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INTERVIEW/076: Detlef Hartmann zur Transformationsdynamik der Euro-Krise (SB)


Interview mit Detlef Hartmann in Köln-Ehrenfeld am 13. Juli 2011


"Krisenlabor Griechenland" [1] klärt über die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Euro-Krise auf und stellt diese in den Rahmen einer Transformationsdynamik, die das krisenhafte Geschehen als systematischen Angriff auf die Interessen erwerbsabhängiger und auf Transferleistungen angewiesener Menschen erkennen läßt. Detlef Hartmann, der für den mit "Schockpolitik und der Umbau Europas" überschriebenen Teil des zusammen mit John Malamatinas verfaßten Buches verantwortlich zeichnet, hat dem Schattenblick einige Fragen zum weiteren Verständnis der Krisenentwicklung und den Perspektiven des dagegen gerichteten sozialen Widerstands beantwortet. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über die Finanzmarktkrise.

Detlef Hartmann - © 2011 by Schattenblick

Detlef Hartmann
© 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Den zweiten Teil eures Buches "Krisenlabor Griechenland" hast du mit der Bemerkung abgeschlossen, daß wir wenig Zeit haben, der aus der Krise erwachsenden Herausforderung etwas entgegenzustellen. Seit ihr das Buch verfaßt habt, ist viel geschehen. Die USA stehen praktisch vor der Zahlungsunfähigkeit, in der EU wird offen über den Crash des Euro geredet. Hattest du diese Krisenentwicklung im Sinn, als du die Dringlichkeit betont hast, Kontakt zu den weltweit geführten sozialen Kämpfen herzustellen?

Detlef Hartmann: Das ist natürlich eine komplexe Geschichte. Der Zeitrahmen ergibt sich einerseits aus der Stärke des Drucks, der aus der Finanzkrise resultiert, und andererseits aus den Maßnahmen, die daraus entwickelt und dann durchgesetzt werden sollen. Obwohl Griechenland durchaus eine Art Vorläufer war in bezug auf die Revolten im Nahen Osten, mit denen niemand gerechnet hatte, die noch nicht abgeschlossen sind und ebendeshalb eine weitere Verunsicherung in das europäische Krisengeschehen und die Neuregulierungsaktivitäten hineinbringen, konnten wir diese Entwicklung in dem Buch noch nicht berücksichtigen. Es geht darum, diesen Reorganisationsstrategien etwas entgegenzusetzen. Dies und der Umstand, wie langsam oder schnell die Linke versteht, daß sie sich europaweit als Kraft etablieren und mit den Bewegungen im Nahen Osten verbünden muß, sie als ihre eigene Bewegung begreift, um etwas von unten herzustellen, gibt den Zeitrahmen vor.

SB: Wird deiner Ansicht nach von staatlicher Seite Handlungsbedarf hergestellt, die Krise als Anlaß zur Reorganisation und Regulation zu nutzen, oder sind die Administrationen und Regierungen selbst vor allem Getriebene?

DH: Sie sind Getriebene. Man kann auf der Oberfläche des Geschehens eine zum Teil völlig absurde Diskussion über Fragen verfolgen, mit denen praktisch das ganze Publikum mehr oder weniger zu Finanzspezialisten gemacht wird, was es erstens nicht ist und was zweitens nichts bringt. Und dennoch nehmen alle daran teil. So tauchen überall primitive Floskeln auf wie zum Beispiel, daß die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt hätten und jetzt dafür zahlen müßten oder etwas in dieser Art. Alle Welt sieht sich plötzlich in der Lage, über Eurobonds und ähnliche Begriffe zu reden, man produziert einen regelrechten Buchstabensalat. Das ist die Oberfläche einer Debatte, an der auch große Zeitungen wie die Financial Times beteiligt sind. Über den enormen Einigungs- und Regulationsdruck wird dagegen überhaupt nicht diskutiert. Er ist praktisch zu einem Schattengeschehen unterhalb dieser oberflächlichen Diskursebene verkommen.

SB: Du sprachst in diesem Zusammenhang von der Sekuritisierung ihrerseits wie Wertpapiere handelbarer Kredite. Ließe sich darin vielleicht die Idee einer neuen Währung erkennen, weil ja fast ausschließlich Verluste kapitalisiert werden?

