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INTERVIEW/079: "Taste the Waste" - Hanna Poddig, politische Aktivistin (SB)


Interview mit der politischen Aktivistin Hanna Poddig am 11. September 2011 in Hamburg


Am 11. September wurde im Hamburger Abaton-Kino der Dokumentarfilm "Taste the Waste" des Regisseurs Valentin Thurn gezeigt. Bei einem anschließenden Podiumsgespräch gaben er und sechs Gäste Stellungnahmen zu dem Gezeigten ab und beantworteten anschließend einigen Fragen aus dem Publikum. Zu diesem Abend eingeladen war auch Hanna Poddig, die als Mülltaucherin (angelehnt an das Englische "dumpster diving") bzw. Containerer vorgestellt wurde. Sie lebt größtenteils von dem, was Supermärkte in Containern wegwerfen, und versteht dies als politische Aktion. Doch Hanna Poddigs politische Aktivitäten, von denen das Containern ein Aspekt von vielen ist, auf ihre spezifische Art der Nahrungsbeschaffung zu reduzieren, wird ihrer Person und ihrem Selbstverständnis nicht gerecht.

So hatte sie sich im Februar 2008 im nordfriesischen Ohrstedt an Bahnschienen angekettet und dadurch einen Transportzug der Bundeswehr eine Zeitlang aufgehalten. Wegen dieser Störung öffentlicher Betriebe und Nötigung wurde sie vom Landgericht Flensburg zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt; das Oberlandesgericht in Schleswig lehnte die Berufung ab, reduzierte aber die Strafhöhe auf 90 Tagessätze. Da die 1985 geborene Hanna Poddig aus prinzipiellen Gründen ablehnt, die Strafe zu zahlen, muß sie demnächst eine Haftstrafe absitzen.

Abgesehen von ihrem Engagement gegen den Krieg leistet Hanna Poddig Rechtsberatung für andere politische Aktivistinnen und Aktivisten. Wobei ihre Unterstützung in einem konkreten Fall, bei dem zwei Containerer von der Staatsanwaltschaft Döbeln angeklagt wurden, weil sie angeblich Müll aus einem Supermarktcontainer "gestohlen" hatten, von Amts wegen abgelehnt worden war. Die "bestohlene" Filiale der Marktkaufkette in Döbeln hatte keine Anzeige erstattet, doch die Staatsanwaltschaft hatte in dem Vorgang ein "besonderes öffentliches Interesse" gesehen. Nachdem das Verfahren gegen Frederik V. bereits vor einiger Zeit eingestellt worden war, endete der Prozeß vor dem Amtsgericht Döbeln am Mittwoch, den 21.9.2011, mit einem Freispruch für Christof N. Ihm konnte nicht nachgewiesen werden, daß er die Lebensmittel tatsächlich aus einem in dem Strafbefehl aufgeführten Container entnommen hatte.

Im Anschluß an die Vorführung von "Taste the Waste" und das Podiumsgespräch sprach der Schattenblick mit Hanna Poddig über den Film und ihre Aktivitäten.

Hanna Poddig - Foto: © 2011 by Schattenblick

Hanna Poddig
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Im Film wie auch bei der Podiumsdiskussion vorhin wurde über die Tafeln, die Lebensmittel vom Supermarkt erhalten, die ansonsten weggeworfen worden wären, berichtet. Ist es nicht in gewisser Weise eine Herabwürdigung, wenn Menschen von Almosen leben?

Hanna Poddig: Das meinte ich vorhin mit dem Begriff Armutsverwaltung. Die Armut wird dadurch verschleiert, was ich total fies finde. Aber natürlich ist es gut, daß es die Tafeln gibt, damit die Nahrungsmittel nicht in der Tonne landen und sie bei denen ankommen, die sie dringend brauchen.

SB: Das Bild mit dem Slogan "Free the Food" finde ich sehr gelungen. Doch wenn man jetzt sieht, daß die Tafeln und andere Institutionen eigene Strukturen aufbauen, um den Überfluß zu verteilen, muß man da nicht befürchten, daß es irgendwann aus ganz anderen Gründen nicht mehr möglich sein wird, vom Müll zu leben, weil die Lebensmittelabfälle in die Verwaltung des Mangels integriert werden?

