großem Ausmaß rechtslastige bis rassistische Einstellungen gegenüber den Palästinensern aufweist. Dieses Gesetz reflektiert also nicht nur die Mehrheit in der Knesset. Unglücklicherweise steht dieses Gesetz auch für die mehrheitliche Einstellung der israelischen Gesellschaft. Auf der Webseite des Israel Democracy Institute (IDI) [3] finden sich fürchterliche Statistiken, die belegen, daß die Mehrheit der Juden den Wert des Jüdischen mehr betonen als den der Demokratie.

Ein Drittel der Gesellschaft ist der Ansicht, im Falle eines Krieges sollte man die palästinensische Bevölkerung in Lager internieren. Wenn Israel in einen Krieg eintritt, dann sollen eine Million Menschen in Lager gesteckt werden. Weil sie mit dem Feind kooperieren könnten, sollen sie weggesperrt werden. Die Hälfte der jüdischen Bevölkerung möchte keinen palästinensischen Nachbarn haben oder in einem arabischen Viertel leben. Die meisten möchten keine Araber in der Stadt, in der sie leben, sehen, noch möchten sie Arabisch hören. Wir reden also nicht über Gesetze, die der durchschnittliche Bürger ablehnt.

Dennoch gibt es einige, die sich durch diese Gesetze bedroht fühlen und sie ablehnen. Allerdings nicht, weil sie mit undemokratischen Mitteln auf die palästinensische Bevölkerung abzielen, sondern weil sie sich Sorgen über das Ansehen Israels in der Welt machen. Selbst in der Linken wird Mißtrauen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung gehegt, weil sie die Realisierung eines jüdischen Staates behindert. Die Bedeutung eines jüdischen Staates liegt darin, ethnisch rein zu sein. Es ist eine Art Apartheid-Mentalität, es ist eine Psychologie und Mentalität der ethnischen Säuberung. Ich kann kein geeigneteres Wort dafür finden als Rassismus. Doch das Gros der Gesellschaft hat kein Problem mit diesen Gesetzen.

SB: In der militarisierten Gesellschaft Israels sind jüdische Frauen stark vom männlichen Rollenmodell des Soldaten beeinflußt. Darüber hinaus hat die israelische Armee als Besatzungsmacht eine spezifische Form der Dominanz über palästinensische Zivilisten entwickelt. Können Sie in Israel nennenswerten Widerstand gegen die patriarchalische Herrschaft des Militarismus erkennen?

HZ: Die jüdischen Frauen sind Teil der israelischen Gesellschaft. Sie neigen nicht dazu, gegen die militärischen Dispositive und die militaristische Psychologie innerhalb der israelischen Gesellschaft vorzugehen. Im Gegenteil: So kämpfen einige der feministischen NGOs in Israel dafür, daß die Zahl der Frauen in den israelischen Streitkräften und die Zahl der Frauen in den Offiziersrängen erhöht wird. Dies ist ihre Art, Feminismus zu definieren. Für viele der NGOs innerhalb Israels ist es eine feministische Forderung, nicht vom Militär ausgegrenzt zu werden. Meiner Ansicht nach geht es beim Feminismus darum, dem Militarismus entgegenzutreten, die Art und Weise, politische Probleme mit Gewalt und militärischen Mitteln zu lösen, zu verändern. Aber für die Mehrheit der israelischen Frauen bedeutet Feminismus, nicht vom Militär ausgeschlossen zu werden, sondern etwa eine Pilotenausbildung zu erhalten und bei der Bombardierung Gazas eingesetzt zu werden.

Deswegen hatte ich einige Dispute mit feministischen Organisationen in Israel. Meiner Ansicht nach bedeutet Feminismus nicht nur Gleichstellung von Frauen mit Männern, sondern es ist ein Wertesystem, in dem es um Frieden und Gerechtigkeit geht. Feministin sein und gleichzeitig die Besatzungspolitik gutheißen ist unmöglich. Feministin sein und gleichzeitig palästinensische Frauen in Gaza und im Westjordanland unterdrücken, sie an den Checkpoints durchsuchen und erniedrigen, sie unterdrücken, ihre Häuser zerstören und ihr Land rauben ist unmöglich. Militarismus, Besatzung und Unterdrückung zu frönen, die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht zu respektieren, all das hat mit Feminismus nichts zu tun.