DH: Es gibt inzwischen eine Debatte um eine neue Form des Geldes, die aus Schuldenbeziehungen besteht und im Rahmen dieses Schattenbankwesens entstanden ist. Dabei geht es darum, in welchen Einheiten oder Begriffen Verpflichtungen ausgedrückt werden, also um die Frage, was Geld ist. Münzgeld ist ebenso wie Papierscheine nichts. Früher war es so, daß man mit einem Schein zur Bank gehen konnte und dafür Gold bekommen hat. Gold ist auch erst einmal nichts, sondern lebt eigentlich nur von der Garantie, daß irgend jemand dafür arbeitet oder man irgendeine Ware dafür erhält. Das heißt letzten Endes, daß einem irgend jemand irgendeinen Wert gibt, für den gearbeitet worden ist. Das ist im Grunde genommen immer ein Tauschmittel gegen Arbeit. Und Schulden sind sozusagen das härteste Tauschmittel gegen Arbeit, und so wird es auch ausgedrückt in der neuen Gelddebatte, daß es sich praktisch um ein neues Geld handelt, auf das nur Arbeit geleistet werden muß.

Es gibt in den letzten beiden Jahren eine hochinteressante Auseinandersetzung darüber, daß genau dies das Geld der Zukunft ist. Man hat den Menschen sozusagen im Kasten, er muß nun etwas tun. Wir sind in der Lage, alle Lebensverhältnisse zu monetisieren, denn Kredite werden inzwischen für alles aufgenommen. Universität, Gesundheit, Anschaffungskredite, Autokredite: Es gibt ungefähr 600 bis 1000 seriöse Kreditsorten bis hin zu Leasinggeschichten, die auf diese Art und Weise monetisiert und auch in sekurisierten Papieren ausgedrückt werden. Das sind nicht nur Werte, sondern auch, weil es Schulden sind, Zukunftswerte. Man geht also zu den Leuten hin und sagt, du mußt in Zukunft dafür arbeiten, deine Arbeitskraft oder dein Arbeitswert sind hier in diesem Papier aufbewahrt. Das kann sekuritisiert, das heißt in Papieren ausgedrückt werden. Das können unter anderem auch Staatsschulden sein, die im Grunde genommen nichts anderes sind als die Arbeitskraft ihrer Bürger. Sie werden dann auf den Märkten verhandelt, herabgesetzt oder heraufgesetzt. Sie sind besonders wertvoll, weil sie einen großen Profit abwerfen. Es handelt sich also tatsächlich um eine neue Geldform, die von Geldtheoretikern seriös diskutiert wird. Das ist übrigens auch das Thema meines neuen Buches.

SB: Die Eigentumsordnung ist letztlich eine Gewaltordnung, die sich qualifizieren muß, um härtere Lebensverhältnisse durchzusetzen. Wenn immer weiter Schulden akkumuliert werden, also im Grunde Verbrauch maximiert wird zu Lasten der Arbeit, die dabei ständig entwertet wird, könnte man sich nicht in einer Art dystopischen Perspektive vorstellen, daß die Beherrschbarkeit des Menschen möglicherweise über die Gewähr von Sachleistungen organisiert wird, anstatt in Form frei verfügbaren Geldes, was in gewissem Ausmaß noch ein anarchisches Medium darstellt? In dieser Richtung weitergedacht könnten Menschen dann über den Mangel, den sie zu befriedigen haben, ganz direkt in die Verfügbarkeit von Überlebensmitteln eingebunden werden. Könnte ein darauf abzielender Entwurf vielleicht als bargeldlose Gesellschaft in Erscheinung treten, so wie heute bereits mit dem Handy bezahlt wird, auch wenn dabei immer noch Geldwerte verschoben werden?

DH: Man könnte auch Überlebensmittelverrechnungseinheiten sagen. Letzten Endes entscheiden natürlich auch Warenkörbe über den Wert einer Währung. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Überlebensmittel und insofern ist es richtig, daß Verrechnungseinheiten eine tragende Rolle spielen. Zwang und Gewalt werden natürlich darüber installiert, daß du die Lebensmittel nicht besitzt und auch nicht selber herstellen kannst und sie nur über Geldmittel erhältst. Ein Beispiel dafür ist das Asylrecht mit der direkten Anbindung an Sachleistungen, die es nur über Bons und Gutscheine gibt. Dennoch halte ich diese Entwicklungstendenz für unwahrscheinlich, da der große Teil der Bürger auch Waren kaufen soll, die beworben werden. Insofern denke ich, daß das zu eng wäre. Da würde das Kapital nicht mitmachen. Im Prinzip trifft die Verknüpfung zu: Weil man viele Sachen nicht mehr selbst herstellen kann, wird man in die Fänge dieses Arbeitsbefehls über Geld getrieben. Wenn die Deregulierung weiter voranschreitet, kriegt man nichts mehr und muß sich alles verdienen. So findet man sich dann praktisch in der Schuldknechtschaft wieder, wie es früher hieß.