HP: Ja, ich kann mir vorstellen, daß es soweit kommt, aber ich hänge nicht am Containern und mache es nicht, weil es so schick ist. Für mich ist das kein Lifestyle, sondern etwas sehr Praktisches. Ich müßte mir dann notgedrungen etwas anderes suchen, um möglichst autonom agieren zu können. Ich gehe Containern, damit ich mir die Zeit frei einteilen kann, nicht lohnabhängig arbeiten muß und mehr oder weniger machen kann, was ich will. In meinem Fall ist das politische Arbeit. Falls das nicht mehr möglich sein sollte, müßte ich mir andere Optionen suchen.

Natürlich würde mehr vom Müll genutzt werden, wenn es einen professionelleren Umgang damit gäbe. Auf der anderen Seite ist es Unsinn, sich optimierte Lösungen auszudenken, was mit dem Müll sinnvoll geschehen soll, denn das Problem besteht eben darin, daß er überhaupt entsteht. Es ist doch unerträglich, wenn eine Bäckerei das zuviel gebackene Brot in den Öfen verfeuert, um so neues Brot zu backen. Wenn dann zur Rechtfertigung auch noch die Rechnung aufgestellt wird, daß man auf diese Weise ein Atomkraftwerk einsparen könnte, ist das total absurd. Anstatt das Brot da reinzuwerfen, könnte man einen anderen nachwachsenden Rohstoff zum Befeuern der Öfen nehmen. Dann wäre die Energie nicht verschwendet, die für das Brotbacken verbraucht wurde. Das überschüssige Brot könnte man dann den Leuten zum Essen geben. Das wäre doch viel sinnvoller, auch wenn sich das natürlich für den Betrieb nicht rechnet. Über solche Optionen wird gar nicht mehr nachgedacht, weil man den Müll längst akzeptiert hat und das an grundsätzlichen Dingen rührt.

SB: Nach der marktwirtschaftlichen Forderung der Grünen müßten Nahrungsmittel bedeutend teurer werden, um die Produktion qualitativ hochwertiger Nahrung sicherzustellen, aber dann hätten viele Leute in Deutschland womöglich nichts mehr zu essen. Wie gehst du mit dem Widerspruch um, daß die industrielle Produktivität auch preiswerte Nahrung verfügbar macht?

HP: Es wird häufig gesagt, das Problem sei die Verteilung der Lebensmittel. Für mich gibt es kein Verteilungsproblem in dem Sinne, daß irgendwo ganz viel und woanders ganz wenig ist. Genau umgekehrt besteht das Problem darin, daß es überhaupt von A nach B befördert wird, denn eigentlich wäre überall genug vorhanden. Wenn man das regional verwenden würde, was regional auch wächst, und Menschen in kleineren Wirtschaftsstrukturen denken und leben würden, gäbe es dieses Problem nicht, Waren zu ordentlichen Preisen zu bekommen. So allerdings entsteht das Dilemma zwischen realpolitischen nationalen Forderungen und der globalen Verantwortung, die dann vollkommen nach hinten überkippt, weil man mit höheren Preisen natürlich nichts gegen den Landraub in Brasilien unternommen hat. Daran erkennt man ganz schnell, daß man das alles nicht getrennt voneinander betrachten darf. Den Leuten auf Borneo ist der jeweilige Grund, weswegen sie enteignet werden - etwa weil auf ihren Feldern Zuckerrohr, Palmöl oder Eukalyptus für Papiermonokulturen angebaut werden soll - egal; das ist denen zu Recht total schnuppe. Das heißt, ich muß diesen Kampf immer zusammen mit anderen Kämpfen um lokale Autonomie im weitesten Sinne denken. Da ist Nahrung kein regionaler Einzelfall, sondern steht in einem Kontext mit allem, das globalisiert ist. Das ist bei Klamotten genauso wie bei Papier oder Elektronikgeräten. Das sind alles Sachen, die auf den Kopf gestellt gehören.

SB: Welchen praktischen Ansatz siehst du, einmal abgesehen vom sinnvollen Charakter regionaler Strukturen gegenüber der globalisierten Marktlogik, für die Entwicklung einer antikapitalistischen Position, die den gesamten Tauschhandel über Geld aufhöbe?

