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INTERVIEW/081: Manuel Kellner - Zur Lage der Linken und Zukunft des Internationalismus (SB)


Interview mit Manuel Kellner am 22. September 2011 in Berlin

Manuel Kellner - © 2011 by Schattenblick

Am 22. September lud die linke Tageszeitung junge Welt zu einer Diskussionsveranstaltung zum Thema "Danke! - ein jW-Titel und seine Folgen" in ihre Ladengalerie in Berlin-Mitte ein. Der provozierende Aufmacher zum 13. August, dem 50. Jahrestag der Sicherung der DDR-Staatsgrenze, war auch in ihrer Leserschaft auf ein geteiltes Echo gestoßen. Neben zustimmenden Äußerungen fehlte es nicht an Zuschriften, die schroffe Ablehnung zum Ausdruck brachten. Im Internet zirkulierten Boykottaufrufe, und selbst die Forderung nach einem Verbot der Zeitung wurde laut. Die heftige Kontroverse berührte sowohl Fragen der historischen Ereignisse und ihrer Einschätzung als auch den aktuellen Bezug der Pressefreiheit. Um diese Debatte weiterzuführen diskutierten unter Moderation von Stefan Huth (jW-Ressort Thema) Rüdiger Göbel (jW-Chefredaktion), Manuel Kellner (Vorstand Salz e.V.) und Ekkehard Lieberam (Marxistisches Forum, Die Linke) miteinander und dem Publikum über das brisante Thema. Der Schattenblick nahm die Gelegenheit wahr, nach dieser Veranstaltung ein Interview mit Manuel Kellner zu führen.

Manuel Kellner hat Politikwissenschaft und Geschichte in Aachen studiert. Seine Magisterarbeit 1980 hatte das Thema "Die Rolle der Projektion bei Feuerbachs Religionskritik". Seine Promotionsarbeit von 2006, eine Werkbiographie über den 1995 verstorbenen belgischen Marxisten Ernest Mandel ist als Buch erschienen (Gegen Kapitalismus und Bürokratie - zur sozialistischen Strategie bei Ernest Mandel, Köln 2009, Neuer ISP Verlag). Der Autor ist Vorstandsmitglied der Bildungsgemeinschaft SALZ e.V., ständiger Mitarbeiter der Sozialistischen Zeitung (SoZ) und Mitglied der internationalen sozialistischen Linken (isl), einer Organisation der Vierten Internationale in Deutschland. Derzeit ist Kellner Mitarbeiter des Linken-Abgeordneten Michael Aggelidis im Landtag von Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.

Schattenblick: Wir haben gerade eine ebenso engagierte wie kontroverse Diskussion erlebt, in der Bruchlinien innerhalb der Linken zu Tage traten. Welche beiden Positionen sind da aufeinandergetroffen, wenn es denn zwei und nicht noch mehr Fraktionen waren?

Manuel Kellner: Ich denke nicht, daß zwei Fraktionen aufeinandergetroffen sind. Es handelt sich vielmehr um verschiedene Strömungen, Sensibilitäten innerhalb der dezidiert antikapitalistischen Linken. Das ist das Problem bei dieser Art von Debatten, die von interessierter Seite von außen hereingetragen werden. Wenn man beispielsweise über Israel und Palästina spricht, wird inzwischen jeder, der Solidarität mit den Palästinensern übt, als Antisemit diskreditiert. Heute haben wir über den Beitrag von Rüdiger Göbel gesprochen, der als Provokation gemeint war und sich gegen den Mainstream des bürgerlichen Mauergedenkens und Instrumentalisierens dieser Frage richtete. Der Aufmacher führte in der Folge zu scharfen Auseinandersetzungen unter verschiedenen Strömungen auch in diesem gemessen an den normalen politischen Kräften deutlich linken Lager innerhalb der Linken.

