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INTERVIEW/238: Israel, Gaza - entweder oder ...    Sara Roy im Gespräch (SB)


Israels Imperativ - Verhinderung des Palästinenserstaats

Interview am 23. September 2014 in Berlin



Am 23. September veranstaltete die Heinrich Böll Stiftung in Berlin eine Podiumsdiskussion zum Thema "Gaza: Perspektiven nach dem Krieg. Zur Lage vor Ort und den Aussichten auf eine politische Lösung der Krise". Da Issam Younis, der Direktor der Menschenrechtsorganisation Al Mezan in Gaza, und die Bloggerin Asmaa Al-Ghoul durch eine Schließung der Grenze von seiten Ägyptens an der Ausreise gehindert worden waren, blieb es Dr. Sara Roy vorbehalten, unter Moderation von Dr. René Wildangel von der Heinrich Böll Stiftung in Ramallah zum genannten Themenkomplex Stellung zu nehmen.

Die politische Ökonomin Dr. Sara Roy ist Wissenschaftlerin am renommierten Center for Middle East Studies an der Harvard University in Boston. Sie gilt als führende US-amerikanische Expertin der Wirtschaft und Gesellschaft des Gazastreifens, mit dem sie sich seit 30 Jahren befaßt. In zahllosen Artikeln und mehreren Büchern, darunter ein Standardwerk zur Wirtschaft des Gazastreifens und ein Buch über die Hamas, hat sie ihre Forschungstätigkeit wie auch die bei zahlreichen Besuchen der palästinensischen Enklave gewonnenen Eindrücke auf eine ebenso berührende wie überzeugende Weise verarbeitet.

So forderte Dr. Roy das Publikum eingangs auf, sich vorzustellen, bei Schulbeginn nach den Ferien werde als erstes im Klassenzimmer die Anwesenheit überprüft, um festzustellen, wie viele Kinder den Sommer überlebt haben. In ihrem Vortrag legte sie dar, daß es nach dem letzten israelischen Krieg gegen den Gazastreifen für dessen Bewohner kaum noch eine Zukunft gebe. Hätten die seit acht Jahren verhängte Blockade und die fortgesetzten Militärschläge die Lage zunehmend verschlimmert, so herrsche nun weithin Verzweiflung vor. An einen Wiederaufbau sei nicht zu denken, da 18.000 bis 20.000 Häuser zerstört oder schwer beschädigt und fast alle Einrichtungen der Infrastruktur zerschlagen worden seien. Die Zerstörung von mindestens 175 Fabriken, die Tausenden von Menschen Arbeit gegeben und damit Zehntausenden das Überleben gesichert hätten, habe der Wirtschaft des Gazastreifens das Rückgrat gebrochen, die Mittelschicht weitgehend vernichtet und die Bevölkerung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ins Elend getrieben.

Schätzungen zufolge liege die Arbeitslosigkeit bei über 50 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit noch erheblich höher. Rund 100.000 Menschen seien obdachlos, 450.000 hätten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, mindestens 370.000 Kinder seien schwer traumatisiert. Die Mehrheit der Bevölkerung sei auf Lebensmittelhilfe angewiesen, und diese Probleme seien mit weiteren Geberkonferenzen und Finanzspritzen nicht zu bewältigen, solange keine politische Lösung herbeigeführt werde. Die Palästinensische Autonomiebehörde beziffere die mutmaßlichen Kosten eines Wiederaufbaus des Gazastreifens auf mindestens 7,8 Milliarden Dollar, was Sara Roy für viel zu niedrig hält. Grundsätzlich stelle sich die Frage, welche Schäden behoben werden sollen, da man es mit den Folgen einer jahrelangen Welle immer weitreichenderer Zerstörungen zu tun habe.