HP: Ich glaube, man muß das grundlegend in Frage stellen. Ich halte gar nichts von Geld, weil sich Dinge nicht ineinander umrechnen lassen. Ganz einfach gefragt, wie kann man mit Geld Brot in Wasser umrechnen? Ich habe entweder Durst oder Hunger. Geld ist da eine völlig unsinnige Erfindung. Zu behaupten, eine Sache ließe sich in eine andere umrechnen, spielt immer mit dem Mangel. Das ist in der Geldlogik schon angelegt und in der Zinslogik natürlich noch mehr. Die Grundlogik von Geld ist nicht bedürfnisorientiert. Ich bin aber auch keine Befürworterin von direktem Tausch. Ich würde mir wünschen, daß Menschen solidarisch und bedarfsorientiert produzieren. Das ist natürlich ein hehres Ziel, aber ich bin an dieser Stelle eher ein Anhänger von Gratisökonomie. Ich schaffe Orte, wo ich Dinge tausche oder wo ich Dinge weitergebe, ohne daß ich direkt eine Gegenleistung verlange. Das sind Orte, an denen Handel in dem Sinne stattfindet, daß ich etwas gebe und Leute etwas nehmen oder daß ich vielleicht nur etwas nehme oder nur etwas gebe, aber daß es zu einem Austausch kommt, der sich an dem orientiert, was Leute gerade brauchen.

Dazu gibt es nicht allzu viele Ansätze, aber es gibt sie. Zum Beispiel Versuche, nichtkommerzielle Landwirtschaft zu betreiben, also Höfe, die einen Teil ihrer Fläche marktwirtschaftlich bestellen, damit sie irgendwie überleben können, aber einen anderen Teil explizit nichtkommerziell bewirtschaften. Wenn dann der Hof in der nächstgelegenen Stadt anruft und sagt: Hey, wir brauchen fünf autonome WGs, die uns jetzt bei der Kartoffelernte helfen. Dann kommen Autonome, die noch nie eine Kartoffel gesehen haben, aufs Land und kriegen dafür ihre Kartoffeln. Das ist, so marginal das auch klingt, ein spannender Versuch. In anderen Bereichen gibt es das bereits - wie in Umsonst-Läden, wo unglaublich viele Klamotten hin und her gehen, weil viel mehr Klamotten produziert als gebraucht werden. Es gibt auch Tauschbörsen und Projekte, die versuchen, sich weitgehend gratisökonomisch zu organisieren. Das ist natürlich schwierig, aber es werden ja nicht nur Lebensmittel weggeschmissen. In den Containern habe ich auch schon Flachbildschirme gefunden.

SB: Du sprichst im Grunde von Strukturen zwischen Menschen, wie sie in Deutschland zum Beispiel in Kommunen experimentiert wurden, in denen es darum ging, das Eigentum als Organisationsform aufzuheben. Wie stellst du dir persönlich Ansätze zu Lebensformen vor, die sich anders organisieren als über den Tauschwert des Geldes?

HP: Ich glaube, ich bin ein Stück weit als Berufsaktivistin betriebsblind. In meinem eigenen Alltag habe ich nicht allzuviel Bezug zu dem, was unter Menschen in meinem Alter normal ist. Deswegen kann ich da sicherlich nichts Repräsentatives sagen. Wenn ich jedoch auf Veranstaltungen und Lesungen oder auch beim Trampen aus meinem Leben erzähle, dann machen viele Leute große Augen, weil sie sich das überhaupt nicht vorstellen können. Ich lebe aus meinem Rucksack. Klar, hier und da sind auch ein paar Aktenordner und Fotos, aber ich habe kein eigenes Zimmer, keinen festen Wohnsitz. Mein Rucksack reicht mir, und das bringt die Leute komplett aus der Fassung, weil das nicht in ihr Leben reinpaßt und sie sich nicht vorstellen können, wie das gehen soll. Das ist meines Erachtens der relevante Punkt, dieses Sichvorstellenkönnen, Fragen in den Raum zu stellen und sich zu trauen, die Normalität immer wieder anzukratzen. Das ist etwas, worin ich Potential sehe. Ich glaube nicht, daß die Leute so weit sind, sich zu wünschen, in Kommunen zu leben, sondern sie trauen sich gar nicht mehr, die Debatte darüber zu führen, ob sie sich vielleicht wünschen könnten, in Kommunen zu leben. Es ist unüblich geworden, daß sich Leute treffen und miteinander reden. Es gibt ganz wenig Orte, wo die Frage gestellt wird: Wie wollen wir leben? Das wird von vielen als Phase abgetan, wenn man zum Beispiel als Student in einer WG wohnt, aber das ist nicht von Dauer. Schließlich will jeder eine eigene Wohnung, mindestens zwei Zimmer für sich, und so weiter. Und plötzlich kommen die Leute mit ihren Ansprüchen an einem Punkt an, wo nichts mehr mit anderen Menschen zusammengeht, was in einer Utopie-Debatte hätte entwickelt werden können.

