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INTERVIEW/230: Weggenossen unverdrossen - Gerechtigkeit und Umweltsorge, Helmut Selinger im Gespräch (SB)


Ökologische und soziale Fragen zusammendenken

Interview am 29. Juni 2014 auf dem UZ-Pressefest in Dortmund



Dr. Helmut Selinger ist Physiker i. R. und befaßt sich als Mitarbeiter des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (isw) mit Klima-, Umwelt- und Energiefragen aus gesellschaftskritischer Sicht. Auf dem UZ-Pressefest im Revierpark Wischlingen in Dortmund, der aufgrund extensiver Sturmschäden erst drei Tage zuvor wieder der Öffentlichkeit freigegeben wurde, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Bedeutung seines Forschungsgebietes für die marxistisch orientierte Linke.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Helmut Selinger
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Helmut, du bist Mitarbeiter im ISW, einem in erster Linie ökonomisch ausgerichteten Institut. Wie bringst du ökologische Probleme mit ökonomischen Fragen in Verbindung?

Helmut Selinger: ISW heißt Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung. Da steckt das Ökologische schon in der Namensgebung des Instituts mit drin. Trotzdem ist es insofern richtig, als das ISW von seiner Geschichte und Gründung nach der Wende in München her ökonomisch orientiert ist. So arbeiten in erster Linie Wirtschaftswissenschaftler, Volks- und Betriebswirtschaftler als auch Soziologen im Institut. Ich selbst bin Physiker, und gemeinsam mit Franz Garnreiter und dem einen oder anderen Externen decken wir die ökologische Thematik ab. Die Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften denken zwar auch ökologisch, bei ihnen steht das Thema jedoch nicht im Fokus.

SB: Der Begriff des Klimawandels impliziert die Veränderung eines natürlichen Faktors, der aber viele soziale Auswirkungen zeitigt und im Grunde genommen menschengemacht ist. Besteht dein Interesse darin, in diesen Komplex eine soziale Dimension hineinzubringen, oder stützt du dich im naturwissenschaftlichen Sinne auf eine Analyse der gegebenen Fakten?

HS: Ich bin zwar Physiker, arbeitete aber im Institut, weil das ISW einen marxistischen bzw. gesellschaftspolitischen Anspruch hat. Ich bin seit langer Zeit politisch aktiv, eben weil ich nicht nur Naturwissenschaftler sein will. Das reicht nicht aus. Es ist einerseits wichtig, die Forschungsergebnisse naturwissenschaftlich exakt zu beschreiben, zu studieren und dann nach Möglichkeit einfach zu vermitteln. Ich bin andererseits aber auch ein großer Verfechter der Ansicht, daß man nicht notwendig Meteorologe, Physiker oder Chemiker sein muß, um über den Klima- bzw. Umweltbereich zu reden und zu urteilen, sondern daß der normale Mensch durchaus in der Lage sein sollte, mitzureden, wenn er von Leuten wie uns, die sich tiefer mit der Thematik beschäftigt haben, entsprechende Informationen aufbereitet bekommt. Daher sollten Wissenschaftler immer auch versuchen, die Zusammenhänge einfach zu erklären. Das ist auch unser Verständnis von Demokratie. Die soziale Frage gehört natürlich mit dazu wie auch die Energie- und überhaupt die Umweltpolitik und Klimafrage, die eng mit der Gesellschaftsordnung verknüpft sind.

SB: Im Rheinischen Braunkohlerevier vertritt die IG Bergbau, Chemie und Erden die Interessen der Braunkohleindustrie, indem sie sich zum Beispiel für den Erhalt der Braunkohlekraftwerke einsetzt. Die Gewerkschaft steht damit gegen die Aktivistinnen und Aktivisten, die die Braunkohleverstromung als CO2-Killer und wegen der Landschaftszerstörung bekämpfen. In dieser Konstellation stehen die Standortinteressen deutscher Unternehmen gegen die Lebenszusammenhänge der Menschen in den Ländern des Südens, die mittelbar vom Klimawandel, der hier produziert wird, betroffen sind. Wird der Zusammenhang zwischen deutschem Gewinnstreben und globalem Elend hierzulande nicht eher tabuisiert?