Deshalb trägt eine Zeitung wie die junge Welt, die ja die einzige antikapitalistisch orientierte deutsche Tageszeitung ist, eine große Verantwortung. Auch scharfe Kritiker des Aufmachers vom 13. August wie Winfried Wolf oder in den Reihen der Bildungsgemeinschaft SALZ haben stets betont, daß diese Zeitung ohne Frage nützlich und verteidigenswert ist. Gerade deshalb hat sie aber auch eine Verantwortung gegenüber diesen verschiedenen politischen Biographien, aus der sich die antikapitalistische Linke in Deutschland zusammensetzt. Deshalb finde ich es gut, daß Rüdiger Göbel und die junge Welt diese Debatte geführt und drei Tage lang in der Zeitung abgedruckt haben. Was diese Frage betrifft, dürfte die Aufregung wohl vorerst vom Tisch sein. Man muß jedoch bei nächster Gelegenheit von vornherein versuchen, den genossenschaftlichen, solidarischen Ton zu wahren.

SB: In diesem Zusammenhang sind Fragen zu diskutieren, die weit über den aktuellen Anlaß hinausführen. Wie sollte sich die deutsche Linke Ihres Erachtens in Zukunft positionieren und weiterentwickeln?

MK: Wenn ich es einmal subjektiv ausdrücken darf war ich zwei oder drei Jahre zurückgedacht pessimistischer, was die Entwicklung der Partei Die Linke betraf, weil es keine breite Bewegung von unten gerade zu den sozialen Fragen gab. Die Anti-AKW-Bewegung war sehr breit aufgestellt und hatte politische Auswirkungen, die begrüßenswert sind. Hingegen blieben beim Sozialabbau, bei dieser Enteignung einer immer größeren Masse der Bevölkerung zur Rettung der Profitwirtschaft, die sich in einer scharfen Krise befindet, im Grunde nur die Institutionen. Unter solchen Umständen laufen linke Bewegungen und Parteien immer Gefahr, dem Anpassungsdruck zu erliegen, der von diesen Institutionen der parlamentarischen Demokratie, der bürgerlichen Demokratie ausgehen. Deshalb war ich relativ pessimistisch und der Ansicht, je mehr Abgeordnete, je mehr Mandate, je mehr Posten daran hängen, desto größer wird der Konformismus in der Partei, desto größeres Gewicht bekommen jene Leute, die daran interessiert sind, mehr oder weniger Teil dieses Systems zu werden.

Ich will nicht sagen, daß dieser Trend gebrochen ist, aber es hat sich in der jüngeren Zeit doch gezeigt, daß diejenigen - ich will es mal ein bißchen polemisch übertreiben -, die fast um jeden Preis bereit wären, als Juniorpartner der SPD mitzuregieren, selbst wenn neun Zehntel dessen, was man macht, den eigenen Prinzipien widerspricht oder gegen die eigenen Wahlparolen oder die eigenen Programme verstößt, jedenfalls bis jetzt den Durchmarsch in der Partei nicht geschafft haben, sondern eher ein bißchen zurückgedrängt worden sind. Ich messe das beispielsweise an der Programmdebatte. Der Programmentwurf, der vermutlich mit einigen Änderungen mehr oder weniger so verabschiedet wird, ist weiter links als vergleichbare frühere Grundsatzpapiere positioniert. Es handelt sich sicherlich nicht um ein marxistisches revolutionäres Programm - das wäre zuviel verlangt in dieser Partei -, doch weist es deutlich antikapitalistische Akzente und deutliche Akzente, sich gegen die Logik der Anpassung zu stemmen, auf.

Es gab Nebenkriegsschauplätze wie die Antisemitismus-Demagogie bei der Kontroverse um den Nahostkonflikt oder den Brief an Castro per Unterschriftenautomat, auf denen bestimmte Exponenten dessen, was man die Partei-Rechte oder die Mitregierer um jeden Preis nennt, versucht haben, linke Zusammenhänge zu treffen, zu zerlegen und auszuschalten. Das hat uns zwar jedesmal sehr viel Streß gemacht, aber im Endeffekt sein Ziel nicht erreicht, weil diese Akteure in letzter Konsequenz zurückweichen mußten. Daher bin ich heute etwas optimistischer als noch vor zwei, drei Jahren, daß die Partei weiter für eine Entwicklung offen bleibt, bei der sie sich auf der politischen Ebene zu einem nützlichen Instrument in dem Sinne entwickeln kann, daß die außerparlamentarische Bewegung durch die Existenz dieser PArtei befruchtet und nicht etwa zersetzt oder in die Resignation geführt wird.