SB: Du verhältst dich in deiner nomadischen Utopie fast subversiv gegenüber jeder Form von bürgerlicher Seßhaftigkeit oder Vergewisserung, die man allgemein mit dem Begriff der Sicherheit verbindet. Da stellt sich die Frage, ist das eher eine Zwangslage oder ließe sich das auch als eine Form von Befreiung denken, sich nicht auf diese Zwänge einzulassen, die ein fester Wohnsitz notwendig mit sich bringt?

HP: Für mich persönlich ist das eine Befreiung. Ich bin als klassisches verwöhntes Einzelkind großgeworden und hatte immer ganz viel Zeug, was beim Umziehen zum Problem wurde. Ich brauchte all die Sachen gar nicht und es tat mir gut, sie loszuwerden. Ich weiß aber, daß es Leute gibt, denen es guttut, Dinge aufzubauen. Ich habe meine Rolle gefunden, daß ich hin und her fahre, vernetze und dadurch Wissen weitertrage. Allerdings gibt es dabei Leute, auf die ich zurückgreifen kann, die lokal irgendwelche Projekte machen und aufgrund dessen über lange Zeit an einem Ort gebunden sind. Von daher würde ich das eine nicht grundsätzlich gegen das andere stellen. Es kommt darauf an, wie diese Projekte organisiert sind. Seßhaftigkeit als solches würde ich nicht als Inbegriff des Spießig-Bösen deuten, sondern es ist immer die Frage, wie gestalte ich das, wofür ich mich entschieden habe. Mache ich es, weil ich keine Alternativen sehe oder weil ich Lust darauf habe. Ich habe mich für das Leben, das ich gerade führe, entschieden, weil sich alles andere für mich nach Eingesperrtsein anfühlte. Andere Leute können sich bewußt auch für etwas ganz anderes entscheiden.

SB: Was verstehst du unter dem Begriff Berufsaktivistin, den du selbst gewählt haben? Normalerweise steht Beruf für ein lohnabhängiges Verhältnis. Ist das für dich so etwas wie eine Berufung?

HP: Immer wenn ich irgendwelche blöden Formulare ausfüllen muß, merke ich, daß mein Leben nicht in Formulare paßt. So ähnlich verhält es sich mit diesen Begriffen. Wenn mich irgendwer fragt, was ich denn bin, dann stehe ich da und denke mir, tja, Vollzeitaktivistin? Klingt auch komisch, denn die Leute glauben dann, ich würde mich den ganzen Tag anketten, was ich aber nicht tue. Sage ich "Berufsrevolutionärin", dann lachen die Leute, bis ich ihnen erkläre, daß ein Richter einmal über Aktivisten behauptet hat, sie seien Berufsrevolutionäre. Nette Beschreibung, aber für mich inhaltlich nicht ganz richtig. Sage ich jedoch Berufsaktivistin, stellt man mir die Frage, wovon ich eigentlich lebe. Ich komme um das Dilemma nicht herum. Was ich damit inhaltlich sagen will, ist, daß ich keine Lohnarbeit habe. Ich bin nicht davon abhängig, irgendwo irgendwelche Blödarbeit zu verrichten, sondern kriege von dem, was ich gerne tue, quasi nebenbei genug Geld, um davon leben zu können. Ich lebe ohnehin weitestgehend ohne Geld. Für eine Veranstaltung bekomme ich ein Honorar, ich mache meinen Büchertisch und kann davon den Druck des nächsten Buches finanzieren. Wenn ich irgendwo als Referentin auftrete, kriege ich auch ein bißchen, und das reicht dann halt.