Laut der Referentin stellt die UNRWA, die für Gaza zuständige Agentur der Vereinten Nationen, de facto die Regierung des Gebiets. Man könne auch von einer notgedrungenen Form der Selbstverwaltung sprechen. Die in Gaza eingesetzten Minister der Palästinensischen Autonomiebehörde seien kaum von sich aus aktiv oder von Präsident Mahmud Abbas daran gehindert worden, ihren Amtspflichten nachzukommen. Zudem bezahlt die PA Regierungsbeamten, die der Hamas angehören, keine Gehälter. Dies übernahm die islamistische Partei selbst. Nachdem die Beamten neun Monate ohne Gehalt gearbeitet hatten, wurde die Hälfte des ihnen zustehenden Lohns ausbezahlt.

Ein Ausdruck um sich greifender Perspektivlosigkeit sei der Exodus, der erstmals in der jüngeren Geschichte des Gazastreifens eingesetzt habe. Während in der Vergangenheit der Wunsch vorgeherrscht habe, trotz aller Widrigkeiten zu bleiben, trügen sich heute etwa 45 Prozent der Bevölkerung mit dem Gedanken einer Emigration. Wer noch in der Lage dazu sei, bezahle Schmuggler, um wenigstens die Kinder durch Tunnel unter der Grenze nach Ägypten und dann mit Schiffen auf die gefahrvolle Reise über das Mittelmeer zu schicken.

Zwangsläufig stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der deutschen Regierungspolitik im Umgang mit dem Nahostkonflikt. Das Argument eines Diskussionsteilnehmers, die Bundesregierung billige Israel ein Selbstverteidigungsrecht zu, nicht jedoch den Palästinensern, so daß man von einer Instrumentalisierung des Holocaust sprechen könne, griff Sara Roy in einer sehr persönlichen Stellungnahme auf. Sie habe als Tochter zweier Holocaustüberlebender schon als Kind von ihren Eltern gelernt, daß ein solcher Horror nie wieder irgend jemandem angetan werden dürfe: Ihr Deutschen müßt Ungerechtigkeit überall bekämpfen! Wer hingegen Unterschiede mache, verliere seine Glaubwürdigkeit.

Selbstverständlich dürfe sich Israel verteidigen - doch gegen wen? Welche Sicherheit hätten die Palästinenser, die in einem höchst ungleichen Verhältnis einer überlegenen Militärmacht gegenüberstehen? Auch die Palästinenser hätten ein Selbstverteidigungsrecht, so die Referentin. Sie sei überzeugt, daß die Position der Bundesregierung auf lange Sicht auch Israel schade. Jeder Mensch müsse gegen Unrecht aufstehen, das gelte nicht nur für Juden oder Deutsche. Wenn ihre Eltern noch lebten und hier auf dem Podium bei ihr säßen, würden sie nichts anderes als dies sagen.

Vor ihrem Vortrag hatte Sara Roy dem Schattenblick bereits einige Fragen zur aktuellen Situation im Gazastreifen, zu den Zielen israelischer Regierungspolitik, zur Rolle der Hamas und zu den jüngsten Verwerfungen in der gesamten Region beantwortet.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Sara Roy
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Die Lage der Palästinenser hat sich im Laufe der Jahre immer weiter verschlechtert. Wie läßt sich Ihren Erkenntnissen zufolge die aktuelle Situation nach dem jüngsten Krieg insbesondere im Gazastreifen beschreiben?

Sara Roy: Was den Gazastreifen betrifft, kann man die Situation nur als akut beschreiben. Gaza steht kurz davor, physisch und psychologisch, ökonomisch allemal, vernichtet zu werden. Die Lage ist schlimmer, als ich sie dort in der sehr, sehr langen Geschichte meines Aufenthalts, meiner Arbeit und meiner Forschung je zuvor erlebt habe. Ich beschäftige mich seit meiner Promotion und damit seit fast 30 Jahren mit Gaza, das ich 1985 zum ersten Mal besucht habe. Die ökonomische Situation war schon vor dem letzten Krieg sehr schlimm, vor allem wegen der von Israel verhängten Blockade, also des Belagerungszustands und der intensivierten Abschottung des Gazastreifens, wodurch der private Sektor der Wirtschaft geschwächt wurde und der normale Handel zum Erliegen kam, was für eine kleine Ökonomie wie die Gazas verheerende Folgen hat. Die Situation vor dem Krieg war sehr problematisch, obgleich es zumindest noch hier und da prosperierende Sektoren gab. Insgesamt gesehen versank die Mehrheit der Bevölkerung immer tiefer in Armut. Ich hielt mich im Mai in Gaza auf, kurz bevor der Krieg begann. Es war klar, daß sich die Lage rasant verschlimmerte, und so herrschte unter den Menschen die Stimmung vor, dieser Entwicklung schutzlos preisgegeben zu sein.

