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INTERVIEW/250: Kurdischer Aufbruch - demokratische Souveränität und westliche Zwänge ...    Dêrsim Dagdeviren im Gespräch (SB)


"Der Westen sieht im Modell der demokratischen Autonomie eine ernsthafte Bedrohung seiner Interessen."

Interview mit Dêrsim Dagdeviren am 5. April 2015 in Hamburg

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015

Dêrsim Dagdeviren in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Dêrsim Dagdeviren
Foto: © 2015 by Schattenblick

Abdullah Öcalan, inhaftierter Vorsitzender der in der Türkei und in Deutschland verbotenen, jedoch auch seitens der Europäischen Union und der USA als terroristisch eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK, rief vor wenigen Wochen anläßlich des kurdischen Newroz-Festes dazu auf, den bisherigen Waffenstillstand mit der türkischen Armee überzuleiten in eine endgültige Einstellung bewaffneter Kampfhandlungen, um den Weg für einen Friedensprozeß mit Ankara freizumachen. In der in Diyarbakir verlesenen Botschaft schlug Öcalan vor, einen Friedenskongreß zu organisieren, auf dem über eine politische Strategie beraten werden sollte, wie nach dem 40jährigen Kampf eine neue Ära in den kurdisch-türkischen Beziehungen eingeleitet werden könne. Cemil Bayik, operativer Führer der PKK, bestätigte die neue Haltung in einer Anfang April verfaßten Erklärung, in der er sich im Namen seiner Organisation für deren in den 1990er Jahren in Deutschland begangene Gewalttaten entschuldigte.

Ungeachtet dieser Zeichen der Versöhnungs- und Kooperationsbereitschaft hält die deutsche Bundesregierung an dem seit 1993 bestehenden Verbot fest. Wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am 10. April erklärte, böte auch die jüngste Erklärung Bayiks keinen Anlaß für eine Neubewertung der Haltung gegenüber der PKK. Allem Anschein nach haben auch die positiven Meldungen aus den Kriegs- und Kampfgebieten Syriens keinen Meinungsumschwung in Berlin, Washington und den anderen Hauptstädten der EU-Staaten bewirken können, wodurch sich die bizarr anmutende Situation ergibt, daß eine terroristisch bewertete Organisation nachweislich und mit Erfolg daran beteiligt ist, Menschen vor dem Terror des sogenannten Islamischen Staates zu schützen, einer Organisation übrigens, die in der Terrorliste der EU nicht aufgeführt wird. [1]

Für die in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden bedeutet dies, daß sie nach wie vor unter den Bedingungen einer drohenden Kriminalisierung leben müssen, so sie aus ihrer Verbundenheit mit der kurdischen Bewegung oder ihrer Sympathie für die PKK keinen Hehl machen. Zahlreiche Initiativen auch nicht-kurdischer gesellschaftlicher Kräfte, die sich für die Aufhebung dieses Verbots stark machen, konnten bislang weder die Bundesregierung umstimmen noch einen politischen Druck erzeugen, der bereits groß genug wäre, um eine öffentliche Debatte der deutschen Kurdenpolitik zu erzwingen und das PKK-Verbot zumindest auf den Prüfstein zu heben.

In dieser Situation fand an der Universität Hamburg vom 3. bis 5. April ein von einem Bündnis kurdischer Organisationen und Vereine veranstalteter Kongreß statt [2], der mannigfaltige Gelegenheiten bot, sich mit dieser Thematik und vor allem auch dem alternativen Gesellschaftsentwurf eines demokratischen Konföderalismus, der in einigen kurdischen Regionen bereits in die Realität umgesetzt wird, auseinanderzusetzen. Da der Kenntnisstand der sogenannten deutschen Mehrheitsgesellschaft über die kurdische Kultur und spezifische politische Situation vielfach erschreckend gering ist, zumal, wenn man bedenkt, daß Deutsche, Kurden und Türken bereits seit vielen Jahrzehnten in der Bundesrepublik Tür an Tür leben, scheint es um der Entwicklung eines demokratischen und friedlichen Zusammenlebens in allen Teilen der Welt willen mehr als geboten zu sein, die bestehenden Schranken der Ignoranz und vorgefaßter Auffassungen in Bewegung zu bringen.