SB: Wie würdest du die Szene beschreiben, in der du dich aufhältst, vernetzt und Projekte planst? Gibt es dafür ein politisches Etikett?

HP: Ja, ich mache schon ziemlich viel Vernetzungsarbeit zwischen sehr unterschiedlichen Szenen und habe Kontakt zum klassisch autonomen Umfeld. Das sind Leute, die Theorieschriften übersetzen und auch herausgeben, linksradikale Demos organisieren oder ständig unterwegs sind und auf jedes Transparent mindestens fünfmal "Staat, Kapital, Nation - alles Scheiße" draufschreiben müssen, was durchaus stimmt und seine Berechtigung hat, aber kulturell nicht zusammengeht mit Leuten, die mit einer bayerischen Tracht zu einem Gentechniklobby-Treffen fahren, um sich dann in ebendieser Tracht auf die Straße zu stellen und die anfahrenden Lobbyisten zu blockieren. Es sind ganz unterschiedliche Szenen, in denen ich mich bewege, mit ganz speziellen Motivationen, aktiv zu sein. Mein Nahumfeld mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten besteht eher aus Leuten, die vielleicht im Bauwagen wohnen, in Frankfurt den Wald besetzen, Menschen, die aus ihren Konventionen ausgebrochen sind, die vielleicht eine Berufsausbildung absolviert hatten, dann aber erkannten, daß das nicht das Richtige war, die auf der Suche nach etwas anderem waren, nach irgendeinem Sinn, der ihr Leben stärker ausfüllt. So verschult, wie Studiengänge eben sind, war ein Studium auf keinen Fall eine Option für sie, also haben sie gesagt, dann besetzen wir jetzt einen Wald. Oder es sind Leute, die von einer Waldbesetzung gehört haben, dort hingefahren sind und sich dann entschlossen zu bleiben. Oder es sind Leute, die sich von bestimmten Aktionen angesprochen fühlten. Zum Beispiel wurden in diesem Frühjahr unglaublich viele Genfelder besetzt, weil das etwas Handfestes und irgendwie auch politisch motiviert war. Ich gehe auf den Acker und verhindere den Anbau genetischer Feldfrüchte. Da gibt es ganz verschiedene Beweggründe.

SB: Du hast auch antimilitaristische Aktionen gemacht. Welchen konkreten Ansatz hast du für dich entwickelt, um in das Räderwerk der Kriegsmaschinerie zu greifen?

HP: Ich suche mir meine Kooperationspartner entweder selbst aus oder sie kommen zu mir, das findet sich halt. Es gibt Regionen mit systemkritischen bis linksradikalen Organisationen, an die ich andocken kann. Gerade im Anti-Atombereich gibt es deutlich radikalere Stimmen und auch in der Antimilitarismusszene in Schleswig-Holstein, wo ich 2008 diese Ankett-Aktion gemacht habe. Ich kooperiere lokal auch mit der Linkspartei, die mir sonst eher fern ist, weil ich mit Parteien nichts anfangen kann und mir diese Parteienlogik auch stinkt. Aber lokal ist das auf jeden Fall eine großartige Unterstützung, und wenn wir nur deren Büro nutzen können und deswegen zu unserer Lesung statt drei dann sieben Leute kommen.

Häufig sind es lokale Initiativen, die seit Jahren an irgendwelchen Themen arbeiten und tief drinstecken, und wo wir dann dazukommen können. In Frankfurt bei den Flughafenbesetzungen war das so. Es gibt diese BI - Bürgerinitiative - seit den Startbahn-West-Zeiten und sogar länger. Die bilden das inhaltliche Fundament, auf die kann ich mich verlassen. In Husum gab es eine skurrile Situation, als wir ein antimilitaristisches Camp vor einer der Kasernen aufgezogen haben. Da kamen dann Leute zu uns und sagten, wir haben hier vor 20 Jahren auch gecampt. Und wir dachten, unsere Idee sei gut und neu, aber sie war nicht neu. Die Leute hatten vor der gleichen Kaserne auf dem gleichen Grünstreifen gecampt, und wir wußten es nicht einmal, kannten die Leute nicht. Da sieht man, wie wichtig es ist, Wissen über Vernetzungen weiterzugeben. Auf der anderen Seite wäre natürlich auch eine regionale Kontinuität wünschenswert, die dieses Wissen von sich aus weiterträgt. Die gab es halt nicht und auch keine lokale Initiative, die seit Jahren am Thema arbeitete, nur ein oder zwei versprengte Leute, die dann natürlich bei Null anfangen müssen, was es deutlich schwieriger macht.