Ein Ergebnis des Krieges war die fehlende Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft einzuschreiten, um dieser massiven Zerstörung von Menschenleben und Besitztümern Einhalt zu gebieten. Der Eindruck, sich selbst überlassen zu sein, war natürlich noch wesentlich stärker als vor dem Krieg. Ich bin noch nicht auf das Westjordanland eingegangen, wo die Bedingungen ebenfalls sehr schlecht sind. Das grundsätzliche Problem ist die israelische Okkupation und die fortgesetzte Enteignung palästinensischer Ressourcen wie Land, Wasser und anderer Dinge. Die Trennung der beiden Territorien war ein Ziel des Oslo-Prozesses, des sogenannten Friedensprozesses. Die Trennung des Gazastreifens vom Westjordanland, die Isolierung Gazas und die Fragmentierung der Westbank konstituieren einen Prozeß, der sicherstellen soll, daß jede Art politischer und ökonomischer Einheit und damit die Entstehung eines lebensfähigen Palästinenserstaats unmöglich gemacht wird.

Ich bin davon überzeugt, daß die Kriege gegen Gaza und insbesondere der letzte in dem größeren Zusammenhang eines israelischen Imperativs gesehen werden müssen, dessen Ziel es ist, die Einheit der Palästinenser zu verhindern, also das Westjordanland und Gaza niemals als politische und ökonomische Einheit zusammenkommen zu lassen und so die Bildung eines Palästinenserstaats auszuschließen. Die israelische Regierung hat mit allen Mitteln versucht, Gaza zu schwächen, denn solange Gaza lebensfähig bleibt, existiert die Möglichkeit eines Staats, weil es ohne Gaza keinen palästinensischen Staat geben kann.

Zugleich ist Gaza historisch gesehen das Zentrum des Widerstands gegen die Okkupation und des palästinensischen Nationalismus, weshalb es der Eckstein der Zukunft Palästinas ist. Es ist preisgegeben und zugleich zentral. Und das ändert sich nicht. Das ist der Rahmen, innerhalb dessen die Angriffe auf Gaza verstanden werden müssen. Das gilt auch für das Westjordanland, weil die Konfiszierung von Land, der Ausbau der Siedlungen und der Bau der Mauer - wobei nie eine Rakete von der Westbank auf Israel abgefeuert wurde und das hoffentlich auch nie geschehen wird - unter der Okkupation fortgesetzt werden. Bei den Angriffen auf Gaza geht es also nicht um Sicherheit und meines Erachtens nicht einmal um die Hamas, sondern darum, Gaza zu schwächen.

SB: Hat aus Ihrer Sicht die israelische Regierung überhaupt eine Vorstellung davon, wie eine Lösung des Konflikts aussehen könnte? Worauf zielt die fortdauernde Okkupation letzten Endes ab?