SB: Palästinenser leben unter verschiedenen Graden der Repression in Israel, im Westjordanland und in Gaza. Wie wirkt sich das auf die Stellung der Frau aus? Haben die im säkularen Staat Israel lebenden Frauen hinsichtlich ihrer Emanzipation Vorteile gegenüber den Frauen in den besetzten Gebieten?

HZ: Meiner Ansicht nach nicht. Die jüdische Gesellschaft ist zwar säkular, aber das wichtigste Kriterium im Umgang mit den PalästinenserInnen besteht darin, ob du PalästinenserIn bist, nicht ob du Mann oder Frau bist. Sie behandeln mich in der Knesset nicht auf andere Weise, weil ich eine Frau bin. Es ist kein Privileg, als Frau in der Knesset zu sitzen. Zuerst einmal bin ich Palästinenserin. Ob die jüdischen Abgeordneten nun eher liberal oder religiös sind, ob sie Frauenrechte unterstützen oder nicht, spielt keine Rolle. Für sie bin ich Palästinenserin, Punkt. Es ist ihnen egal, ob ich Mann oder Frau bin.

Schlimmer noch, sie verhielten sich nach meiner Reise auf der Mavi Marmara mir gegenüber gewalttätiger, weil ich eine Frau bin. Sie verwenden nicht nur politische Beschuldigungen, sondern greifen sogar zu sexistischen Bemerkungen. Daran hatte nicht nur der eine Abgeordnete teil, der mir zurief: "Geh doch nach Gaza und erlebe, was sie dort mit einer 41jährigen unverheirateten Frau anstellen!" Es waren mehrere, die sich auf diese Weise äußerten. Die weiblichen Mitglieder der Knesset waren mir gegenüber sogar noch aggressiver. Die großgewachsene Abgeordnete Anastasia Michaeli versuchte, mich auf körperliche Weise am Sprechen vor der Knesset zu hindern. Das würde sie bei Männern nicht tun. Weil ich eine Frau bin, nehmen sie sich ein größeres Ausmaß an Gewalt heraus. Ihr Liberalismus ist eine Farce. Sie haben sich mir gegenüber auf keine Weise liberal verhalten, ganz im Gegenteil.

SB: Wie beurteilen Sie den Stand der Frauenrechte in den besetzten Gebieten?

HZ: Das ist eine sehr komplizierte Frage. In Israel müssen wir zwischen zwei Ebenen, der privaten und der öffentlichen, unterscheiden. Auf der privaten Ebene sind wir Teil der konservativen arabischen Wertetradition. Ich habe keine statistischen Angaben zur Verfügung, aber die palästinensischen Frauen leiden unter Phänomenen wie Polygamie in der Negev, Gewalt gegen Frauen, der Verheiratung von Minderjährigen. Diese Erscheinungen gibt es am Rande der Gesellschaft immer noch, aber palästinensische NGOs versuchen, dies zu verändern. Ehrenmorde finden ebenfalls noch statt, werden aber auch bekämpft.

Dabei muß ich allerdings auf die Verantwortung des Staates zu sprechen kommen. Wenn eine Jüdin in einer Liebesbeziehung umgebracht wird, dann findet die israelische Polizei den Mörder in der Regel und inhaftiert ihn. Das ist im Falle eines solchen Verbrechens an einer Palästinenserin keineswegs der Fall. Wenn eine Palästinenserin ermordet wird, findet die israelische Polizei den Mörder nicht, auch wenn sie dazu in der Lage wäre. Sie behauptet, dies wäre Teil der arabischen Tradition. In unserer Gesellschaft ist es Konsens, daß die Polizei den Mörder finden muß und dieser den Preis für sein Verbrechen zu bezahlen hat. Aber es gibt eindeutig eine verborgene Agenda der israelischen Polizei, laut der in der palästinensischen Gesellschaft stattfindende Morde nicht verfolgt werden. Daher nimmt die Gewalt in der palästinensischen Gesellschaft Israels zu. Das Verbrechen nicht zu kontrollieren und die Verbrecher in Freiheit zu belassen, ist Teil der Politik der israelischen Polizei. Es ist ihre Art und Weise, die Rate der Gewaltverbrechen in der palästinensischen Gesellschaft Israels hoch zu halten.