Am Rande der Hamburger Konferenz bot sich dazu für den Schattenblick eine Gelegenheit im Gespräch mit der Kinderärztin Dêrsim Dagdeviren, die seit vielen Jahren in der kurdischen Bewegung engagiert ist und die Eröffnungsveranstaltung moderierte.


Dêrsim Dagdeviren neben Prof. Elmar Altvater und Prof. Norman Paech am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Dêrsim Dagdeviren während der Eröffnung der Konferenz 'Die kapitalistische Moderne herausfordern II'
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Sie sind Vorsitzende des Netzwerkes kurdischer AkademikerInnen hier in Deutschland. Können Sie das Selbstverständnis und die Tätigkeit dieser Organisation beschreiben und erläutern, wie sie zur kurdischen Bewegung steht?

Dêrsim Dagdeviren (DD): Das Netzwerk kurdischer Akademikerinnen und Akademiker wurde 2009 in Dortmund gegründet. Es ist ein Zusammenschluß von kurdischen Hochschulabsolventinnen und -absolventen in Deutschland, der sich zum Ziel gesetzt hat, einen akademischen Beitrag zu den politischen, kulturellen und sozialen Belangen der kurdischen Community sowohl in Deutschland zu leisten, weil das hier unser Lebensraum ist, als auch natürlich die Bevölkerung in unserer Heimat betreffend, denn diese gilt es zu unterstützen. Es ist schon so, daß wir uns als Netzwerk kurdischer Akademikerinnen und Akademiker für die politischen Belange des kurdischen Volkes einsetzen, woraus sich natürlich die Schlußfolgerung ergibt, daß wir ein Teil der kurdischen Freiheitsbewegung sind. Das bringt die politische Arbeit schon mit sich. Die Reaktion beispielsweise von staatlicher Seite zeigt auch, daß man uns in diese Ecke stellt, wie man am Beispiel unseres Antrages auf Gemeinnützigkeit sehen kann. Er ist mit der Begründung abgelehnt worden, daß wir mit Organisationen kooperieren, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, sprich der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, die sich jetzt in NAV-DEM - Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen umbenannt hat, und ähnlichen Organisationen.

SB: Im Februar 2012 gab es hier in Hamburg den ersten Kongreß zum Aufbau eines demokratischen Konföderalismus. Wenn Sie die letzten drei Jahre Revue passieren lassen, was hat sich seitdem beim kurdischen Aufbruch getan?

DD: Eine Menge. Wir haben das Beispiel von Rojava, das eigentlich zeigt, daß die Theorien, die wir damals vor drei Jahren diskutiert haben, ihren Weg in die Praxis gefunden haben, und das in einem Teil von Kurdistan, um den es immer etwas still gewesen ist und von dem man nie viel gehört hat. Wir kennen die Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung, aber wir wissen auch, daß der Initiator des kurdischen Aufbruches und des Projekts des demokratischen Konföderalismus lange in Rojava bzw. in Syrien gewirkt hat. Deswegen verstehe ich auch den Aufbau der demokratischen Autonomie, ausgehend von West-Kurdistan, also von Rojava, ein wenig sozusagen als den Samen, den Herr Öcalan dort gesät hat und der nun tatsächlich zum Erblühen dieses für die Menschheit so wichtigen Projekts geführt hat.

SB: Auf dem Kongreß von 2012 war die starke Repression in der Türkei gegenüber der kurdischen Bewegung ein wichtiges Thema. Wie ist die Lage in den kurdischen Gebieten in der Türkei heute?