SB: Dieser Zwang offenbart sich ja schon jetzt im Hartz-IV-System, wo die Leute ihre Vermögenssituation offenlegen müssen, was von einem Normalbürger nicht verlangt wird.

DH: Das ist ein wichtiger Punkt, der eine immer größere Rolle spielt. Infolge der Informationszwänge, wie wir sie im Buch 'Cluster' [1] aufgezeigt haben, muß man sich quasi nackt ausziehen, alles angeben und so weiter, wenn man Hartz IV erhalten will. Inzwischen geht dieser Trend auch auf alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse über. Beispielsweise gehört die Schuldnerberatung zu den durch die Krise im besonderen vorangetriebenen Mitteln, um die zukünftige Leistungsfähigkeit der Leute bewirtschaften zu können. Auch bei der Schuldnerberatung muß alles auf den Tisch, und dann haben sie dich sozusagen am Wickel. Das gilt inzwischen auch für Studenten, die nur noch Kredite gegen Punkte kriegen, also über ihre universitären Leistungskonten, wo deutlich gemacht wird, daß sie ihr Examen wahrscheinlich so oder so schaffen werden. Die Schuldnerberatung ist Teil des Krisenmanagements und wird von Geld- und Finanztheoretikern auch so miteinbezogen. Zum Beispiel vom Yale-Professor Robert Shiller, der zusammen mit George Akerlof das Buch 'Animal Spirits' geschrieben hat. Shiller ist nobelpreisverdächtig, Akerlof hat ihn schon. Darin werden zur Schuldnerberatung noch andere Daten aufgezählt wie die Perspektive der Human- und Wertressourcen. Auf diese Weise wird der Griff auf den einzelnen umfassender. Ohne diese Berichtspflichten gibt es nichts zu fressen.

SB: Wenn man Währung im Wortsinn als Gewährleistung versteht, dann deutet sich ein Übertrag staatlicher Verfügungsgewalt in einem ganz direkten Sinne an. Was findet da eigentlich statt, was wird verhandelt, wenn man das immer weiter von der realen Wertschöpfung abkoppelt?

DH: So kommt man auf die Reorganisationsimperative, die von der europäischen Schuldenkrise ausgehen. Da ist ersteinmal der Einigungsdruck in Europa, der die Dinge beschleunigt und schon jetzt praktisch alles gesprengt hat, was es in den letzten zehn Jahren überhaupt an freiwilligen Entwicklungen gegeben hat. Mit der Unterwerfung unter diese Diktate der Troika wird gleichzeitig auch eine Strukturpolitik ausgebildet, die den Griff auf die Leute verstärkt. Entrechtung auf der einen Seite und natürlich dann Schuldnerberatung usw. andererseits werden parallel in allen Ländern aufgezogen. Das geht so weit, daß auch das genaue Monitoring der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit darüber abgewickelt wird, so daß die Werthaltigkeit der Schulden in Zukunft einigermaßen gut überprüft werden kann.

SB: Bei der Diffamierung Griechenlands als "Pleitestaat" wird häufig darauf verwiesen, daß der Beitritt des Landes unter Vortäuschung falscher Tatsachen erfolgte. Der Stand der griechischen Volkswirtschaft war jedoch kein Geheimnis. In dem Buch hast du darauf hingewiesen, daß es seitens der EU strategische Gründe gibt, Griechenland stärker in die EU einzubinden. Wie würdest du das Verhältnis zwischen diesen Interessen der EU und der ökonomischen Belastung, die Griechenland in diesem Bild darstellt, bestimmen?