SR: Die Okkupation verfolgte von Beginn an und damit seit fast 50 Jahren das Ziel zu verhindern, daß jemals ein lebensfähiger Palästinenserstaat entstehen kann. Als ich 1985 mit meiner Forschung begann, habe ich die Frage aufgeworfen, ob es unter einer militärischen Besatzung eine ökonomische Entwicklung geben kann. Das war die These meiner Doktorarbeit. Ich untersuchte damals ein USAID-Programm - es gab seitens der US-Regierung ein Programm direkter bilateraler Hilfe für die Palästinenser, das bereits 1975 begonnen hatte, was nur wenigen bekannt war und auch ich damals zunächst nicht wußte. Im Rahmen meiner damaligen Forschungsarbeit führte ich Interviews mit Mitarbeitern diverser israelischer Ministerien wie insbesondere des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für Soziale Angelegenheiten und Wohlfahrt, wie es damals hieß. Wie mir fast alle Gesprächspartner mehr oder minder explizit, aber in allen Fällen unmißverständlich erklärten, stelle die israelische Regierung zwar öffentliche Leistungen für die Palästinenser bereit, werde aber niemals irgendeine nennenswerte Entwicklung zulassen, die die Etablierung einer ökonomischen Infrastruktur bewirken könnte, da dies die Grundlage für die Schaffung eines eigenen Staates wäre. Das werde man unter keinen Umständen zulassen.

In Umsetzung dieses Ziels war man in den letzten fünf Jahrzehnten sehr erfolgreich, von geringfügigen Veränderungen unter den verschiedenen israelischen Regierungen abgesehen. Selbst im günstigsten Fall wird man den Palästinensern nicht gestatten, ihre eigene Ökonomie zu entwickeln. Ihre wirtschaftliche Aktivität war durch Handel und Arbeit in die israelische Ökonomie integriert, doch jede institutionelle oder eigenständige wirtschaftliche Entwicklung wurde verhindert. Stets lag dem das Ziel zugrunde, einen lebensfähigen Palästinenserstaat im Westjordanland und Gazastreifen zu verhindern. Das wurde mir gegenüber schon vor 30 Jahren klar zum Ausdruck gebracht.

SB: Welche Möglichkeiten haben die Palästinenser unter diesen Umständen, Widerstand zu leisten und eine Lösung in ihrem Sinne anzustreben?

SR: In einem unveränderten politischen Kontext nur sehr, sehr geringe. Wenn die internationale Gemeinschaft fortfährt, ihre politische Herangehensweise im Rahmen der bestehenden Verhältnisse wie Okkupation, Blockade, Fragmentierung, Spaltung, Isolierung Gazas und Kantonisierung des Westjordanlands durchzutragen, und es ablehnt, die fundamentalen Ungerechtigkeiten anzusprechen, die im System der Okkupation nicht nur institutionalisiert, sondern auch tief verankert worden sind, wird es keine Lösung geben. Wir können im Grunde genommen nicht länger über Okkupation sprechen, da die Besatzung in eine De-facto-Annexion im Westjordanland übergegangen ist, wo die Palästinenser wie ein Warenlager behandelt werden. Wenn die internationale Gemeinschaft fortfährt, den Status quo grundsätzlich anzuerkennen, wie das seit zehn Jahren der Fall ist, was über den gesamten Zeitraum gesehen einem gefährlichen Paradigmenwechsel gleichkommt, wird sich wenig zum Besseren verändern.

Angesichts der furchtbaren Ereignisse dieses Sommers in Gaza lautet meine Prognose, daß ein Prozeß fortgesetzten Niedergangs und fortschreitender Vernichtung absehbar ist, wie viel Geld auch immer nach Gaza geschickt wird und tatsächlich dort ankommt. Die Bedeutung des Begriffs Wiederaufbau hat sich grundlegend geändert. Diese Finanzhilfe wird absolut nichts bewirken, um die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern oder den Status quo zu verändern, der unbedingt geändert werden muß. Wenn man Gaza nicht gestattet, auf normale Weise mit der Welt zu interagieren, ist sein Niedergang nicht aufzuhalten. Heute existiert ein sehr ausgeprägtes politisches und ökonomisches Vakuum in Gaza, und es bleibt eine offene Frage, wer dieses Vakuum füllen wird.

SB: Sie haben sich in Ihrer Forschungsarbeit auch intensiv mit der islamischen Bewegung im Gazastreifen und insbesondere der Hamas beschäftigt. Sollten Ihres Erachtens Verhandlungen mit der Hamas geführt werden?