DD: Es gibt immer noch massive staatliche Repressionen. Sie variieren manchmal etwas in ihrer Art und Ausprägung, sind aber immer noch sowohl im alltäglichen, aber ganz besonders auch im politischen Leben vorhanden. Ein ganz einfaches Beispiel betrifft die kurdische Sprache. Noch immer werden Verfahren eröffnet, weil auf politischen Veranstaltungen kurdisch gesprochen wurde. Die Sprache ist für mich insofern als Beispiel enorm wichtig - das hört sich vielleicht banal an -, weil sie eines der zentralen Merkmale eines Volkes ist und als wichtigstes Medium zu seinem Überleben beiträgt.

Das kann man auch immer wieder im Zuge der Angriffe des IS auf Kobanê erkennen. Wir alle wissen um die Unterstützung des türkischen Staates in bezug auf den IS. Es gab schwere Angriffe auf die protestierende kurdische Bevölkerung, nicht nur in Kurdistan, sondern auch in der Türkei. Wir wissen von über 40 Toten in diesen Auseinandersetzungen. Es ist weiterhin ein aggressives Vorgehen seitens des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung vorherrschend. Gerade jetzt im Zuge der bevorstehenden Parlamentswahlen, bei denen die Kurden unter dem Dach der HDP mit verschiedenen linken Organisationen antreten, gibt es immer wieder provokative Maßnahmen des türkischen Staates - seien es vermehrt auch an der Grenze zum Nordirak durchgeführte Militäroffensiven oder auch, was immer wieder vorkommt, Angriffe auf das Dorf Roboski, wo schon im Dezember 2011 Dutzende Kurdinnen und Kurden getötet wurden.

Dort hat man jetzt am Grenzübergang Tiere erschossen, die angeblich für den Grenzhandel verwendet wurden. Natürlich muß man davon ausgehen, das dort auch wieder Menschen in Gefahr sind, denn Roboski ist ein Zeichen des Widerstandes gegen die Massaker der Neuzeit, die der türkische Staat verübt. In diesem Sinne sehe ich da weiterhin eine sehr aggressive Haltung. Natürlich gibt es parallel dazu die Verhandlungen zwischen dem politischen Repräsentanten des kurdischen Volkes, Herrn Abdullah Öcalan, und der türkischen Regierung, aber dennoch muß man sagen, daß trotz dieser Verhandlungen der türkische Staat weiterhin an seiner Politik der aggressiven Haltung und Vorgehensweise festhält.

SB: Die Angriffe des Islamischen Staates gegen Kobanê haben in der westlichen Medienwelt eine gewisse Veränderung bewirkt. Lange Zeit war die kurdische Befreiungsbewegung dadurch beeinträchtigt, daß sie international einfach nicht zur Kenntnis genommen wurde, was der politischen Linie der Türkei sehr stark entsprach. Jetzt ist in Politik und Medien sehr viel mehr von den Kurden und Kurdinnen die Rede. Sehen Sie darin uneingeschränkt einen Fortschritt oder ist das aus Ihrer Sicht auch ein bißchen ambivalent?

DD: Das ist schon als ambivalent zu betrachten, denn man darf meiner Ansicht nach das Gesamtkonzept nicht vergessen. Kobanê ist plötzlich sehr aktuell geworden, eine Stadt, die vorher keiner kannte. Das hat natürlich zum einen seine Ursachen in dem wirklich unermeßlichen Widerstand, den die Kämpferinnen und Kämpfer in Kobanê geleistet haben. Es ist ja ein sehr asymmetrischer Krieg gewesen: der schwerbewaffnete IS versus leichtbewaffnete kurdische Kämpfer. Aber man darf auch nicht vergessen, daß die Medien - in meinen Augen zumindest - gelenkt werden. Wenn wir jetzt in die Medienlandschaft schauen, ist es doch so, daß mit der Zurückdrängung des IS auch Kobanê größtenteils wieder in Vergessenheit geraten ist. Natürlich ist auch die Bombardierung durch die Allianz ein Faktor, der immer wieder erwähnt wurde. In der Presse wurde nicht uneingeschränkt gesagt, daß nur die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer vor Ort sind, die in meinen Augen diesen Erfolg, die Verdrängung des IS, herbeigeführt haben, sondern es wurden immer wieder zum einen die Angriffe der Allianz betont, zum anderen natürlich auch die Peschmerga in den Vordergrund gestellt. Das betrifft auch die Unterstützung Deutschlands. Das war ja keine Unterstützung der bewaffneten Einheiten in Kobanê, sondern der Peschmerga. Die Haltung der Regierung der Föderativen Region Kurdistan [3] ist auch nicht ganz unstrittig. Von daher ist das in bezug auf die Medien schon ambivalent.