In der privaten Sphäre liegt die Verantwortung des Staates bei der israelischen Polizei. In der öffentlichen Sphäre geht es darum, Frauen in größerem Ausmaß in politische Ämter zu bringen, etwa als Knesset-Abgeordnete, als Repräsentantinnen kommunaler Behörden. Es ist eine Angelegenheit der Gesellschaft, Frauen wie Männer davon zu überzeugen, ein größeres Ausmaß an Geschlechtergleichstellung zu erreichen. Aber der wichtigste Mechanismus zur Gleichstellung der palästinensischen Frau besteht darin, zur erwerbsarbeitenden Bevölkerung zu gehören. Dort jedoch findet eine Form nationaler Diskriminierung statt. Es ist keine Gender-Problematik, sondern eine politische Angelegenheit. Der geringe Anteil palästinensischer Frauen, die im Regierungsbereich, im öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Sektor arbeiten, ist eine Folge nationaler Diskriminierung. Es geht nicht um kulturelle oder soziale Werte.

Nur 19 Prozent der Palästinenserinnen in Israel gehen Erwerbsarbeit nach. Das ist weniger als in Jordanien, weniger als in Syrien, weniger als im Libanon, weniger als in den meisten Teilen der arabischen Welt. Warum ist das so? Es ist eine politische Entscheidung, die palästinensische Gesellschaft in Israel ökonomisch und industriell nicht zu entwickeln. Jüdinnen in Israel stehen zu 65 Prozent in Erwerbsarbeit. Wenn dies auf weniger ein Drittel der Palästinenserinnen zutrifft, dann handelt es sich um einen Riesenunterschied zwischen den palästinensischen und jüdischen Israelis. 67 Prozent der jüdischen Männer Israels verfügen über Erwerbsarbeit, das gilt für 65 Prozent der jüdischen Frauen. Palästinensische Männer stehen zu 56 Prozent in Erwerbsarbeit, palästinensische Frauen nur zu 19 Prozent.

Innerhalb der palästinensischen Gesellschaft verfügen Frauen über den höchsten Anteil an akademischen Abschlüssen. Die Frauen wollen vorankommen, sie wollen studieren und arbeiten. Sie studieren, aber sie erhalten keinen Arbeitsplatz, weil es keine Infrastruktur dafür gibt, weil unsere Städte und Gemeinden industriell nicht entwickelt sind. Es gibt sehr diskriminierende Hürden in der jüdischen Gesellschaft, indem man uns verbietet, in jüdischen Restaurants und Unternehmen und sogar Ministerien zu arbeiten. Wir stellen mit 1,2 Millionen BürgerInnen 18 Prozent der israelischen Gesellschaft, aber unser Anteil an Regierungsämtern liegt bei 8,6 Prozent. Im öffentlichen Dienst sind nur zwei Prozent PalästinenserInnen beschäftigt, im privaten Sektor sind es weniger als ein Prozent.

Wenn ich mich an das Ministerium für Industrie wende, dann rechtfertigen sie dies mit der Behauptung, daß die Palästinenser zu konservativ seien, daß sie den Frauen nicht genug Freiheit gewährten, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Daraufhin wende ich ein, daß eine Gesellschaft, die ihren Frauen verbietet zu arbeiten, ihnen auch das Studieren verbietet. Palästinensische Frauen ziehen sogar in andere Städte um, um studieren zu können, bleiben dort drei oder vier Jahre lang, um einen akademischen Grad zu erhalten. Wenn eine palästinensische Familie einen Sohn und eine Tochter hat, dann läßt sie die Tochter studieren, weil dem Sohn alle Formen von Erwerbsarbeit offen stehen. Wenn die Tochter arbeiten gehen will, dann benötigt sie eine Berufsausbildung. Es stimmt nicht, daß wir zu konservativ sind. Es liegt daran, daß die israelische Regierung für PalästinenserInnen keine Infrastruktur und keine industriellen Gebiete entwickelt. Sie erlegt uns Bedingungen auf, um uns nicht im jüdischen Teil der Gesellschaft absorbieren zu müssen.