SB: Antimilitarismus und Initiativen gegen Krieg sind heutzutage längst nicht selbstverständlich. Es gibt viele Leute, die militärische Einsätze sogar befürworten. Kannst du dir vorstellen, daß über Einzelaktionen und normale Parteistrukturen hinaus eine soziale Bewegung auch im generationenübergreifenden Sinne entstehen könnte, die in dieser Sache ganz klar Flagge zeigt? Was wäre in deinen Augen dazu erforderlich, um die Menschen dafür zu motivieren? Denn anders als im europäischen Ausland tut sich in Deutschland nicht viel.

HP: Daß sich die Deutschen eine Bahnsteigkarte kaufen, um eine Revolution zu machen (lacht), ja, durchaus. Ich glaube, der springende Punkt ist, die Debatte in den Alltag zu tragen. Das ist auch etwas, was mich von den Kader-Marxisten unterscheidet, die häufig kommen und fordern, man müsse das Kapital lesen und Marx-Lesekreise halten, dann fällt die Revolution schon vom Himmel. Nein, die Revolution fällt dann nicht vom Himmel, denn sie sind dann immer noch Sexisten und haben das verinnerlicht. Man kann die ganze Sozialisation nicht einfach wegdefinieren, indem man auf Marx verweist. Das ist eine Debatte, die noch geführt werden muß. Da gibt es viele Fragen zu klären: Was wollen wir eigentlich? Wo wollen wir hin? Wie wollen wir arbeiten? Worauf haben wir Lust? Ein zentraler, aber stark strapazierter Begriff ist in meinen Augen die Solidarität. Aber womit fängt das an? Wenn ich sage, Mist, ich muß heute schon wieder zum Hartz-IV-Amt, die wollen irgendwelche Daten von mir. Dann sagen die anderen: Viel Glück, kannst nachher beim Bierchen erzählen, wie es dir ergangen ist. Statt zu sagen, ich gehe mit dir dahin und wir ärgern die solange, bis du deine Kohle bekommst. Selbst in den kleinsten Reihen gibt es keine Solidarität mehr. Vielleicht gab es das nie. Ich will auch nicht die Vergangenheit verklären, wenn schon in den alltäglichsten Auseinandersetzungen nichts passiert wie zum Beispiel im Zug mit dem Schaffner, wenn der offenkundig Mist macht und die Leute pikiert weggucken, statt zu sagen, lassen Sie doch die Person in Ruhe! Was so unter Zivilcourage gehandelt wird, das gibt es nicht. Die Leute können in den Innenstädten total mies mit ihren Kindern umgehen und 30 Personen stehen drum herum, sehen das und keiner greift ein. Das müßte aber passieren. Ich kann darüber hinaus gar nichts Konkretes sagen. Ich bin da sowieso für ein chaotisch-kreatives Nebeneinander. Ich glaube, die Leute könnten, wenn sie wollten. Es ist kein Problem des Nichtwissens, wo man anfangen soll. Wer anfangen will, findet ganz schnell viel mehr Baustellen, als er bearbeiten kann und auch viel mehr Mittel und Wege und Ideen. Es ist keine Frage des Ansatzes, sondern tatsächlich eine Überwindungssache. Die Idee mit der Aufklärung, selbstverschuldete Unmündigkeit zu überwinden, das ist genau der Punkt, der Schalter im Kopf, den man finden muß.

SB: Wie siehst du das hinsichtlich der Linken als ganz groben Überbegriff und unabhängig von ideologischen Differenzen, die teilweise sehr weitreichend sind, wenn man Antideutsche und Antiimperialisten einmal als die größte Polarisierung nimmt? Kannst du dir vorstellen, daß sich daraus eine sozialkämpferische Bewegung entwickelt oder haben sich die Lager tatsächlich schon so weit auseinanderdividiert, daß rein gar nichts mehr zusammengeht, weil die grundlegenden Überzeugungen nicht mehr miteinander zu vereinbaren sind?