Aber es gab natürlich ein enormes öffentliches Interesse. Ich erinnere mich an die Großdemonstration am 12. Oktober letzten Jahres in Düsseldorf. Ein solches Medieninteresse habe ich nicht einmal in den 90er Jahren im Rahmen der verbotenen Demonstrationen verzeichnen können. Das war schon gut, daß wir Kurdinnen und Kurden die Möglichkeit hatten, uns artikulieren zu können. Erstmals wurden in meinen Augen tatsächlich die Beteiligten in die Diskussion miteinbezogen. Aber natürlich haben wir auch viele Sendungen im Fernsehen gesehen, wo dann beispielsweise eine Anwältin wie Seyran Ates, deren Schwerpunkt sicherlich nicht gerade der IS beziehungsweise Kobanê war, doch wieder "für die Kurden" - in Anführungszeichen - gesprochen hat. Ein Interesse der Medien ist also da, aber man stellt die Situation schon ein bißchen aus der westlichen Sicht dar. Das wird sich, glaube ich, auch nicht so schnell ändern. Aber man kann merken, daß es ein gewisses Umdenken gibt. Sicherlich hat sich auch über die Schiene der persönlichen Kontakte bei einzelnen Journalisten etwas Positives bewirken lassen.

SB: Ich möchte gern in der Geschichte ein bißchen weiter zurückgehen bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als es hier in Deutschland in der Studentenbewegung einen bestimmten Begriff von Internationalismus gab. Innerhalb der türkischen Linken wurden gewisse Vorwürfe gegenüber der kurdischen Bewegung erhoben, sie würde die nationale Frage zu sehr in den Vordergrund stellen gegenüber den Klassenkampfaspekten. Wie würden Sie jetzt, sozusagen aus der Rückschau heraus, dazu Stellung nehmen?

DD: Im Ausgangspunkt der kurdischen Bewegung, wie wir vorhin in den Vorträgen bereits gehört haben, hat man sich auch mit dieser Frage auseinandergesetzt. Es ist natürlich schon so, daß wir eine ethnische Herkunft haben, die starken Repressionen und Verleugnungen ausgesetzt war. Diejenigen, die die kurdische Freiheitsbewegung gegründet haben, also die Gruppe rund um Abdullah Öcalan, waren in dieser linken, studentischen Bewegung sehr aktiv. Sie haben aber auch gesehen, daß es nicht ausreicht, die Probleme innerhalb der türkischen Gesellschaft allein als Fragen des Klassenkampfes oder der Ökonomie zu sehen. In meinen Augen ist das, was in dem Vorwurf als nationale Frage bezeichnet wurde, nicht wirklich eine nationale Fokussierung, sondern eine Fokussierung auf das Gesamtproblem.

Die Türkei und der Mittlere Osten haben ein Demokratie-Problem. Wenn man die Schriften der kurdischen Bewegung aus der Anfangszeit, insbesondere die von Herrn Öcalan Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre verfaßten, liest, so sieht man, daß die Differenz zwischen dem, was früher gesagt und getan wurde und dem Heutigen gar nicht so groß ist. Aber natürlich hat die kurdische Bewegung auch einen Wandlungsprozeß vollzogen und sich den Gegebenheiten angepaßt. Sie hat es, wie ich finde, sehr gut geschafft, immer wieder den Impuls der Zeit zu erwischen und sich entsprechend zu orientieren. Meiner Ansicht nach gab es von Anfang an immer wieder eine Fokussierung auf die Gesamtproblematik und nicht allein nur auf die kurdische Frage.