SB: Gibt es Ihrer Einschätzung nach derzeit eine außerparlamentarische Bewegung in Deutschland?

MK: Es gibt gegenwärtig außerordentlich wenige außerparlamentarische Bewegungen in Deutschland. Wenngleich die Anti-AKW-Bewegung sicherlich nicht am Ende ist, hat sie doch meines Erachtens ihren Höhepunkt überschritten. Sehr viele Menschen, die nicht sonderlich politisch engagiert sind, denken womöglich, daß mit dem Beschluß der Bundesregierung, die Laufzeitverlängerung der AKWs zurückzunehmen, das Problem mehr oder weniger vom Tisch sei. Die Aktiven, die sich näher damit beschäftigen, wissen natürlich, daß das nicht stimmt. Gleichwohl ist es schwieriger geworden, breite Teile der Bevölkerung dazu zu mobilisieren. Was vor allem wehtut, ist die Situation, daß es trotz aller Angriffe auf den Lebensstandard, trotz der Schaffung eines Heers von Menschen, die auf die Bahn der Armut geschickt worden sind, kaum eine nennenswerte Bewegung dagegen gibt. Obwohl Deutschland eines der reichsten Länder der Europäischen Union ist, stehen sehr viele junge Menschen auch in unserem Land praktisch ohne angemessene Berufsperspektive da und werden von Existenzängsten heimgesucht.

Im vergangenen Jahr hatten wir im Rahmen des Bündnisses "Wir zahlen nicht für eure Krise" kurz nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen zu einer zentralen Demonstration in Essen aufgerufen. Meiner Zählung nach kamen damals zwischen sieben- und achttausend Leute zu diesem Thema zusammen, bei dem das Soziale im Mittelpunkt stand. Zentrale Themen waren Kampf gegen Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben statt von oben nach unten. Die Gewerkschaft ver.di hatte nach langen internen Streitigkeiten dazu mobilisiert, und darüber hinaus war ein Who is who aller linken Gruppen und Organisationen präsent, die man seit Ewigkeiten kennt: SDAJ und isl, die Linkspartei war dabei, die DKP, die Antifa-Gruppe in Düsseldorf - alles, was man so kennt, war da. Dennoch konnte man spüren, daß es noch nicht gelungen war, zu diesem Thema breitere Teile der Bevölkerung auf die Straße zu bringen, daß noch die Hoffnungslosigkeit den Zorn überwiegt.

Andererseits könnte man die Hoffnung hegen, daß von den relativ neuen sozialen Bewegungen in Südeuropa und anderen Ländern, die unter dem Vorwand der sogenannten Schuldenkrise oder Eurokrise sehr viel härter und brutaler von Sparpolitik betroffen sind als wir und in denen menschenverachtende Programme durchgezogen werden, ein Impuls ausgeht. Nicht nur in Griechenland kam es zu Generalstreiks, Massenmobilisierungen, auch Explosionen des Zorns, derentwegen sie das Parlament inzwischen mit hohen Mauern schützen müssen. In Spanien gibt es die Bewegung der Empörten, auch in Frankreich und Italien ist langsam eine Bewegung von unten auszumachen. Damit ist die stille Hoffnung verbunden, daß dieses Aufbegehren von der Peripherie her zum Zentrum und damit auch zu uns herüberschwappen könnte.

SB: Internationalismus war früher für die Linke eine Selbstverständlichkeit, während das heute offenbar nicht mehr gilt. Auf welche Gründe würden Sie diese Entwicklung zurückführen?

MK: Das ist ein schwieriges Thema. Internationalismus ist ja eine traditionalistische Bezeichnung, die auch meiner politischen Sozialisation in einer der revolutionär marxistischen Strömungen, die sich in den 70er Jahren entwickelt hatten, entspricht. Es gab davon abweichend eine Art von Internationalismus, den man mit internationaler Solidarität umschreiben kann, wenn sich Menschen engagieren, weil in irgendeinem anderen Teil der Welt, in irgendeinem anderen Land Menschen unterdrückt werden und sich wehren. Mit den Kritikern der Globalisierung trat dann eine neue Form von Internationalismus auf den Plan, wobei das im deutschen Sprachgebrauch kein sonderlich guter Begriff ist. Es handelte sich tatsächlich um einen neuen Internationalismus, da es nicht nur um Solidarität mit anderen, sondern um das gemeinsame Sich-Austauschen auf dem Weltsozialforum, um gemeinsame internationale Kampagnen wie die gegen Kriege oder gegen das Ausbluten der armen Bevölkerungsmehrheiten in den unterentwickelt gehaltenen Ländern ging. Das war ein Ansatz, der enger zum eigentlichen Internationalismus aufschloß. Ich habe allerdings das Gefühl, daß auch diese Bewegung ihren Höhepunkt überschritten haben könnte.