Wenn ich als Kellnerin arbeiten wollte, dann würden sie mich zuvor fragen, ob ich den Militärdienst abgeleistet hätte. Wenn ich eine Berufsausbildung in irgendeinem Geschäft machen wollte, müßte ich zuvor beim Militär gewesen sein. Wenn ich das Kopftuch trüge, dann ginge gar nichts mehr. Der israelische Staat hat in den 60 Jahren seiner Geschichte keine industrielle Entwicklung in mehrheitlich von Palästinensern bewohnten Gebieten betrieben. Sie hindern uns daran, eine palästinensische Wirtschaft zu entwickeln, und sie hindern uns daran, im jüdischen Wirtschaftssektor Israels zu wachsen. Auf diese Weise zementieren sie die Armut in der palästinensischen Gesellschaft, deren Rate bei 50 Prozent liegt, die unter der Armutsgrenze leben.

Wenn Sie mich also fragen, was der wichtigste Mechanismus wäre, der Frauen zu einem eigenständigem Leben verhilft, dann ist es Erwerbsarbeit. Und das ist kein feministisches Thema, das ist ein rein politisches Thema. Es hat nichts mit Werten zu tun, es beruht auf israelischer Politik. Wenn es um Frauenbefreiung geht, müssen wir auf den Staat einwirken und nicht auf die sozialen Werte der palästinensischen Gesellschaft zu sprechen kommen. Ich kann meine Gesellschaft nicht für die sehr geringe Prozentzahl von Frauen in Erwerbsarbeit anklagen.

Die Position der Frauen in den besetzten Gebieten ist abhängig von den zwei Kriterien soziale Werte und Okkupation. In der israelischen Gesellschaft stehen dafür soziale Werte und israelische Politik. Ironischerweise könnten die sozialen Werte mehr Einfluß auf die Stellung der Frauen im Westjordanland und in Gaza nehmen als die Besatzung. Ich stelle diese Behauptung allerdings unter dem Vorbehalt auf, daß die gegen palästinensische Frauen unter Okkupation ausgeübte Gewalt ein Ergebnis der Gewalt der Besatzungspolitik ist. Alle psychologischen Studien haben erbracht, daß Männer unter der Bedingung der Unterdrückung und Okkupation die gegen sie ausgeübte Gewalt in ihre Familien projizieren. So findet man im Westjordanland und in Gaza alle Phänomene der gegen Frauen gerichteten Gewalt, weil das Besatzungsregime die palästinensische Wirtschaft zerstört hat. Wenn es harte Konkurrenz um Arbeitsplätze gibt, dann gehen die Frauen natürlich leer aus.

Man kann jedoch auch Beispiele dafür aufzeigen, daß Frauen die wirtschaftlichen Belange ihrer kleinen Dorfgemeinschaften organisiert haben. In einigen palästinensischen Dörfern, in denen das Gros der Männer in israelische Haft genommen wurde, waren die Frauen für die ökonomischen Fragen zuständig. Sie übernahmen die Verantwortung für die Bewirtschaftung der Felder, so daß man den paradoxen Effekt hat, daß die harten Lebensbedingungen der Besatzungspolitik den Frauen manchmal mehr Handlungsfreiheit bei der Führung der Gesellschaft und der Organisation der Wirtschaft verleihen.

Ein zweiter Aspekt besteht darin, daß es im Westjordanland unabhängige Universitäten und Forschungszentren gibt. Das sind üblicherweise Werkzeuge der Eliten, um liberale und egalitäre Werte zu verbreiten. Innerhalb Israels fehlt uns diese Elite. Wir brauchen Universitäten. Israel hat keine Genehmigung für die Einrichtung einer arabischen Universität gegeben.