In keiner Schrift der PKK oder Abdullah Öcalans steht: Wir wollen Freiheit für die Kurden, aber für alle anderen nicht. Klar, es kamen immer in erster Linie die Kurden zur Sprache, aber es wurde immer von den Rechten der Minderheiten, der Glaubensgemeinschaften und ähnlichem gesprochen, das wurde immer wieder zum Ausdruck gebracht. Vielleicht kann ich eine kleine Gegenkritik machen: Der Klassenkampf ist wichtig, das ist gar keine Frage, und er muß international geführt werden. Aber genauso müssen wir dafür sorgen, daß die Verfolgung von Menschen nicht nur aufgrund ihrer ökonomischen Stellung, sondern insbesondere auch wegen ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Glaubens beendet wird. Die Repression muß beendet werden, denn das bedingt sich alles miteinander. Eine reine Lösung des Problems des Klassenkampfes erbringt nicht automatisch Demokratie. Ich denke, man muß das einfach als komplexes Thema im Zusammenhang sehen, und da ist die kurdische Bewegung in meinen Augen lange Zeit insbesondere der türkischen Linken voraus gewesen.

SB: Es gibt aktuell im kritisch-wissenschaftlichen bzw. umwelt- und sozialpolitischen Bereich einen wachstumskritischen Diskurs namens Degrowth, in dem die Position vertreten wird, daß allein aus Klimagründen eine sozialökologische Transformation unverzichtbar wäre. Gibt es da Querverbindungen oder inhaltliche Überschneidungen zur kurdischen Bewegung?

DD: Das Paradigma von Herrn Öcalan rund um den Begriff demokratischer Konföderalismus beinhaltet auch das Thema Ökologie. Er hat stets von einer ökonomisch-ökologisch orientierten Gesellschaft gesprochen. Das bedeutet, daß diese Punkte sehr wohl verknüpft werden. Man darf auch nicht vergessen, daß die Umweltschutzorganisationen, die in der Türkei entstanden sind, einen wichtigen Ursprungsort auch innerhalb der kurdischen Bewegung haben wie beispielsweise die Kampagne "Rettet Hasankeyf". Dieses Bewußtsein bei den Menschen vor Ort ist durch die kurdische Bewegung mitgeprägt worden. Ich will damit nicht sagen, daß sie diese Strukturen gegründet hätte, das darf nicht mißverstanden werden. Aber es ist schon so, daß die kurdische Bewegung das Thema Ökologie auch stets behandelt hat, was natürlich mit den Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Am Anfang war Ökologie sicherlich nicht einer der Schwerpunkte, aber heute ist es so. Wir sprechen von einer demokratisch-ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft im Rahmen des Paradigmas des demokratischen Konföderalismus. Von daher denke ich, daß die kurdische Bewegung viele Schnittpunkte mit ökologischen Bewegungen hat und das im Laufe der Zeit eine immer stärkere Annäherung herbeigeführt werden konnte.

SB: Ich möchte noch einen kleinen außenpolitischen Exkurs machen. Die Kämpfe und Bemühungen um die Entwicklung einer demokratischen Autonomie stoßen in den verschiedenen Ländern auf Hindernisse auch durch die Interessen anderer Staaten, die sich mit ihnen kreuzen. Dies betrifft nicht unbedingt die Länder aus der Region, sondern vielleicht auch Deutschland, die EU und die USA. Können Sie dazu etwas sagen?