Für mich persönlich war recht interessant, daß in der Programmdebatte der Partei Die Linke in Nordrhein-Westfalen, an der ich selber gar nicht beteiligt war, jemand den Antrag gestellt hat, in das Parteiprogramm der Linken solle ein Eintreten für den Aufbau einer neuen Internationalen aufgenommen werden. Als ich davon erfuhr, habe ich diesen Vorschlag gelobt und gesagt, daß ich das für eine sehr gute Position halte. Da bekannt ist, daß ich der Vierten Internationale angehöre, hat jemand ein wenig ironisch erwidert, er wolle damit nicht sagen, daß die Vierte Internationale nicht auch gut sei. Dazu konnte ich anmerken, daß die real existierende Vierte Internationale eine kleine internationale politische Strömung ist, die selber seit 25 Jahren vertritt, daß man eine neue Internationale aufbauen sollte. Es reicht nicht aus, heute eurozentristisch zu erklären, daß wir die neue europäische Linkspartei sind. Früher verhielt es sich in den traditionellen Parteien der Arbeiterbewegung so, daß man spiegelbildlich zu den Staaten sozusagen diplomatische Beziehungen zwischen den Parteien oder Organisationen der entsprechenden Länder unterhielt. Ich halte den Ansatz für außerordentlich wichtig, sich über die Ländergrenzen hinweg, auch über die Abgründe hinweg, die von der imperialistischen Weltordnung geschaffen worden sind, politisch zusammenzutun. Ein sehr wichtiges Motiv ist dabei, Kämpfe zu koordinieren, doch darüber hinaus geht es vor allem um unsere eigene Bewußtseinsentwicklung, unsere Selbsterziehung. Das habe ich jedenfalls mitbekommen, denn wenn meine internationale Organisation auch klein ist, so hat sie doch einen guten Einfluß auf die eigene Bewußtseinsentwicklung, wenn man immer wieder mit der Entwicklung von Positionen der Genossinnen und Genossen aus anderen Ländern konfrontiert wird, die ähnlich denken wie man selber. Dafür braucht man natürlich eine lebendige Organisationskultur, denn wenn man eine internationale Organisation betreibt, in der nur Festreden gehalten werden und die Leute irgend etwas akklamieren, das eine charismatische Führungspersönlichkeit sagt, bringt das natürlich nichts. Wenn es jedoch wirklich darum geht, gemeinsam nachzudenken, gemeinsam Positionen zu entwickeln, muß man sich vergegenwärtigen, was für ein Fortschritt das wäre: die israelischen Juden mit Palästinensern, mit Japanern, mit Koreanern, mit Menschen aus Schwarzafrika - das wäre natürlich ein Riesenfortschritt.

SB: Wie sind Ihre diesbezüglichen Erfahrungen im innenpolitischen Bereich, beispielsweise innerhalb der hiesigen Parteienlandschaft? Wirkt sich das in derselben Weise fruchtbar aus, wie Sie es eben für die internationale Ebene beschrieben haben?

MK: Nein, normalerweise nicht. Normalerweise merkt man recht deutlich, daß dem nicht so ist. Ich bin ja in der westdeutschen Linken politisch groß geworden, seit 1973 wieder in Deutschland und in dieser Linken tätig. Ich muß sagen, daß für die meisten Linken in Deutschland die Diskussionen über internationale Politik, soweit sie andere Länder betreffen, im Grunde recht äußerliche Debatten sind. Mit dem internationalistischen Verständnis, mit dem ich groß geworden oder erzogen worden bin, ist das schwer vereinbar. Wenn man beispielsweise einen Konflikt wie den im Nahen Osten nimmt, dann könnte man als deutscher Linker - mit der Betonung auf "deutscher" Linker - dazu sagen, daß man auf diese oder jene Weise dazu Stellung beziehen muß. Das ist für mich eine völlig fremde Auffassung, die ich nicht teilen kann. Die einzige Haltung, die ich entwickeln kann, kann doch nur eine gemeinsame Position von linken israelischen Juden und linken Palästinensern oder beispielsweise auch linken US-Amerikanern und linken Deutschen sein. Ich kann doch nicht für jede Nation mit ihrer eigenen Geschichte, mit ihrer eigenen kulturellen Identität zum selben internationalen Konflikt 120 verschiedene legitime Positionen haben - das kann ja nicht sein!