DH: Da spielen auch unwägbare Gesichtspunkte eine Rolle. Dies betrifft etwa den Nutzen Griechenlands für die Kohäsion in der EU. Man weiß nicht genau, was passiert, wenn Griechenland ausscheren sollte. Inzwischen spekuliert man ganz offen auf eine Umschuldung Griechenlands und rechnet damit, daß das Land in die Pleite rutschen kann. Meiner Meinung nach behalten sie sich das vor, um so den Druck auf die übrigen Krisenkandidaten zu erhöhen. Griechenland kann man ohne zu große Risiken Pleite gehen lassen, um zu signalisieren: Seht euch vor und tut gefälligst, was wir wollen! Das ist ein ganz schäbiges Spiel und eine Katastrophe für Griechenland. Das Land wurde ausgesaugt, seine letzten Selbständigkeiten als Staat sind verlorengegangen. Ein Grieche hat einmal gesagt, wir produzieren nicht einmal mehr die Fahrräder, auf denen wir fahren. Die Produktivität ist auf einem sehr niedrigen Niveau und die Chance zur Schaffung von Jobs, in die ein Kapitalist investieren würde, dementsprechend gering. Dasselbe kann man in China viel billiger herstellen. Für Griechenland ist das katastrophal. Damit drohen sie, aber auf der anderen Seite ist die Kohäsion der EU absolut vorrangig.

SB: Die Einführung von Eurobonds wurde von der Bundesregierung abgelehnt. Wie sind deiner Meinung nach die Interessen in diesem Schuldenmanagement verteilt?

DH: Ich denke, die Bundesrepublik ist dagegen, weil dann der Druck aufhören würde. Sie wollen vielmehr einen absoluten Veränderungsdruck auf den Ländern aufrechterhalten. Eurobonds würden das abschwächen. Wenn Eurobonds gemeinsam herausgegeben und diese Titel bzw. Wertpapiere auf dem Markt plaziert würden, natürlich für eine relativ geringe Rendite, weil sie als viel sicherer gelten und daher sofort AAA oder zumindestens AA+ erhielten, dann hätten die Krisenstaaten auf mittlere und lange Sicht überhaupt kein Problem mehr. Das würde allerdings den Druck reduzieren. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Leitlinie Merkels im Augenblick darin besteht, obwohl das manchmal idiotisch aussieht, so viel Unsicherheit wie möglich in den von der Krise betroffenen Ländern zu produzieren, damit die "ihre Hausaufgaben machen", das heißt dieses soziale Zerstörungs- und Entrechtungswerk voranbringen. Das ist die Hauptlinie. Ich bin ein wenig verblüfft, daß gescheite Leute wie Lucas Zeise das nicht einmal ansatzweise diskutieren. Statt dessen findet eine rein technische Oberflächendiskussion statt, eine Scheindebatte, die sich natürlich leicht führen läßt, weil die Bestandteile klar sind. Das ist wie Poker, da weiß man, was diese kleinen Chips wert sind.

SB: Wenn Deutschland andere Länder an den Rand manövriert, um Fügsamkeiten zu produzieren, dann handelt es sich um klassische Nationenkonkurrenz. Während sich die griechische Bevölkerung wehrt, herrscht hier große Zustimmung zur deutschen Politik. Widerstand bzw. Zustimmung sind auf nationaler Ebene innerhalb der EU sehr unterschiedlich gewichtet, aber gleichzeitig wird national bezogener Widerstand als Rückfall in alte Muster verurteilt. Wie sollte ein Linker, der mit Nationalismus nichts am Hut hat, mit dieser Form von Widerstand in Griechenland umgehen?

DH: Ich würde nicht behaupten, daß der deutsche Linke nichts mit Nationalismus am Hut hat. Der äußert sich bloß anders. Die Reaktionen auf Griechenland, auf Spanien und die ganzen Jasminrevolutionen waren ziemlich eindeutig. Das heißt letzten Endes, uns geht es verhältnismäßig gut. Wir wissen, auf welcher Seite unser Brot gebuttert ist und danach bewerten wir die Dinge. Das kriecht selbst in die Geschichte der Klassenkämpfe hinein, die relativ wenig dazu getan hat, dieses Denken aus den Leuten herauszutreiben. Es gibt den Begriff des Sozialimperialismus. Das heißt, ein Kernland wie Deutschland zieht sozusagen einen Nutzen aus der Ausbeutung, was letzten Endes in die Politik hineinspielt. Das ist bis heute gepflegt worden, übrigens auch von den Gewerkschaften. Ich denke, auch bei der Linken ist das noch so. Wer geht denn hin und sagt, wir müssen einen gemeinsamen Kampf führen und notfalls auch auf bestimmte Dinge verzichten. Wer tut das denn?