DD: Man darf natürlich nicht vergessen, daß die westlichen Staaten kapitalistisch geprägt sind. Wenn wir jetzt das Beispiel Rojava nehmen, muß man schon sagen, daß das System, das dort aufgebaut wird, antikapitalistisch ist. Es nimmt die demokratische Moderne und nicht den Kapitalismus zur Grundlage. Von daher werden die westlichen Länder natürlich nicht wollen, daß es sich tatsächlich dort etabliert. Man darf auch nicht vergessen, daß die westlichen Länder immer noch die PKK als eine Terrororganisation definieren. In diesem Zusammenhang ist dieses Modell, das ja wesentlich durch die kurdische Befreiungsbewegung geprägt wurde, den wesentlichen Ländern natürlich ein Dorn im Auge.

Vor diesem Hintergrund bewerte ich auch die Angriffe der Allianz auf Kobanê. Natürlich haben die auch einen gewissen Effekt gehabt. Aber wenn man tatsächlich einmal auch alternative Medienberichte verfolgt, so sieht man, daß der Anteil dieser Angriffe am Erfolg gegen den IS verschwindend gering war. Ich denke, daß sich da für die westliche Welt eine Gelegenheit geboten hat - in Anführungszeichen -, "ihr Gesicht zu wahren", denn natürlich hat ihre Politik gegen den religiösen Fundamentalismus dort versagt. Von daher glaube ich, daß der Westen das Modell der demokratischen Autonomie als ernsthafte Bedrohung seiner Interessen sieht. Vor diesem Hintergrund bewerte ich auch die aktive Unterstützung der autonomen Regionen im Norden Iraks, also in Süd-Kurdistan, die sich in ihrem politischen Aufbau doch eher an den westlichen Werten orientieren. In meinen Augen sind sie eigentlich sehr feudal geprägt.

SB: Können Sie etwas zu den innerkurdischen Problemen und Schwierigkeiten bei einem solchen Aufbau sagen? Ich vermute, daß sich bei einer solchen Aufgabe, bei der es im Grunde sogar um menschheitsgeschichtliche Fragen geht, immense Probleme auch im täglichen Miteinander stellen.

DD: Selbstverständlich. Dieses System ist noch recht jung. Gut, es greift allein auf eine über 30jährige kurdische Geschichte zurück, und natürlich haben wir auch internationale Vergleichsmodelle. Aber wenn man versucht, ein neues Leben aufzubauen, etwas Neues, das nicht in den westlichen Teilen dieser Welt etabliert ist, ist das besonders schwierig und wird natürlich auch zu Schwierigkeiten im Alltag führen. Ich glaube aber schon, daß die kurdische Bewegung bei den Menschen eine enorme Motivation geschaffen hat und die Überzeugung, daß diese Schwierigkeiten und Hürden doch gut zu überwinden sind, unter ihnen weit verbreitet ist.

Wenn man jetzt die innerkurdischen Probleme in Hinblick auf die Uneinheitlichkeit oder die verschiedenen politischen Strömungen bedenkt, dann muß man beispielsweise schon sagen, daß die Volksverteidigungskräfte der YPG und YPJ in Kobanê oder in ganz Rojava unumstritten sind. Auch wenn es politische Divergenzen geben mag zwischen den unterschiedlichen politischen Parteien und Strömungen, so sind diese Kräfte doch die unumstrittenen Verteidiger von Rojava, und das, glaube ich, spiegelt sich auch in allen Bereichen des Alltags wider. In meinen Augen haben die Menschen dort wie auch wir hier in Europa verstanden, daß das Modell eines alternativen Lebens nur möglich ist, wenn wir zusammenstehen. Deswegen bin ich davon überzeugt, daß wir diese Schwierigkeiten sowohl im Alltag aber auch in der Politik definitiv überwinden werden.

SB: Was würden Sie Menschen, die noch nie mit Kurden oder Kurdinnen in Kontakt gekommen sind und erst jetzt im Zusammenhang mit den Kämpfen gegen den Islamischen Staat von ihnen hören, auf die Frage antworten, warum diese Entwicklungen auch für sie relevant sein könnten?