Jenseits der Frauenfrage muß man zurück zur Nakba gehen. 1948 hat Israel 85 Prozent der palästinensischen Gesellschaft vertrieben. Das ist jedoch nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch der Qualität. Israel ist zuerst gegen die Bewohner der Städte vorgegangen, wo die liberalere, reichere, besser ausgebildete und stärker politisierte Elite lebte. Geblieben sind die Fellachen, die Bauern, was man bedenken muß, wenn man über die Position der Frauen spricht. Normalerweise verbreitet die Elite Liberalismus und die Werte der Moderne. Das geschah in den besetzten Gebieten nicht. Die Nakba schadete der Stellung der Frau daher sehr. Das ist meiner Meinung nach der wichtigste Faktor, wenn es um die Behinderung der Modernisierung geht, und zwar nicht im westlichen Sinne des Wortes. Ich spreche über den Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit.

Ein letzter Punkt. Ich kann keine Ministerin werden. Eine Palästinenserin in Ramallah kann dies sehr wohl. Sie kann theoretisch Ministerpräsidentin werden. Es gibt keine obere Begrenzung für politische Beförderung. Palästinenserin im jüdischen Staat zu sein - und das trifft auf Männer gleichermaßen zu - bedeutet, keine Chance zur eigenen Entwicklung zu erhalten. Eine Militärlaufbahn ist keine Option für mich. Theoretisch wäre es eine Option für Palästinenserinnen, wenn sie einen eigenen Staat hätten. Ich kann keine Botschafterin werden, weil PalästinenserInnen nicht als Repräsentanten Israels arbeiten.

SB: Könnte die israelische Regierung denn palästinensische Bürger als Botschafter entsenden?

HZ: Das haben sie drei Mal in 60 Jahren gemacht, und zwar in sehr kleinen, entlegenen Ländern. Für mich ist die Mitgliedschaft in der Knesset das höchste, was ich erreichen kann. Das muß man in Betracht ziehen, wenn man die Lebensrealität palästinensischer Frauen auf beiden Seiten der grünen Linie untersucht. Ich mache mir mehr Sorgen über die Stellung der Frau seit Oslo als zuvor. Wenn man über die Unterdrückung der palästinensischen Gesellschaft nicht nur durch die israelischen Streitkräfte, sondern auch die palästinensische Polizei spricht, richtet sich diese Gewalt immer sehr viel mehr gegen Frauen als Männer. Meiner Ansicht nach hat sich die Position der Frauen in den besetzten Gebieten nach Oslo und nach der Zweiten Intifada noch stärker verschlechtert als nach der Ersten Intifada und vor Oslo.

Haneen Zoabi - © 2011 by Schattenblick

Kämpferisch gegen Unterdrückung
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SB: Die politische Landschaft der arabischen Welt ändert sich dramatisch. Welche Prognosen haben Sie für die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die israelische Politik in Bezug auf das Schicksal der Palästinenser?

HZ: Zunächst einmal ist Israel sehr beunruhigt angesichts dieser Entwicklung, weil die arabischen Regimes mit dem Staat Israel befreundet waren. Israel unterhielt spezielle Beziehungen zu Ägypten, einem der wichtigsten arabischen Länder der Region. Diese Beziehungen gingen weit über Camp David hinaus, da Einigkeit über Gaza, den Bau der Trennmauer, die südliche Grenze und die Unterbindung von Waffenlieferungen an die Hamas herrschte. Die wichtigste Übereinstimmung zwischen Israel und den arabischen Ländern war jedoch, den Iran als Hauptfeind zu betrachten, vor allem was Ägypten, Saudi-Arabien und Israel betraf. Diese strategische Übereinkunft, wonach der Iran der wichtigste Feind und nicht etwa die Okkupation der Palästinensergebiete das Haupthindernis sei, war für Israel außerordentlich wichtig. Nun verfolgt Israel aufmerksam die Entwicklung in Ägypten, um sich Aufschluß darüber zu verschaffen, in welchem Ausmaß das neue Regime die bislang bestehende Übereinstimmung teilt.