SR: Unbedingt. Die internationale Gemeinschaft denkt immer noch in den Parametern des Oslo-Prozesses, der aus meiner Sicht völlig zum Erliegen gekommen ist. Soweit immer noch Argumente für eine Zweistaatenlösung vorgetragen werden, ist es nicht unsere, sondern allein die Sache der Israelis und Palästinenser, das politische Arrangement zu artikulieren, für das sie sich einsetzen wollen. Wenn wir akzeptieren, daß eine Zweistaatenlösung das erwünschte Ergebnis ist, wird kein Palästinenserstaat ohne Gaza und Gaza nicht ohne die Hamas zu haben sein. Die Hamas kann aus vielen Gründen kritisiert werden, doch wurde sie 2006 von einer Mehrheit gewählt. Sie ist ein politischer Akteur in Palästina, und ihre interne und externe Führung hat im Laufe der Zeit auf verschiedene Weise deutlich gemacht, daß sie Israel einbeziehen will.

Das ist im übrigen beiderseits längst geschehen, da nach den Worten Netanjahus nach dem Angriff vom November 2012 die längste Feuerpause zwischen Israel und der Hamas in den letzten zehn Jahren ausgehandelt wurde. Vertreter Israels und der Hamas haben auch über profanere Fragen wie Grenzsicherheit und andere administrative Angelegenheiten miteinander gesprochen. Es gibt also eine Richtschnur. Die Hamas, ob wir sie nun mögen oder nicht, ist definitiv ein politischer Akteur und wird das auch bleiben. Sollte sich die Gemeinschaft der Geberländer tatsächlich und ernsthaft der Einheit verpflichtet fühlen - wobei ich nicht davon überzeugt bin, daß das der Fall ist -, dann muß sie die Schlüsselstellung der Hamas in diesem Kontext anerkennen und sie einbeziehen, so einfach ist das.

SB: Einige Fraktionen der Palästinenser argumentieren, bewaffneter Widerstand gegen eine Okkupation stehe in Einklang mit dem Völkerrecht. Wie stehen Sie zu dieser Position?

SR: Viele Gruppierungen, darunter auch die Hamas, argumentieren auf diese Weise. Die Hamas hat vor gar nicht so langer Zeit deutlich gemacht, daß sie unter angemessenen Bedingungen in Erwägung ziehen würde, den bewaffneten Kampf einzustellen. Allerdings ist sie ihrer Anhängerschaft verpflichtet und wird von radikaleren Gruppierungen in Gaza als eine Organisation gesehen, die ihrer Rolle als Widerstandsbewegung eine Absage erteilt hat - was sich vielleicht nach dem letzten Krieg etwas geändert hat - weil sie 2006 an demokratischen Wahlen teilgenommen und die Bereitschaft zum Ausdruck gebracht hat, sich auf diplomatische Gespräche mit Israel und dem Westen einzulassen. Was hat die Hamas für ihre Konzessionsbereitschaft im Gegenzug bekommen? Sehr wenig oder gar nichts! Deshalb werfen extremere Gruppierungen der Hamas vor, sie habe die Sache der Palästinenser verraten.

Sollte der Hamas der Boden entzogen werden, würde das entstehende Vakuum mit Sicherheit nicht von Herrn Abbas, sondern extremeren Gruppen von innen und außen gefüllt werden. Etliche israelische Politiker und Militärs haben in den Medien offen zum Ausdruck gebracht, daß sie die Hamas solchen möglichen Alternativen vorziehen. Einige haben sogar erklärt, daß sie mit der Hamas reden und sie einbeziehen können. Aus meiner Sicht ist die Hamas nicht deswegen ein Problem für Israel, weil sie nicht verhandeln, sondern weil sie verhandeln will.