DD: Zum einen ist ganz klar zu sagen, daß der sogenannte Islamische Staat eine Bedrohung für die gesamte Welt ist. Wir erinnern an die Anschläge in Frankreich, aber auch in Dänemark und anderen europäischen Staaten. Von daher muß man einfach sagen, das es eine globale Bedrohung ist. Die Kurden sind zur Zeit eine Kraft, die die Stärke gefunden hat, sich dem tatsächlich und mit Erfolg entgegenzustellen. Zum anderen darf man auch nicht vergessen, daß jetzt endlich eine Situation geschaffen wurde, in der wir Kurdinnen und Kurden in die Presse gekommen sind, nicht weil wir hier Polizisten angegriffen, Scheiben zerschlagen oder uns verbrannt hätten, sondern durch unser Leid und durch den Widerstand, den wir diesem Leid entgegensetzen. Deshalb sind wir in die Medien gekommen und haben auch die Menschen aufgerüttelt, die vorher noch nichts von Kobanê gehört haben. Wie gesagt, das war eine sehr unbedeutende Stadt, bis sie vor wenigen Monaten in die Presse gekommen ist. Man muß den Menschen einfach klarmachen: Wir leben hier in Deutschland zu Hunderttausenden als eure Mitbürger und in unserem Land herrscht immer noch Krieg!

Meiner Meinung nach läßt sich durch eine Verbindung zwischen dem IS und den Berichten, die es in den zurückliegenden Jahren immer wieder in der Presse gegeben hat, den Menschen klarmachen: Das betrifft euch auch, unser Leid ist in gewisser Weise auch eure Verantwortung. Damit meine ich jetzt nicht unbedingt eine Verpflichtung, Seite an Seite mit uns auf der Straße zu demonstrieren, sondern wirklich einen gesellschaftlichen Druck auf die Politik auszuüben, jetzt doch endlich einmal die Sichtweise auf und die Herangehensweise an die Kurdinnen und Kurden hier in Deutschland zu ändern. Ich glaube, da sind wir in der Bevölkerung ein großes Stück weiter, auch wenn die Politik leider, wie wir an der Debatte zur Aufhebung des PKK-Verbots im Bundestag in den vergangenen Wochen gesehen haben, noch nicht so richtig mitzieht.

SB: Eine letzte, etwas persönlichere Frage möchte ich Ihnen noch zu Ihrem Vornamen stellen. Dêrsim hat in der kurdischen Geschichte eine besondere Bewandnis. Ist das jetzt ein Zufall, daß Sie auch so heißen oder was hat es damit auf sich?

DD: Nein, ein Zufall ist das nicht. Dêrsim ist die Stadt, die 1938 durch die Türkei umbenannt wurde in Tunceli. Dêrsim heißt "silbernes Tor", Tunceli "Land aus Bronze". 1938 kam es in Dêrsim zu einem großen Massaker, verübt von der türkischen Armee gegen einen alevitisch-kurdischen Widerstand, der sich gegen die türkische Zentralregierung erhoben hatte. Dêrsim ist die Heimatstadt meiner Eltern, sie sind dort geboren und aufgewachsen. Ich heiße Özlem Dêrsim, ich habe also zwei Vornamen. Özlem bedeutet Sehnsucht. Meine Eltern, die 1972 nach Deutschland gekommen sind, wollten, indem sie mir Jahre später diesen Namen gaben, ihre Sehnsucht und Verbundenheit mit der Heimat zum Ausdruck bringen. Ich glaube, ich habe auch so ein bißchen den Widerstandsgeist von Dêrsim geerbt, und von daher hat das schon seine Bedeutung und ist kein Zufall.

SB: Vielen Dank, Frau Dagdeviren, für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_derzeit_von_staatlichen_Institutionen_als_terroristisch_eingestuften_Organisationen

[2] Siehe den ersten Bericht zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)

[3] Die Föderative Republik Kurdistan liegt im Nordirak.

24. April 2015


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