Die Behandlung der Palästinenser durch Israel wird meines Erachtens dadurch nicht tiefgreifend verändert. Solange der Staat als jüdisch definiert wird, ist die Diskriminierung der Palästinenser die zwangsläufige Folge. Wir charakterisieren die letzten beiden Jahre nicht als Rassismus, da Israel immer ein rassistischer Staat war. Wir nennen es Faschismus, da Israel nun eine Art totalitärer Staat geworden ist. Eine Karikatur in Ha'aretz zeigte Netanjahu und seine Frau an einem Tisch sitzend, der mit "jüdischer Tisch", "jüdischer Teller", "jüdischer Mann", "jüdische Frau" beschildert war - einfach alles muß jüdisch sein. Diese Art von totalitärem Staat ist seit drei Jahren nicht mehr rassistisch, sondern mit faschistischen Gesetzen ausgestattet.

Wenn man mir verbietet, der Nakba zu gedenken, will man meine Gefühle kontrollieren, will man meine Erinnerung kontrollieren. Wenn man mir verbietet, das Wort Nakba zu erwähnen und in einem jener jüdischen Dörfer zu leben, die auf meinem Land errichtet wurden, ist es mehr als nur Apartheid. Vom Land der indigenen Bevölkerung hat Israel 82 Prozent okkupiert und will immer noch mehr haben. Man hindert mich daran, ein normales Leben in meinem Heimatland zu führen.

Wir verfügen über ein gewichtiges Argument nicht nur gegenüber dem rechten, sondern auch dem "linken" Flügel, der Arbeitspartei: Die psychologische und moralische und ethische Infrastruktur dieses faschistischen Gesetzes wurde von euch vorbereitet. Ihr habt schon vor der Regierung Netanjahu ein System von 23 Gesetzen vorbereitet, das auf die Konfiszierung meines Landes und meiner Erinnerung abzielt. Das Erziehungsgesetz entsprang nicht dem rechten Flügel, es kam nicht von Lieberman, es wurde von der Arbeitspartei geschaffen. Das Erziehungsgesetz von 1949 sah vor, den jüdischen Charakter, die jüdische Kultur und die hebräische Sprache ebenso zu fördern wie die Besitzansprüche auf Eretz Israel und die Beziehungen der Juden in Israel zu denen in aller Welt. All das geschah bereits nach der Staatsgründung Israels und macht dessen Kern, die einheimische Bevölkerung zu bekämpfen, aus. Das ist also keineswegs eine neue Entwicklung.

Sechzig Jahre später ist es die Normalität, was niemanden überraschen sollte. Man sollte nicht Lieberman angreifen und behaupten, er wolle 60 Jahre Demokratie entsorgen. Staaten wechseln nicht plötzlich von Demokratie zu Faschismus. Unsere Kontroverse mit der Arbeitspartei und mit Kadima ist also nicht geringfügiger als jene mit dem rechten Lager und der Regierung. Das Apartheidsgesetz gegen die Palästinenser wurde nicht von Lieberman eingebracht, sondern der Oppositionspartei Kadima. Zwei von fünf Landgesetzen, die im letzten Monat verabschiedet wurden, kamen von Kadima. Das ist die Art und Weise, auf die sich die israelische Opposition zu verteidigen versuchte. Statistiken zufolge sind die Russen und die Religiösen rassistischer als die Säkularen, doch kann niemand behaupten, sie hätten den Rassismus in Israel erfunden. Sie haben ihn lediglich fortgesetzt.

Mein Kampf zielt nicht darauf ab, vom Faschismus zum säkularen Rassismus zurückzukehren. Die Säkularen in Israel lassen mir nur zwei Möglichkeiten: Zu ihrem Rassismus zurückzukehren oder beim Faschismus der Religiösen zu bleiben. Ich kämpfe gegen beide, denn man hat seit 60 Jahren unser Land konfisziert und uns verboten, unsere Geschichte zu studieren. 600 Städte und Dörfer wurden auf unserem Land für Juden errichtet, keine für Palästinenser. Das kann man doch nicht Demokratie nennen. Wer hat zuerst Siedlungen im Westjordanland errichtet? Die Säkularen. Der Zionismus ist eine säkulare Ideologie, keine religiöse. Man kann die Geschichte nicht umschreiben, indem man behauptet, es handle sich um ein religiöses Problem.