HP: Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, daß die Leute ihren Kopf nicht ausschalten und nicht in irgendeiner politischen Gruppe plötzlich ihr neues Zuhause finden und da nichts mehr an sich ranlassen. Das kann man sowohl im Antispe-Tierrechte-vegan-Bereich als auch bei den Autonomen und im antideutschen Spektrum sehr deutlich erkennen, daß die Leute politische Identitäten annehmen. Das ist dann wie bei den Leuten, die seit 20 Jahren im gleichen Umweltverband tätig sind. Man darf die Identität nicht kritisieren, Details ja, aber die Identität als Ganzes nicht, denn dann würden sich die Personen selbst angegriffen fühlen. Die sind mit ihrem politischen Selbstverständnis so stark verwachsen, daß da nichts dran rütteln darf. Das läßt sich, glaube ich, nur aufbrechen, wenn diese Strukturen immer mal wieder aufgelockert werden, also wenn sich Antideutsche nicht nur mit Antideutschen zusammensetzen, wenn es nicht rein antideutsche WGs gibt, sondern die Leute mit anderen Leuten in die WGs ziehen. So gibt es tatsächlich auch im Veganbereich ganz viele Leute, die finden es wichtig, in reine vegane WGs zu gehen. Es ist schade, denn ich glaube, daß das den Horizont eher verschließt und die Debatte in kleine Zirkel lenkt und nicht öffnet, nicht weiterträgt. Aus dem klaren Abstecken von Innen und Außen entstehen dann natürlich auch leicht Schwarz-Weiß-Erklärungsmuster. Dafür sind die Antideutschen geradezu ein Paradebeispiel: Alles, was nicht gut ist, ist böse (lacht). Das macht es natürlich sehr schwierig. Trotzdem habe ich die Erfahrung gemacht, daß ich mit den Leuten auf individueller Ebene kooperieren kann. Auch mit Leuten, die sich untereinander sonst nicht grün sind, kann ich jeweils einzeln zusammenarbeiten. Das funktioniert schon, da gibt es Überschneidungen, aber sobald Kollektive aufeinandertreffen, ist das nicht mehr möglich - nur, wenn Leute als Individuen kooperieren wollen.

SB: Beim Thema Veganismus geht es grundlegend um Gewalt, und da ließe sich verstehen, wenn Veganer plötzlich ein Problem mit Leuten bekommen, die in irgendeiner Weise Tierausbeutung betreiben. Es gäbe allerdings noch die Möglichkeit, das Problem von Grund auf in Frage zu stellen, daß es eben nicht mit dem Verzicht auf Fleisch getan ist oder damit, kein Leder mehr zu tragen, sondern daß die Gewalt sehr viel früher anfängt und sehr viel weiter reicht. Kannst du dir vorstellen, daß die verschiedenen Identitätspolitiken innerhalb der Linken, die sehr stark auseinanderdriften, eigentlich darin begründet sind, daß jeder sich selber sehr viel mehr reflektiert als alles andere und daß darüber die grundlegende Frage, was Menschen überhaupt einander antun, nicht mehr aufkommt?

HP: Ich würde sagen, ja und nein. Ja, ich sehe durchaus einen Mangel an Debatte. Eine stärkere Debatte würde auch zu einer vertiefenden Analyse führen. Auf der anderen Seite will ich jedoch nicht, daß die Leute erst unheimlich viel debattieren, bevor sie auf die Straße gehen dürfen. Das mit dem Debattieren hat auch eine vertrackte Seite. So gibt es zum Beispiel Leute, die Straßentheateraktionen strukturellen Antisemitismus vorwerfen, was in Einzelfällen durchaus stimmen mag und daher sinnvoll kritisiert werden sollte, weil es ein zu einfaches Welterklärungsmuster ist, das die Leute möglicherweise da reproduzieren. Ohne dazu zu sagen, daß das Stück vielleicht nur deshalb zur Aufführung kommt, weil es anders nicht gespielt werden kann. Vielleicht glauben die Leute auch selber daran, daß es den bösen Strippenzieher im Hintergrund gibt. Dann muß man die Debatte darüber führen, aber es ist trotzdem gut, daß sie die Aktion gemacht haben. Und so etwas passiert mir zu wenig. Häufig wird gesagt, ihr müßt erstmal diskutieren, bevor ihr danach vielleicht ein Flugblatt herausgeben dürft.