Letzten Endes läßt sich alles in der Frage zusammenfassen, ob die USA, die Europäische Union und bestimmte Staaten der arabischen Welt weiterhin Teil des Problems oder im Gegenteil Teil der Lösung sein wollen. Bislang und trotz aller Hilfsgelder, die Menschen in Gaza in gewissem Umfang unterstützt haben, bin ich der Auffassung, daß die internationale Gemeinschaft mehr Schaden als Nutzen bewirkt hat. Durch ihre Herangehensweise hat sie es Israel sehr leicht gemacht, die Okkupation aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Die Europäer bezahlen für die Besatzung, für die palästinensische Regierung, für humanitäre Hilfe, doch haben insbesondere die USA und die EU als maßgebliche Akteure sehr wenig unternommen, um den politischen Status quo auf eine Weise zu verändern, die tatsächlich zur Koexistenz führen könnte. Wenn das weiterhin der Fall ist, müssen wir von fortgesetzter Gewalt, Desintegration der Gesellschaft insbesondere in Gaza und einem Füllen des Vakuums durch Gruppierungen ausgehen, die uns wünschen lassen könnten, die Tage der Hamas kehrten zurück.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Gaza steht dichter am Rande der Vernichtung, als ich das je erlebt habe"
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: In Anbetracht der Entwicklung in Syrien und dem Irak hat sich das Umfeld im Nahen und Mittleren Osten erheblich verändert. Wie schätzen Sie diese aktuellen Entwicklungen wie insbesondere das Vordringen des IS ein?

SR: Ich schließe nicht aus, daß der IS zu den Kräften gehören könnte, die möglicherweise das in Gaza geschaffene Vakuum füllen. Mein Kollege und Freund Jean-Pierre Filiu, ein französischer Wissenschaftler, hat darüber auf eine sehr überzeugende und interessante Weise geschrieben. Der Nahe Osten befindet sich insgesamt gesehen in einer sehr viel schlimmeren Situation, als er es seit Jahrzehnten gewesen ist, und alle, die in dieser Region arbeiten - nicht nur zum Thema Israel und Palästina, sondern zum Nahen Osten insgesamt -, beschreiben seinen Zustand als verzweifelt, weil die Lage derart extrem und problematisch geworden ist. Palästina ist aufgrund dieser anderen schrecklichen Krisen insbesondere in Syrien, Libanon und dem Irak größtenteils aus dem Blickfeld verschwunden. Nichtsdestoweniger bleibt Palästina zentral, und die internationale Gemeinschaft muß allen Teilen dieser Region Aufmerksamkeit schenken, die leiden und zerstört werden, was auch Gaza einschließt. Und Gaza steht dichter am Rande der Vernichtung, als ich das je erlebt habe - physisch, psychologisch, ökonomisch und sozial.

Es gibt neue Dynamiken und Veränderungen in Gaza, die beispiellos sind. Gaza ist eng verbunden mit der gesamten Region, denn was in Syrien geschieht, hat auch Auswirkungen auf Gaza, und was sich zwischen Israel und Gaza abspielt, hat wiederum Auswirkungen auf andere Länder, auch wenn man ihnen wenig Aufmerksamkeit schenkt und sie nicht immer offensichtlich sind. Wie wir in der Wissenschaft sagen, mag die Natur kein Vakuum, das Vakuum wird gefüllt. Angesichts der engen geographischen, kulturellen und politischen Verflechtungen in dieser Region wird auch dieses Vakuum auf eine Weise gefüllt, die sehr zerstörerisch sein könnte - nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für Israel.

SB: Wenn nahezu alle jungen Menschen in Israel zum Dienst in den Streitkräften herangezogen und dazu ausgebildet und angehalten werden, Palästinenser zu drangsalieren - was für eine Generation wächst da heran?