SB: Palästina war stets eine Art Dreh- und Angelpunkt der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Westliche Kommentatoren haben die Abwesenheit antiamerikanischer und antiisraelischer Parolen auf dem Tahrir-Platz in Kairo sehr gelobt. Glauben Sie, daß die ägyptischen Jugendlichen und Arbeiter nur ihr nationales Schicksal im Sinn und sich von der Sache der Palästinenser abgekoppelt haben? Können sie sich überhaupt davon distanzieren, obwohl das Mubarak-Regime der westlichen Hegemonie in der Region zugearbeitet hat?

Haneen Zoabi - © 2011 by Schattenblick

Blick über Palästina und Israel hinaus ...
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HZ: Wer Gerechtigkeit und Demokratie im Nahen Osten anstrebt, ist gegen US-amerikanische und israelische Politik. Wenn eine israelische Okkupation existiert und ich an Gerechtigkeit glaube, muß ich mich gegen israelische Politik wenden. Israel kontrolliert und erpreßt die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern. Deshalb sind wir gegen US-Politik und israelische Politik, nicht jedoch antiisraelisch, wie fälschlicherweise behauptet wird. Wer im Mittleren Osten und in der arabischen Welt das Streben nach Gerechtigkeit und Gleichberechtigung unterstützt, ist gegen israelische Politik, weil diese die Palästinenser unterdrückt.

Die Interessen der USA stehen in scharfem Widerspruch zu jenen der arabischen Länder, weil die USA die Kontrolle des Öls und anderer Ressourcen wie auch der politischen Verhältnisse anstreben. Das ist offenkundig und sollte niemanden überraschen. Ich finde es erstaunlich, daß Deutschland, das an Gerechtigkeit und Freiheit glaubt, die israelische Politik unterstützt. Das ist doch ein Widerspruch, weil sich die Politik Israels gegen Gerechtigkeit und Freiheit wendet. Wie kann man zugleich diese Werte hochhalten und Israel unterstützen?

Wenn es auch zutrifft, daß die Okkupation nicht auf der Agenda der ägyptischen Erhebung stand, heißt das nicht, daß das gleichermaßen für die Werte gilt. Man kann durchaus an die Gleichberechtigung der Palästinenser glauben und die Okkupation verurteilen, ohne dies in die eigene Agenda aufzunehmen. Für die ägyptische Jugend geht es darum, ihr internes politisches System, ihre interne Identität zu verändern, Gerechtigkeit in ihrem Land herbeizuführen und eine gute Regierung zu bekommen. Wenn man dies zum Ausgangspunkt macht, wird sich der Wille des ägyptischen Volkes unvermeidlich auch mit außenpolitischen Fragen beschäftigen und die gesamte Politik Mubaraks wie auch die Okkupation ablehnen. Man kann doch die Revolution nicht delegitimieren, indem man ausschließlich ihre aktuellen Parolen zugrundelegt. Der Westen wird aufhören, die ägyptische Revolution zu bewundern, wenn sie sich gegen israelische Regierungspolitik wendet. Man kann nicht zugleich für die Revolution und für die Politik Israels sein. Das ist unmöglich - es sei denn, man ist ein Deutscher, der von Israel mit dem Holocaust erpreßt wird. Erst dann wird man sich gegen jede Kritik an Israel verwahren.

Jede Revolution weltweit verurteilt die US-amerikanische und israelische Hegemonie, weil diese in Widerspruch zu den Werten steht, derentwegen man diesen Kampf führt. Ich bin der Auffassung, daß alle arabischen Völker die Palästinenser vergessen und sich um ihre Revolution kümmern sollten. Kämpfen sie für Demokratie in ihrem Land, ist das die größte Unterstützung, die sie den Palästinensern geben können. Da die neue Regierung dem Willen des Volkes entspricht, wird sie das palästinensische Volk als Teil der arabischen Welt auffassen. Darauf wird es unvermeidlich hinauslaufen, weshalb die Schaffung einer demokratischen Gesellschaft in anderen Länder die größte Hilfe für die Palästinenser ist. Die USA und Israel können die Region nur deshalb kontrollieren, weil es dort Diktaturen gibt.

