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INTERVIEW/374: Initiativvorschläge - Primat der Straße ...    Aktivistin Anna im Gespräch (SB)



Die pensionierte Lehrerin Anna ist in der Solidarischen Sozialen Klinik in Thessaloniki aktiv und berichtete auf dem Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", der vom 28. bis 30. April im offenen Zentrum Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand, über Geschichte und Praxis dieser Form von selbstorganisierter Gesundheitsversorgung. Anschließend beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu ihrer persönlichen Geschichte in der Linken Griechenlands und deren Entwicklung wiederum aus ganz subjektiver Sicht.

Schattenblick (SB): Anna, was hat dich zu deinen Aktivitäten in der Linken geführt, was ist dein politischer Hintergrund?

Anna: Ich komme aus den Bewegungen, die mit dem Mai 1968 und so weiter zu tun hatten. In den 70er Jahren lebte ich außerhalb Griechenlands und kehrte zurück, als nach der Diktatur quasi eine Renaissance der Linken stattfand, eine Art nachholender 68er-Bewegung, die ich bereits im Ausland kennengelernt hatte. Ich reihte mich in die Linke ein, hatte aber mit meinem Hintergrund kein Interesse an Parteistrukturen, die ich schon damals kritisch sah. Es waren alte Strukturen, die unter jungen Leuten bereits an Glaubwürdigkeit verloren.

SB: Wie einflußreich war die Kommunistische Partei Griechenlands zu dieser Zeit noch?

Anna: Nach der Diktatur war sie bereits in zwei Strömungen zerfallen. Der größere Teil stand dem stalinistischen Hintergrund der Partei kritisch gegenüber, und aus dieser Spaltung ist letztendlich Syriza entstanden. Es gab lange Diskussionen zu der Frage, wie sie sich organisieren sollten, aber es waren vor allem Intellektuelle, die den Ton angaben, und nicht Menschen aus der Arbeiterklasse. Aber ich war nicht Teil dieser Bewegung.

SB: Welche politischen Strömungen haben dich persönlich beeinflußt?

Anna: Ich wurde von der Neuen Linken in den USA beeinflußt, wo ich mich aufhielt. Als ich zurückkehrte, hatte ich mit der Generation aus den Bürgerkriegen der 30er, 40er Jahre zu tun, die die Tradition der Kommunistischen Partei als Trotzkisten ablehnte. Ich habe bei ihnen ewas gefunden, was ich schon kannte. Sie waren erfahrene Organizer und kombinierten Militanz mit Theorie. Für mich waren das gute Vorbilder.

SB: Standen sie auch in der Tradition des Widerstandes gegen die deutsche Okkupation des Landes?

Anna: Zu der Zeit waren sie Internationalisten gewesen und am Widerstand nicht beteiligt, weil sie die Position vertraten, sich mit der Arbeiterklasse der anderen Seite zu solidarisieren und den einfachen Soldaten nicht als Feind zu betrachten. Mir wurde von einem Genossen erzählt, der exekutiert wurde. Zuvor richtete er sich auf deutsch und italienisch an das Hinrichtungskommando und sprach über die Einheit der Arbeiterklasse. Von der Kommunistischen Partei wurden sie nicht nur in Griechenland, sondern auch in vielen anderen Ländern als Feinde betrachtet.

SB: Haben sie sich als Anarchisten bezeichnet?

Anna: Später, denke ich. Sie sympathisierten mit der spanischen Bewegung. Eine größere anarchistische Bewegung gab es erst nach Ende der Diktatur in Griechenland. Aber im Widerstand gegen die Dominanz der Kommunistischen Partei bildeten sich unter dem Deckmantel des Trotzkismus auch zuvor Keime einer anarchistischen Bewegung. Vermutlich wurden sie auch von der KP dazu gezwungen, sich mit dem Trotzkismus zu identifizieren. Man wurde auf die andere Seite gestoßen und Trotzkist genannt.

SB: 2011 ist es bei den Protesten gegen die Troika zu regelrechten Kämpfen zwischen Kommunisten und Anarchisten vor dem griechischen Parlament gekommen. Wie kann so etwas geschehen?

Anna: Die Kommunistische Partei betrachtet die Anarchisten als Feinde. Selbst in der Lehrergewerkschaft wollten sie mit niemandem kooperieren. Wir haben immer versucht, eine unabhängige Fraktion innerhalb der Gewerkschaft zu bilden, um nicht von parteipolitischen Manövern betroffen zu werden. Das war natürlich hart. Einerseits treiben sie dich in die Bedeutungslosigkeit, und wenn wir einen Streik organisierten, dann versuchten sie, diese Errungenschaft auf ihre Fahnen zu schreiben. Das war ihre Taktik.

SB: Hat eher die KKE oder die PASOK den Ton angegeben, als du in der Lehrergewerkschaft aktiv warst?