SB: Nun ist der Nahostkonflikt ein brandheißes Thema nicht nur für die Linkspartei, sondern die Linke insgesamt. Viele Leute haben sich in dieser Kontroverse auf eine Seite geschlagen, auf der man Linke nicht verorten würde. Geht es dabei um den Nahostkonflikt oder werden damit ganz andere Dinge abgehandelt?

MK: Ich glaube, es geht dabei nicht um den Nahostkonflikt. Aus meiner Sicht geht es bei dieser Debatte darum, daß ganz verschiedene Leute, die aus verschiedenen Ecken kommen, egal ob bewußt oder unbewußt den Nahostkonflikt für sich benutzen, um eine Brücke zur vorherrschenden Gesellschaft und zur herrschenden Klasse zu bauen. Meiner Meinung nach gilt das auch für Leute, die eher Randfiguren waren, sagen wir mal der Hardcore-Teil der sogenannten antideutschen Bahamas-Redaktion. Wenngleich ihnen das wohl selber nicht bewußt ist, sind sie Stichwortgeber für eine ganze Generation von jungen Leuten vor allem an den Universitäten, die von ihrem Lebensgefühl her irgendwie links sein, aber zugleich eine Brücke zum Mainstream der politisch korrekten Meinungen haben wollen. Das war für ihr Lebensgefühl wichtig, sie sind bedient worden und haben das aufgegriffen. Darunter haben sehr viele linke Zusammenhänge gelitten. So wurde seinerzeit in Köln - das ist auch schon wieder einige Jahren her - die örtliche ATTAC-Gruppe dadurch zerlegt, daß eine Debatte über linken Antisemitismus eskalierte. Auch in Teilen unserer Partei Die Linke gab es Bestrebungen, sie auf die proisraelische Position festzulegen. Genosse Gregor Gysi hat ja erklärt, daß dies die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland sei, was ja durchaus zutrifft, nur daß er es nicht kritisch gemeint hat. Offenbar unbewußt - ich will da niemandem etwas unterstellen - entwickeln sie eine Position, mit der sie ministrabel werden können, denn auf Bundesebene wäre ja Mitregieren von ganz anderem Kaliber als auf regionaler Ebene, da müßte man sich ja einigen in den Juckepunkten der Weltpolitik. Dann sind natürlich die Sperenzchen vorbei, daß man sich gegen Bundeswehreinsätze ausspricht. Das geht dann nicht mehr. Auch die Palästinenser in ihrem Kampf gegen Landnahme und Kolonialisierung zu unterstützen geht dann natürlich nicht mehr. Das ist eine Eintrittskarte für die bürgerliche Wohlanständigkeit in Deutschland.

SB: Es wurde auch im Fall des Libyen-Kriegs sehr deutlich, daß Widerspruch und Widerstand sehr gering ausfielen und erhebliche Teile, die man links verorten mochte, den Angriff der NATO gutgeheißen haben.