HS: Es ist mein besonderes Anliegen, genau diese Tabuisierung zu durchbrechen. Richtig ist, daß dieser Zusammenhang viel zu wenig thematisiert wird. Im Kontext dieser Frage habe ich mich im besonderen mit der Klimagerechtigkeit im globalen Umfang beschäftigt und bin der Meinung, daß wir das Thema Umweltbewegung oder auch politische Bewegung viel stärker auf die Tagesordnung setzen müßten. Die politische Linke, aber auch Grüne, Alternative, bis hin zu den Konservativen sollten sich hier viel stärker engagieren, was aber nicht getan wird. Nach meiner These, die ich auch belegen kann, haben wir Klimaschulden und müßten von daher eigentlich Schulden bezahlen, zum Beispiel in einen weltweiten, von der UNO verwalteten Klimafonds. Dieser sollte nicht 10, sondern 500 Milliarden pro Jahr umfassen, um daraus in den armen Länder, die hinsichtlich der Emissionen noch Klimaguthaben besitzen, Maßnahmen gegen Umwelt- und Klimazerstörung zu finanzieren.

Aber so etwas wird in unserer Gesellschaft natürlich überhaupt nicht gern gehört, denn es kostet Geld. Für die Bundesrepublik Deutschland wären das circa 36 Milliarden Euro pro Jahr. Das sind ganz andere Dimension, als sie jetzt in Kopenhagen oder auf Klimakonferenzen verhandelt werden, wo über 10 Milliarden von allen Industrieländern als Hilfe gesprochen wird. Ich rede nicht von Hilfe, sondern von Schulden. Wir haben eigentlich eine Pflicht dazu, weil wir unser Budget an Emissionen schon ausgeschöpft haben, und müßten daher im Grunde - die USA und bestimmte Industrieländer natürlich in einem viel höheren Maße - einen Ausgleich schaffen. Die offizielle Politik der Bundesregierung bzw. der US-Regierung bringt das bisher jedoch in keiner Klimaverhandlung auf den Tisch, obwohl die Fakten eindeutig und nicht zu bezweifeln sind.

SB: In den Koalitionsvereinbarungen der Bundesregierung bildet die Wettbewerbssteigerung für den Standort Deutschland die Hauptachse. So verwundert es nicht, daß Angela Merkel gegenüber der Autoindustrie Klimaziele torpediert und unterminiert hat. Für wie realistisch hältst du es, daß solche Abkommen tatsächlich auf politischer Ebene zustandekommen, wenn dabei die dominante Stellung der reichen Industriestaaten absehbar geschwächt würde?

HS: Da bin ich sehr skeptisch und sage gerne, wir bräuchten eigentlich einen internationalistischen Kampf um globale Klimagerechtigkeit. Selbst in alternativen Bewegungen wird diese Idee viel zu wenig verwirklicht. Aus den IPCC-Berichten wissen wir, daß der Klimawandel immer weiter voranschreitet. Als Menschheit verhalten wir uns einfach unklug, so daß ich damit rechne, daß sich die Katastrophen verschärfen werden, vielleicht nicht unbedingt in Mittel- oder Nordeuropa, aber genau sagen kann das niemand. In den tropischen Gebieten nimmt die Wucht der Hurrikans und Taifune zu, während in anderen Regionen Dürren oder Überschwemmungen auftreten.

Wenn ein Sturm von der Stärke des Hurrikan Katrina zwei- oder dreimal in einem Jahr durch die USA fegen würde, käme die ökologische Frage ganz sicher wieder auf den Tisch. Und vielleicht merken dann auch die US-Amerikaner, daß sie von ihren Regierungen und Konzernen verkauft oder belogen wurden. Dann könnte es eher zu Widerstand kommen als bei der sozialen Frage, die genauso zum Himmel schreit. Nur daß Armut und Hunger seit Jahrtausenden in die Menschheit eingebrannt sind und man sich damit im Grunde abgefunden hat. Aber die ökologische Frage ist relativ neu in der Menschheitsgeschichte. Wenn das Bewußtsein, daß wir in einem Boot sitzen und als Menschheit einen anthropogenen Wandel in diesen großen klimatischen Rahmenbedingungen verursachen, die Massen ergreift, kann ich mir vorstellen, daß der Widerstand dann ganz anders auftritt als heute.