SB: Die antinationale Linke spricht sich gegen Kräfte wie die KKE in Griechenland aus, weil sie internationalistische, im klassischen Sinne auch antiimperialistische Positionen vertritt. Wie ließe sich diese Auseinandersetzung innerhalb der Linken überwinden, wenn man einerseits einen gemeinsamen Kampf zu führen beansprucht, sich aber andererseits gegen einen Widerstand positioniert, der von den Griechen in dieser Zuschreibung geführt wird?

DH: Was heißt das, die Griechen? Wir haben in der Geschichte der Klassenauseinandersetzung eine ständige Veränderung der Zuschreibungen und Identitäten erlebt. Den Bauern, der morgens die Rößlein einspannt und seine Felder und Wiesen in Stand setzt, gibt es nicht mehr. Das ganze bäuerliche Leben, auch der Stolz und das Wissen, daß die da oben von ihm abhängen, weil sie sein Korn fressen müssen, sind weg. Die größte Macht, die er damals hatte, war, in Rußland jedenfalls, mit dem ganzen Dorf wegzuziehen. Dann saß der Gutsherr da und hatte nichts zu fressen. All diese ganzen Geschichten, die Identität, Autonomie und Stärke bedeuteten, sind flötengegangen. Auch dem Griechen ist das Häuschen, der Garten, aus dem er sich verpflegen konnte, die Arbeiterwohnung in der Arbeitersiedlung, weggenommen worden. Das wurde auf den Staat übertragen, und damit haben sich auch die Anforderungen geändert wie auch das Bewußtsein, das einem etwas zusteht. Griechen gibt es in dieser Form nicht mehr. Ich denke, das wird auch im Zuge der arabischen Revolution, in Spanien und so weiter zunehmend deutlich, daß die Leute sich gegenseitig ganz anders wahrnehmen. Das braucht leider lange Zeit. Wäre das nicht so, dann wären wir in der Lage, dem Kapital, das über die Finanzmärkte sehr geschlossen strategisch operiert, etwas entgegenzusetzen. Aber unsere Köpfe sind langsam. Ein Tanker hat einen Wendekreis von 5 Kilometern, aber unsere Köpfe haben einen noch viel größeren.

SB: Seitens der EU-Kommission wurde die Forderung erhoben, eine eigene Ratingagentur aufzubauen, um gegenüber den drei großen, gemeinhin mit den USA identifizierten Agenturen eigene Bewertungen abgeben zu können. Dies erzeugt den Eindruck, als vermittle sich über diese tatsächlich ein US-Einfluß gegenüber der EU. Würdest du das so sehen?

DH: Überhaupt nicht. Als Moody's und Standard & Poor's gefordert haben, den sozialen Krieg in den USA zu verschärfen, sonst stufen wir euch herunter, war das wirklich ernst gemeint. Das liegt daran, daß sie nach bestimmten Maßstäben bewerten müssen, was die Bonds wert sind, und dann verhalten sich die Leute entsprechend. PIMCO, die keine Kalifornier sind, aber ihren Sitz dort haben und 1,5 Billionen verwalten, haben auch gesagt, daß sie keine amerikanischen Bonds mehr kaufen. Die werden nicht irgendwie gesteuert. Das sind Weltkapitalisten.

SB: Und was sagst du zu der EU-Initiative, eine eigene Ratingagentur aufzubauen?

DH: Das ist Schwachsinn! Die Leute sind im Kopf ein bißchen zurückgeblieben, weil sie immer noch glauben, daß der Staat die Macht hat. Das stimmt aber nicht, sondern die Macht liegt bei den institutionellen Anlegern, die natürlich auch bestimmte Verpflichtungen haben, bei denen sich aber das Geld in diesen Riesengeldtöpfen, den Pensionsfonds, Pensionskassen usw. sammelt. Da sitzen die Mäuse! Das ist auch die Basis, auf der Schulden gemacht werden können. Die gehören aber nicht dem Staat. Der hat nicht den geringsten Einfluß darauf. Diese Leute hören nicht auf den Staat, wenn er sagt, so und so ist das Rating, im Gegenteil, die schlagen die Hände über den Kopf zusammen. Das ist völlig idiotisch, als ob es nie eine wissenschaftliche Debatte über Ratingagenturen gegeben hätte. Es ist doch klar, daß die nicht damit aufhören, nur weil die Bundesrepublik Deutschland ihnen sagt, passen Sie mal auf, raten Sie mal so und so, das müssen Sie doch berücksichtigen. Da sagen die, Pustekuchen, ich höre auf die! Da hört alle Welt drauf, wenn ich nicht mehr auf die höre, da bringen die mir das Geld nicht mehr. So ist das!