SB: Das Manifest der Free Gaza Youth ist ein Ausdruck massiver Entfremdung von jedweder Form organisierter politischer Kräfte. Halten Sie dies für einen praktikablen Ansatz, eine neue Art des Widerstands nicht nur gegen israelische Okkupation, sondern auch gegen oligarchische Herrschaft unter den Palästinensern selbst zu initiieren?

HZ: Dem stimme ich zu, auch ohne das Manifest zu kennen. Auch wir brauchen eine Revolution und können nicht darauf setzen, daß die Hamas demokratischer und weniger repressiv wird und die Fatah aufhört, ein Agent der Okkupation zu sein.

SB: Nachdem Sie an der Gaza Freedom Flotilla teilgenommen hatten, wurden Ihnen mehrere Abgeordnetenrechte in der Knesset aberkannt. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre politische Arbeit?

HZ: Für mich persönlich hat das keine allzu gravierenden Auswirkungen, doch als politischer Akt der Delegitimation nicht nur meiner Person stellt es eine große Gefahr dar. Es geht nicht darum, daß ich keinen Diplomatenpaß mehr besitze, da ich immer noch meinen normalen Ausweis habe. Die Botschaft, die Israel mir, meiner Partei und den Palästinensern schickt, ist jedoch bedrohlich, da sie auf der gleichen Linie wie die neuen Gesetze liegt. Rassismus ist Israel immanent, er ist keine Frage dieser oder jener Gesetze, dieser oder jener Fraktion der Gesellschaft. Er ist Teil des Systems und der Auffassung von einem Jüdischsein, das mit einem demokratischen Staat unvereinbar ist.

Ich habe meine Heimat verloren, ihr habt mein Volk vertrieben, ihr habt meine Geschichte umgeschrieben, ihr behandelt mich, wie ihr die Indianer behandelt habt. Es handelte sich 1948 um eine ethnische Säuberung. Ich biete euch einen historischen Kompromiß an, doch ihr erklärt, daß dieser Kompromiß euren Zionismus bedroht. Das ist allerdings der Fall, weil ich keinen Kompromiß mit eurem Rassismus schließe. Für euch hieße Kompromiß, daß ich loyal zu eurem Zionismus stehe.

Es gibt jetzt zwei Gesetzespakete: Landgesetze, die von der Kadima eingebracht wurden und die ich für die gefährlicheren halte, und Loyalitätsgesetze auf Betreiben des rechten Lagers. Landgesetze sind Teil der alten Politik, Loyalitätsgesetze entspringen der neuen. Gefährlich sind beide, denn die Gesetzeslage wird rekonfiguriert, um Politik zu kriminalisieren. Mir einige parlamentarische Rechte zu nehmen, zielt darauf ab, unseren Kampf zu delegitimieren und zu kriminalisieren. Zuerst raubt mir der alte Rassismus mein Land und beschneidet meine Rechte, dann will mir der neue Faschismus die Fähigkeit nehmen, mich zu wehren. Es gibt eine Art Arbeitsteilung: Die Säkularen zielten auf mein Land und meine Rechte ab, die religiösen und faschistischen Einwanderer aus Rußland haben es auf meinen Kampf abgesehen.

SB: Wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.



Aus dem Englischen übertragen von der SB-Redaktion

Fußnoten:

[1] http://www.youtube.com/watch?v=DRf0aB3BNEY&feature=player_detailpage

[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Land_Day

[3] http://www.idi.org.il/sites/english/events/ThePresidentsConference/Pages/2010DemocracyIndex.aspx

[4] http://www.counterpunch.org/avnery07202010.html

Haneen Zoabi mit SB-Redakteur - © 2011 by Schattenblick

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4. April 2011