Wir als vernünftige Bewegung müssen meines Erachtens - und das wäre mein Petitum für die Umweltbewegung - nicht nur in Deutschland, sondern weltweit Kristallisationskerne bilden, damit wir in der Lage sind, auf solche Situationen die richtigen Antworten zu geben. So etwas wird in Deutschland allein natürlich nicht reichen, dazu müssen auch die unterentwickelten Länder ihren Teil beitragen. Die G77-Staatengruppe gibt es immer noch. Inzwischen ist sie auf 130 Staaten angewachsen. Diese ärmeren Länder müssen aufstehen und bei Klimaverhandlungen mit der Faust auf den Tisch schlagen: Wir verhandeln nicht mehr, wenn es nicht um echte Veränderungen geht. Das ist nicht so kompliziert, wie manche Leute behaupten.

SB: Stößt man nicht, sobald man weiterdenkt, immer wieder auf Machtfragen und die schwierige Durchsetzbarkeit politischer Ziele?

HS: Genau, und deshalb sage ich, daß es in der momentanen Situation angesichts des weltweiten kapitalistisch dominanten US-amerikanischen Systems nicht vorstellbar ist, daß der Vorschlag mit der Anerkennung von Klimaschulden jemals freiwillig akzeptiert wird.

SB: Wir sind hier auf einem Fest der DKP, die einen antikapitalistischen Anspruch hat. Dennoch werden in Deutschland unter den politischen Parteien die Grünen am stärksten mit der Ökologiefrage identifiziert. Dabei propagieren sie eine Art grünen Kapitalismus, der unter anderem vorsieht, die Umweltbelastung in die Konsumgüter einzupreisen, um sie über den Markt zu regulieren. Kannst du dir vorstellen, daß die zerstörerische Verlaufsrichtung auf diese Weise umgekehrt werden könnte, zumal die Prämisse des nationalen Wachstumsinteresses beibehalten bleibt?

HS: Nicht wirklich. Ich kann mir nur vorstellen, daß in partiellen Fragen eine vernünftige Kooperation möglich ist. Ich sehe das kritisch, und auch der ISW hält die Vorstellung von einem grünen Kapitalismus für keinen gangbaren Ausweg. Das ist Kapitalismus nach wie vor. Nach meiner Überzeugung wird sich, solange das kapitalistische System mit seinen Konzernen, politischen Machtinstanzen und vor allem seinen Profitinteressensstrukturen bestehen bleibt, am Ende die große Linie unökologischer Marktregularien durchsetzen. Ein gutes Beispiel dafür in Deutschland ist der augenblickliche Kampf um das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Wir haben die verrückte Situation, daß die Verfeuerung von Braunkohle seit drei, vier Jahren wieder im Aufschwung begriffen ist. Unter den Umweltzerstörern steht die Braunkohle an erster Stelle. Da wird Wirtschaftsinteressen ganz klar der Vorrang gegeben vor der Ökologie, und deswegen bin ich auch gegen die Argumentationslinie der IG BCE. Wir müssen den Kollegen dort sagen, daß das keine zukunftsfähigen Arbeitsplätze sind. Es gibt auch Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien. Die Prozesse der gesellschaftlichen Umsteuerung zu planen, zu beschließen und in den Griff zu bekommen, ist natürlich eine Riesenaufgabe, die nicht von heute auf morgen geschultert werden kann, aber es wären die richtigen Aufgaben, die sich eine wirkliche Energiewende vornehmen müßte. Da muß man auch als Gewerkschaft Klartext mit den Kollegen reden und darf nicht immer das Argument vor sich her schieben, daß unter Umständen Arbeitsplätze verlorengehen könnten. Das Klima ist zu wichtig für die Existenz der Menschheit, als daß man kurzfristigen Gesichtpunkten einen so großen Raum geben darf.