MK: Das ist auch sehr schwierig. Ich hatte auch in meiner eigenen engsten politischen Umgebung selber größte Schwierigkeiten, diesen Konflikt einzuschätzen. Das ist verständlich, weil im großen und ganzen diese Bewegung in der arabischen Welt in mehrfacher Hinsicht phantastisch war. Sie war befreiend und von niemandem vorausgesagt worden. Wir haben in unserer Organisation einige Dutzend Leute aus verschiedenen Ländern, auch aus nordafrikanischen Ländern der arabischen Welt, die diese Weltregion viel besser kennen als ich und die kluge Köpfe sind. Sie haben noch kurz bevor diese Bewegung in Tunesien ausgebrochen ist, nichts dergleichen vermutet. Liest man die Artikel in unserer Presse, die noch drei Monate vorher geschrieben worden waren, könnte man heulen. Damals hieß es, daß dort keine Möglichkeit bestehe, etwas zu bewegen, da man entweder religiöser Fanatiker oder für einen Militärdiktator sei. Dazwischen gebe es nichts. Ich vergröbere etwas, aber so lautete unter dem Strich die Einschätzung. Und dann kam diese Bewegung. Die Inhalte der Bewegung wie Demokratie, politische Freiheiten und Rechte sind durchweg positiv, und es handelt sich vor allem um eine Bresche für jede nicht religiöse und nicht theokratisch begründete Politik, sich zu artikulieren. Das habe ich alles positiv gesehen, und in Libyen verhielt es sich meines Erachtens zumindest vom Ausgangspunkt der Bewegung her ähnlich. Diese Bewegungen sind heterogen und vertreten nicht plötzlich sozialistische marxistische Positionen - woher sollen die auch kommen. Sie sind natürlich bürgerlichen oder prowestlichen, proimperialistischen Kräften gegenüber sehr verwundbar und können sehr leicht eingefangen werden. Wenn sie dann auch noch ein großes Waffenarsenal einsetzen können und die Zusicherung erhalten, man unterstütze sie gegen ihren Gegner, können solche Bewegungen natürlich umkippen. Aber den Schluß zu ziehen, daß das von vornherein eine prowestlich manipulierte, proimperialistische Intervention war, halte ich für übertrieben. Ich vermute zudem, daß sich die Operation im Endeffekt als Bumerang erweisen kann, wenn sich in diesem Land Interessen frei artikulieren können und die Leute feststellen, was sie zu verlieren haben. Ich bin ein scharfer Kritiker des Gaddafi-Regimes, aber der Lebensstandard der breiten Masse war befördert durch die Ölrente deutlich besser als im gesamten Umfeld. Wie dieses Regime die Ölrente verteilt hat, hat zu weniger Analphabetismus, mehr schulischer Bildung und anderen Fortschritten geführt. Diese Menschen haben etwas zu verlieren und sie werden etwas verlieren. Das wird sich sicherlich auch artikulieren. Es wäre jedoch ein konservativer Reflex zu sagen, sie hätten besser nicht revoltiert und Gaddafi behalten. Das wäre sicher ein falscher Reflex.

SB: Gerade die soziale Frage wurde im Falle Libyens in den deutschen Medien weitgehend ausgeblendet. Könnte das darauf zurückzuführen sein, daß genau diese Frage auch in Deutschland nicht thematisiert werden soll?

MK: Wenn ein solches Regime zur Zielscheibe der westlichen Politik oder der westlichen Angriffsgelüste wird, thematisiert man die soziale Frage natürlich nicht. Man macht vorher die schlimmsten Geschäfte mit solchen Brüdern, wie es ja inzwischen enthüllt worden ist. Die westlichen Geheimdienste haben Gaddafi gnadenlos geholfen, wenn es um Unterdrückung ging, ganz abgesehen von den kommerziellen Geschäften, die sie zusammen gemacht haben. Wenn er dann jedoch ins Fadenkreuz gerät, wird kein gutes Haar daran gelassen, und dann werden auch die sozialen Errungenschaften ausgeblendet. In der heutigen Gesellschaft ist das allerdings zweischneidig. Es gibt junge Leute, die sich gern auf elektronischem Weg informieren. Wenn man auf Wikipedia Libyen eingibt, kann man das alles sofort nachlesen. Was unterscheidet dieses Land von anderen vergleichbaren Ländern in der Region? Dann folgen die Dinge, von denen ich eben gesprochen habe, gleich an oberster Stelle, auch wenn das nicht in den großen Printmedien steht oder lediglich irgendwo versteckt auf den hinteren Seiten. Aber wahrscheinlich haben Sie recht, daß als tieferes Motiv dahintersteckt, daß die soziale Lage und die Perspektive ihrer Verschlechterung in den EU-Ländern und den USA natürlich kein schönes Thema für die bürgerliche Presse ist.

SB: Manuel Kellner, vielen Dank für dieses Gespräch.

28. September 2011