SB: Die USA gelten als ziemlich absturzgefährdet. Du hast in eurem Buch auf ihren technologischen Vorsprung verwiesen und darauf abgehoben, daß sie über ihre Innovationsdynamik eine Stärke besitzen, die nicht einholbar ist.

DH: Nein, absolut nicht einholbar.

SB: Die USA erheben als Staat einen globalpolitischen Hegemonialanspruch. Barack Obama hatte bei seiner letzten State of the Union Adress ausdrücklich die Forderung nach verstärkter technologischer und wissenschaftlicher Innovation erhoben. Wie würdest du den Zusammenhang zwischen dem unter US-Label firmierenden und dem transnationalen Kapital vor diesem Hintergrund erklären?

DH: Transnationales Kapital, insofern es Finanzkapital ist, ist extrem mobil. Die bewerten Renditemöglichkeiten, und dazu benutzen sie unter anderem die Ratingagenturen. Da gibt es übrigens Tausende, die Spezialratings erstellen, die überhaupt nicht mit den drei großen Agenturen zusammenhängen. Die drei großen sind sogar verhältnismäßig schwerfällig und verwerten auch Informationen von den kleinen Ratingagenturen. Das ist ein riesiger Komplex. Die Finanzmärkte selber sind viel mobiler und auch hegemonial nicht so leicht zu zähmen. Man merkt es jetzt an der Finanzpolitik der USA, an der Fed, wie die gleichzeitig angebunden ist und Rücksicht nehmen muß. Das andere ist der Realsektor, der produktive Sektor. Diese Finanzoffensive mit neuen Finanzierungsmöglichkeiten usw. ist im Zuge des großen informationstechnologischen Schocks systematisch von Alan Greenspan unter Inkaufnahme einer Entwicklung wie nach 1929 vorangetrieben worden. Das haben sie sehenden Auges gemacht. Sie haben gesagt, dieses Mal machen wir es ein bißchen besser und schießen gleich jede Menge Liquidität hinein, dann haben wir die Probleme von 1929 nicht. Wir machen das so, wie es Milton Friedman gefordert hat. Über diese Entscheidung gab es innerhalb der Fed eine große Debatte.

Aber 1929 geschah ungefähr dasselbe wie heute. Damals gab es eine ungeheure Entfesselung von Finanzinnovationen durch Konsumentenkredite und einen enormen Schub in der Produktivität der Fließbandfabriken, die den Taylorismus enorm vorangetrieben haben und dann in einer Überakkumulationskrise abgestürzt sind, die so ähnlich ist wie die heutige. Die waren technisch und kapitalistisch führend, und Europa konnte nicht hinterher, da es damals wie heute keinen gemeinsamen europäischen Markt gegeben hat. Man hatte nicht die Möglichkeiten, industries of scale voranzutreiben. Der Realsektor in den USA wird von einer nationalen Entwicklungspolitik, von einer richtiggehend gezielten Innovationspolitik gefüttert. Da ist Obama der Mann. Obama ist der Mann der Informationstechnologien, Bush war der Mann des Öls. Obama gibt jede Woche eine Pressekonferenz über die Entwicklung auf dem Technologiesektor, besucht ständig technologische Zentren, sitzt ständig mit Eric Schmidt und Steve Jobs und Sergey Brin und Mark Zuckerberg an einem Tisch, fliegt extra nach Kalifornien, um mit denen Brötchen zu essen und die neuesten Sachen zu besprechen.