SB: Die Berufschancen für die heute heranwachsende Jugend sind wesentlich schlechter als noch in unserer Generation. Dennoch gibt es bei ihr ein starkes Interesse an Umwelt- und Ökologiefragen als auch an Themen wie Tierbefreiung und Tierrecht. Könnte das nicht für die hier vertretenen kommunistischen oder marxistischen Parteien ein Anlaß sein, sich zu überlegen, wie man junge Menschen sinnvollerweise erreicht?

HS: Auf jeden Fall. Dazu habe ich einen Artikel mit dem Titel "Marxismus und Ökologie" [1] geschrieben und darin die These vertreten, daß Ökologie notwendigerweise zu einem linken marxistischen Verständnis dazugehört. In den Werken von Marx und Engels läßt sich der Nachweis führen, daß sie die ökologische Frage bereits vor 150 Jahren gewürdigt, aber nicht ausgearbeitet hatten. Im Prinzip hatten sie jedoch die Wichtigkeit der Frage erkannt. Ich empfehle den Artikel auch meinen Genossen in der Linkspartei. Allgemein kann ich sagen, daß linke Bewegungen und Parteien wie die Linkspartei und selbst die DKP inzwischen ein Stück weiter sind und die ökologischen Fragen durchaus ernstnehmen.

In der "Kritik des Gothaer Programms" findet sich ein sehr wichtiges Zitat von Marx: "Die Arbeit ist nicht die Quelle allen Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft."

Marx bezieht sich beim gesellschaftlichen Reichtum nicht ausschließlich auf die Arbeit, sondern führt die Natur schon sehr früh als zweite Quelle an. Der Mensch wird als Teil der Natur verstanden. Das ist urmarxistisches Denken, nicht nur von Marx, auch von anderen. Und als Teil der Natur kann der Mensch nicht wirklich gegen die Natur verstoßen. Das verbietet sich schon rein theoretisch. Wenn man dieses Zitat von Marx nimmt und es mit dem kontrastiert, worauf der Marxismus und Sozialismus in der Praxis bisher im wesentlichen adressiert war, dann muß man feststellen, daß sich die Linken überwiegend mit der Arbeit als Quelle des Reichtums beschäftigt haben - eben weil Marx die Natur als zweite Quelle des Reichtums nicht theoretisch ausgearbeitet hatte. Das hatte sicherlich seinen Grund darin, daß die Problematik damals zwar prinzipiell, aber noch nicht in der heutigen Intensität sichtbar war.

SB: Freilich hat die Sicht auf die Lohnarbeit auch dazu geführt, daß Natur hauptsächlich als Produktionsmittel wahrgenommen wurde. Glaubst du, daß Marx über die reine Vernutzung der Natur hinausgeblickt hat?

HS: Es lassen sich in seinen Werken auf jeden Fall Zitate finden, die das belegen und damit aufzeigen, daß zum Marxismus und zu einer linken Einstellung auch gehört, die Natur in einem viel größeren Maße zu berücksichtigen. Und in diesem Punkt unterscheiden wir uns in substantieller Weise von den Grünen und ihren Alternativen, da wir nie von einem grünen Kapitalismus sprechen würden, sondern daß wir einen Systemwechsel brauchen, der das Mensch-Natur-Verhältnis im Sinne von Marx einbezieht.

SB: Helmut, vielen Dank für das Gespräch.

See, Bäume, Hochspannungsmast - Foto: © 2014 by Schattenblick See, Bäume, Hochspannungsmast - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Industrienatur" im Naturschutzgebiet Hallerey beim Revierpark Wischlingen
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

[1] isw-report 91 "Grüne Wende - Neue Farbe oder neues System?"
http://www.isw-muenchen.de/report910.html


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21. Juli 2014