SR: Das ist offensichtlich eine sehr ernste Frage. Ich selbst habe Angehörige in Israel, meine dort lebenden Cousins haben Kinder, von denen einige bereits gedient haben und anderen das noch bevorsteht. Denke ich an die jüngeren männlichen Nachkommen meiner Angehörigen, dann bete ich darum, daß die Situation eine ganz andere sein wird, wenn sie zu den Streitkräften kommen. Ich möchte kein israelisches oder palästinensisches Kind in einem Konflikt sinnlos sterben sehen, der gelöst werden könnte und sollte. Es ist sehr tragisch, daß Israelis derzeit mit Palästinensern nur auf eine Weise interagieren können, die wesentlich vom Militärdienst bestimmt ist. Von den Siedlern im Westjordanland einmal abgesehen begegnen durchschnittliche Israelis den Palästinensern ausschließlich als Besatzer. Umgekehrt gilt für junge Palästinenser, daß sie Israelis nur in deren Eigenschaft als Besatzer kennenlernen. So gibt es auf beiden Seiten eine junge Generation, die die jeweils andere nur auf eine sehr negative, feindselige, unterdrückerische Art und Weise kennt. Das ist zwangsläufig sehr, sehr gefährlich. Es ist entmenschlichend, ruft alle erdenklichen Ängste wach und erschwert jegliche politische Zusammenarbeit.

Als ich damals begann, in Gaza zu arbeiten, existierten sehr viele Interaktionen zwischen Israelis und Palästinensern. Palästinenser aus der Westbank und dem Gazastreifen arbeiteten in großer Zahl in Israel. Sie kehrten abends nach Hause zurück, da die Israelis sie nicht über Nacht auf ihrem Territorium duldeten, aber dennoch war es möglich, wie menschliche Wesen miteinander zu interagieren. Man kannte einander als Brüder, Schwestern, Ehegatten. Ich kann mich daran erinnern, daß noch in den späten 90er Jahren, als ich für mein Buch über die Hamas in sozialen Einrichtungen recherchierte, Geschäftsleute im islamischen Sektor enge Kontakte mit ihren israelischen Partnern unterhielten. Viele von ihnen waren Subunternehmer israelischer Firmen, und diese Geschäftsbeziehungen waren außerordentlich wichtig. Niemand kümmerte sich um Politik, die Menschen wollten vor allem ein normales Leben führen.

Ironischerweise, doch durchaus absichtsvoll, führte der Oslo-Prozeß als sogenannter Friedensprozeß dazu, daß sich das grundlegend änderte. Er brachte im Laufe der Zeit eine Situation hervor, in der Palästinenser in zunehmendem Maße von Israel abgeschnitten waren, was insbesondere für den Gazastreifen galt, wie sie auch durch die Trennung zwischen dem Westjordanland und Gaza voneinander abgeschnitten waren. Zudem wurde die Westbank in sich derart kantonisiert, daß die Palästinenser nur noch mit Mühe von einem Ort zum andern gelangten. Es gab einen Prozeß fortschreitender Annexion durch die Ausweitung der Siedlungen, die Mauer und viele andere Entwicklungen.

Heute ist Gaza vollständig von Israel abgeschottet, das Westjordanland in einem etwas geringeren Ausmaß. Ich verstehe nicht, auf welche Weise diese Situation, in der den Palästinensern fortgesetzt Land, Wasser und vieles mehr weggenommen und die Ökonomie Gazas großflächig zerstört wird, den Israelis nützen und zu ihrer Sicherheit beitragen soll. Das ist in gewisser Weise eine rhetorische Frage, aber es macht tatsächlich keinen Sinn. So sehr Israel auch versucht, sich vor den Palästinensern abzuschotten, ist doch die endgültige Trennung unmöglich. Die beiden Völker leben auf einem kleinen Stück Land in einem Abstand nebeneinander, der sich im Höchstfall auf wenige Meilen bemißt. Wenn es gestattet wäre, könnte man von Tel Aviv entlang der Küste zu Fuß nach Gaza-Stadt gehen.

SB: Frau Roy, vielen Dank für dieses Gespräch.

Auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Sara Roy und René Wildangel in der Heinrich Böll Stiftung
Foto: © 2014 by Schattenblick

29. September 2014