Das sind die Sektoren, die die Produktivität heute bestimmen und beherrschen. Wenn man die kontrolliert, dann ist man wirklich Hegemon in der Welt. Das ist natürlich ortsgebunden und beruht auf den wissenswirtschaftlichen Fähigkeiten der amerikanischen Universitäten, obwohl sie von sich selbst sagen, unsere Schüler taugen nichts und wir müssen die Schulen voranbringen, so wie hier auch. Da gibt es durchaus einen Wettlauf. Aber die führenden Unternehmen im Cloud-Computing sitzen in den USA. Microsoft und IBM haben riesige Cloud-Abteilungen. Da sitzen die hier in Deutschland und sagen, ja kriegen wir vielleicht ein bißchen was davon, wir müssen es leider kaufen, aber macht es möglichst billig und beteiligt uns doch bitte an der Entwicklung. Pustekuchen! Das ist weitaus schärfer, als es 1929 gewesen ist.

Wir wissen doch, wie das Wertschöpfungsgefälle beschaffen ist, da sitzen sozusagen die Kerntechnologien, dafür müssen bestimmte Sachen bezahlt werden, die hast du sicher, die kann dir keiner nehmen. In China ist überhaupt nicht absehbar, daß eine solche Entwicklung stattfindet, und Europa hinkt mit schleppenden Beinen hinterher. Das entfaltet eine Explosivität, die unglaublich ist.

SB: Dabei bildet man sich in Europa viel darauf ein, eine gewisse administrative Effizienz entwickelt zu haben. So wird gerne behauptet, daß die Verwaltung in den USA nicht so gut wie funktioniere, daß man hier stringenter plane.

DH: In der Frage der Organisation von clustermäßig organisierten Innovationsschüben hält sich der Staat am besten heraus. Der begünstigt nur, stellt Sachen zur Verfügung , vergibt ein paar Medaillen, und den Rest sollen die neuen Eliten selber machen. So ist im Grunde genommen das Selbstverständnis hier in Europa. Da nützt eine Behörde überhaupt nichts. In Frankreich hat das Entwicklungsministerium einen hervorragenden Clusterbericht erstellt, bloß ist nichts daraus geworden. Derartige Dinge können sie gut herstellen, nur hört kein Mensch darauf, vor allem die innovativen Eliten nicht.

SB: In eurem Buch habt ihr den Übertrag des deutschen Modells der Agenda 2010, also die verschärfte zwanghafte Inwertsetzung von Arbeit, auf die gesamte EU beschrieben. Ist das im Sinne der Verfügungsgewalt nicht ein administrativ innovativer Schritt?

DH: Ja, genau. Es gibt ein paar Leute wie Barry Eichengreen, die sich ein wenig an Joseph Schumpeter, der Hitler sehr bewunderte, orientieren und sagen, daß wir an einem Punkt wie 1929 sind. Es war vor allem der Faschismus, der in Europa einen organisatorischen Zugriff auf die arbeitsfähigen Massen zustande gebracht hat. Das ist in den USA in dieser Art und Weise nicht möglich gewesen, obwohl dort faschistoide Organisationen von männlichem Selbstverständnis wie YMCA durchaus einige Anstrengungen in dieser Richtung unternommen haben. Aber da hinken die natürlich hinterher. In der Faschisierung macht uns keiner etwas vor.

SB: Wie könnte eine Subjektivität, die beansprucht, sich von der Kapitallogik nicht vereinnahmen zu lassen und sich ihrem Effizienzdenken zu widersetzen, die weder berechenbar noch zählbar sein will, tatsächlich autonom werden?

DH: Das ist sie schon. Schließlich hat der Innovationsdruck, der in diese Krise gemündet ist, eine große Lücke gerissen. Das läßt sich an allen möglichen Ausdrucksformen erkennen, zum Beispiel Stuttgart 21 oder jetzt die neue Trasse durch die Alpen, von Turin nach Lyon, wo Leute plötzlich Widerstand leisten und mit dem schwarzen Block zusammenarbeiten, wo selbst Bürgermeister, die früher gedacht hätten, mit solchen Leuten habe ich nichts zu tun, ihre Auffassungen überdenken, weil das Kapital in eine große Legitimationskrise geraten ist und die Identitäten nicht mehr an sich binden kann. Das Kapital kann keine klassischen Funktionsidentitäten mehr vergeben etwa von der Art , daß du als Abteilungsleiter jemand bist. Jetzt ist jeder jederzeit ersetzbar, manipulierbar und kontrollierbar. Du bist nichts mehr, und das führt dazu, daß sich die Bindung auch infolge der Schuldenkrise löst. Wenn man den Leuten sagt, du bist ja nicht einmal mehr Grieche, dann fangen sie an, nach etwas zu suchen, was ihnen selber gehört. Das ist ihre Subjektivität, etwas, das plötzlich entlassen scheint und von unten her die Basis von Gesellschaftlichkeit und gegenseitigem Vertrauen schafft. Wir machen etwas zusammen, wir organisieren uns, face to face, gar nicht einmal mehr über Facebook, sondern untereinander, wo man sich in die Augen schaut und Vertrauen lernen muß, weil man mit anderen etwas zusammen macht.