Das finde ich falsch, denn Menschen wachsen politisch auch an den Fehlern, die sie machen. Ich habe vor einigen Jahren Aktionen gemacht, wo ich mir heute gegen den Kopf schlagen könnte: Ich habe an Frau Merkel appelliert, bessere Klimapolitik zu machen - wie bescheuert muß man sein, um an Frau Merkel zu appellieren! Aus heutiger Sicht ist das völlig indiskutabel, auf der anderen Seite war es für den Weg, den ich genommen habe, wichtig. Selber zu merken, daß es nichts bringt, Appelle an Politiker zu richten, ist so gesehen vielleicht ein wichtiger Schritt zur Politisierung und deswegen nicht per se zu verteufeln, sondern ein Grund, mit Leuten zu diskutieren und ihnen zu erklären, warum es Nonsens ist.

SB: Du mußt demnächst eine Ersatzstrafe absitzen. Kannst du den Hintergrund dessen einmal erläutern?

HP: Es gab im Februar 2008 eine Ankett-Aktion in Ohrstedt, das liegt zwischen Husum und Jübek in Nordfriesland. Da haben wir einen Transportzug der Bundeswehr, beladen mit Patriot-Raketen und Übungsmaterial für ein Nato-Manöver, blockiert. Ich habe mich angekettet, während andere Leute eine Sitzblockade gemacht haben oder einfach herumstanden. Wegen dieser Aktion laufen eine Reihe von Verfahren, unter anderem auch eine Zivilklage, bei der ich zu einer hohen Summe verurteilt worden bin. Das ist aber nicht so schlimm, weil ich nicht zahlen werde und so Schulden bei der Bahn habe. Andererseits laufen noch Strafverfahren sowohl gegen mich als auch gegen die anderen Beteiligten. Das Urteil gegen mich ist rechtskräftig und beinhaltet ein Strafmaß von 90 Tagessätzen. Ich beabsichtige, mindestens einen Teil der Strafe abzusitzen, um zu zeigen, daß ich nicht bereit bin, mich dem Willen der Richter durch eine Zahlung unterzuordnen. Die denken, man muß nur kräftig genug draufhauen, dann werden die Leute schon zahlen. Deswegen möchte ich als symbolisches Zeichen eine Zeitlang in den Knast gehen.

Ich weiß nicht, was das mit mir macht. Knast ist dafür da, Leute kaputtzumachen. Hoffentlich stehe ich das unbeschadet durch. Ich bin in der privilegierten Situation, jederzeit herauszukönnen, wenn ich die Strafe zahle. Aber ich finde es auch wichtig, die Gefängnismauern von innen zu sehen, gerade vor dem Hintergrund, daß ich auch Antiknastarbeit mache. Es ist gut, aus eigener Erfahrung zu wissen, wovon ich da eigentlich rede. Und es ist, glaube ich, auch ein gutes Zeichen, weil es sichtbar macht, was mit Menschen passiert, die sich dem Kriegsapparat über das Symbolische hinaus in den Weg stellen. Wir haben es mit einem Staat zu tun, der sämtliche Verfahren gegen Bundeswehrangehörige wegen schwerwiegender Verstöße einstellt, aber Leute einsperrt, die sich auf die Schienen setzen und nur ein bißchen Sand im Getriebe sein wollen. Das aufzuzeigen, finde ich gut, weil es den Leuten vielleicht die Augen dafür öffnet.

SB: Herzlichen Dank für das Gespräch.


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Weitere Beiträge zu dem Dokumentarfilm unter POLITIK, REPORT, BERICHT:
BERICHT/070: "Taste the Waste" - Essensvernichtung zwischen Hunger und Überfluß (SB)

und unter POLITIK, REPORT, INTERVIEW:
INTERVIEW/078: "Taste the Waste" - Valentin Thurn, Regisseur (SB)
INTERVIEW/077: "Taste the Waste" - Jürgen Knirsch, Globalisierungsexperte bei Greenpeace Hamburg (SB)

22. September 2011