Dadurch entsteht plötzlich etwas, das sich aus sich selbst heraus organisiert. In den Maghreb-Staaten und in Ägypten ist das deutlich geworden, als sich plötzlich eine unglaubliche Fähigkeit zur Selbstorganisation Bahn gebrochen hat. Das erlebt man hier auch, und ich denke, das wird sich zu einem Widerspruch verfestigen. Das ist umkämpftes Terrain. Früher war der Faschismus eine Antwort darauf gewesen, eine Einladung an die Massen, die dem Ruf auch gefolgt sind und sich ihren Platz unter fordistischen Bedingungen gesucht haben. Aber noch ist es nicht so weit. Ich glaube, wir wissen selbst nicht, wieviel Zeit wir dazu haben. Da wächst etwas heran. Sicher, wir müssen es vorantreiben. Das ist etwas, zu dem das Kapital keine Brücken hat. Wenn man so etwas mit Freunden zusammen macht, spielen noch ganz andere Sachen eine Rolle. Man feiert zusammen, irgend jemand erzählt etwas über sich. Wir sind entlassen aus den alten Gehäusen und eisernen Käfigen. Es ist frei flottierende Subjektivität, die sich etwas aufbaut und sich formiert. Das sehe ich sehr positiv, und das ist nicht zu durchdringen. Da gibt es keine politischen Formen, über Parteien schon gar nicht. Merkel merkt das im Augenblick ja gerade. Selbst die CDU-Seele schwimmt ihr weg. Und in Italien ist das auch spürbar. Da ist etwas in Bewegung gekommen, das sich aufbauen kann. Das ist eine Chance zur Revolution.

SB: Unter Linken wird durchaus Kritik an sogenannten Bewegungsmanagern geübt, die bei Attac oder in NGOs tätig sind, wo sich ein reformistischer Zug durchsetzt, der letzlich wieder in irgendeinem Parlament ankommt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Partei Die Linke, wo man, anstatt den Flügel zu unterstützen, der im Grundsatz noch radikal denkt und ohnehin verschwindend gering ist, auf eine Einheitsbewegung drängt. Das ließe sich als relativ entwickelter Versuch verstehen, Zugriff auf diese Subjektivität zu bekommen und den Widerstand in scheinbar oppositionellen Bahnen zu kanalisieren, die aber bereits durchdrungen sind von professionalisierten, zweckorientierten Strukturen und Agenden.

DH: Ja, das birgt die Gefahr eines Neoreformismus mit völlig anderem Gesicht, ähnlich wie die Progressives in den USA vor 1914 und hier in Deutschland die Sozialdemokratie, die schon damals mit der Revolution nichts mehr am Hut hatte und sich über Ortsvereine und berufsständische Vereinigungen dem Staat angedient hat. Die Sozialdemokraten versuchen, etwas einzubringen, aber es hört niemand auf sie. Ähnliches gilt für Attac, auf die hört niemand mehr. Die schaffen es nicht, eine Front aufzubauen. Ich mache mir ungern Gedanken des Gegners, das wäre auch lähmend in so einer Situation. Wir müssen diese Selbstorganisationsprozesse unter allen Umständen selber betreiben und dann auch bestimmte Dinge aufgeben. Darin steckt eine Chance. Enggestrickte Zusammenhänge bieten ja etwas, was man für Geld nicht kaufen kann und die Gegenseite auch nicht leisten kann. Dafür gibt es keine Behörde und keine Versicherung.

SB: Detlef, vielen Dank für das lange Gespräch.

Fußnoten:

[1] REZENSION/565: Detlef Hartmann, John Malamatinas - Krisenlabor Griechenland (SB)
http://schattenblick.org/infopool/buch/sachbuch/busar565.html

[2] REZENSION/451: Detlef Hartmann, Gerald Geppert - Cluster (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar451.html

Transparent gegen Gewalt und Rassismus - © 2011 by Schattenblick

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29. Juli 2011