Anna: Das wechselte mit den Jahren. In den frühen 80er Jahren war es natürlich die PASOK. Sie wirtschafteten die Gewerkschaft völlig herunter. Nach der Diktatur gab es die Forderung, die Zahl der Unterrichtsstunden zu reduzieren und kleinere Klassen einzuführen. Doch diese Diskussion wurde mit der knauserigen Logik kleiner Ladenbesitzer geführt. Damit wurde die Sache zerstört, denn von da an kamen immer weniger Leute zu den Treffen.

SB: Wie reagiert die Linke, der du angehörst, auf die Syriza-Regierung, die das Nein im Referendum ignoriert hat?

Anna: Es ist offenkundig, daß niemand zufrieden ist. You don't need a weatherman to know which way the wind blows [1] (lacht).

SB: Hier in der Bundesrepublik sind viele Linke davon überzeugt, daß Syriza quasi erpreßt wurde, also unter so viel Druck stand, daß sie keine Entscheidungsfreiheit hatte, das Nein der Bevölkerung zu befolgen.

Anna: Das ist Bullshit. Wenn Syriza wirklich so unter dem Diktat der Troika gestanden hätte, dann hätte sie den Stab an die Bevölkerung weitergeben sollen, indem sie sie aus der Passivität des Nur-Wählens geholt und noch mehr in den Entscheidungsprozeß einbezogen hätte. Aber Syriza war scharf auf die Regierungsmacht und wollte sie nicht mehr verlieren. Es sieht so aus, als ob sie nicht einmal Sozialdemokraten in einem guten Sinne wären. So haben sie den Forderungen der Troika im Bildungs- und Gesundheitsbereich permanent nachgegeben, und natürlich nimmt das kein Ende.

SB: Jetzt gibt es eine Verschlechterung nach der anderen mit dem Versprechen, das alles besser werde, aber die soziale Wirklichkeit der Menschen wird immer schlechter.

Anna: Sie haben die Menschen in Passivität getrieben. Sie haben immer mehr den Eindruck, daß man nichts tun könne, und das ist das Schlimmste. Das Argument unter vielen unabhängigen Linken war, okay, wir haben sie gewählt, weil sie etwas gegen die Goldene Morgenröte unternommen haben, weil sie eine andere Sprache für die Flüchtlinge verwenden und nicht so schlimm sind wie Samaras, der im Wahlkampf versprach, die Bevölkerung mit einem großen Zaun zu schützen. Aber im Kern unterscheidet sich der Umgang Syrizas mit der Flüchtlingsfrage nicht davon. Sie ließen die Menschen den ganzen schweren Winter lang im Norden Griechenlands in diesen schrecklichen Lagern, inaktiv und isoliert vom Verkehrswesen der Stadt. Die vielen NGOs erhalten Geld für nichts. Sie bringen Flüchtlinge zwar ins Krankenhaus, lassen sie aber zwei Tage danach zu Fuß zurück zum Camp marschieren. Außerdem hat Syriza die Bewegung der Hausbesetzungen sabotiert.

SB: Hat die Syriza-Regierung damit auch die Emanzipation der Menschen vom Staat, die in selbstorganisierten Bewegungen vorangetrieben wird, sabotiert?

Anna: Die Parteiführung vertritt sozialdemokratische Positionen und hat diese an die Basis der Partei weitergereicht. So sind einige Syriza-Mitglieder in meinem Umfeld der Ansicht, daß das Gesundheitssystem so gut sei, daß kein Bedarf an Alternativen besteht. Meiner Meinung nach ist es aber gut, Alternativen zu haben, und sei es nur um sie zu erforschen. Aber es sieht so aus, daß Syriza Angst davor hat, daß die Wahrheit über ihre Politik ans Tageslicht kommt.

SB: Hat Syriza die griechische Linke deradikalisiert?

Anna: Für micht besteht der größte Schaden darin, daß die Menschen, die Syriza gewählt haben, verstummt sind, daß sie deprimiert und verängstigt zu Hause bleiben. Die politische Forderung, aus dieser Depression und Inaktivität heraus zu kommen, resultierte darin, daß Syriza sie weiter hineingetrieben hat.

SB: Wie denken die Menschen in Griechenland über deutsche Regierungen? Verstehen sie die Situation heute als eine Form der Okkupation, mit der an die Vergangenheit deutscher Besatzung angeknüpft wird, wenn sich etwa Fraport die 14 profitabelsten Flughäfen des Landes aneignet oder reiche Deutsche griechische Inseln kaufen?

Anna: Ja, das tun sie. Sie sagen, was die Waffen nicht erreicht haben, wird jetzt mit ökonomischen Mitteln vollzogen. Der Kapitalismus dringt in jede Ecke der Wirtschaft vor. So werden große Tourismusgeschäfte gemacht, bei denen ganze Regionen in Reiseziele verwandelt werden.

SB: Könnte man dabei nicht Angst haben, eines Tages fremd im eigenen Land zu sein?

Anna: Das geschieht bereits, zum Beispiel wenn große Unternehmen wie Monsanto in aller Welt versuchen, spezifische Anbauweisen durch die eigene Methode der Nahrungsmittelproduktion zu verdrängen.

SB: Wie erlebst du die Linke hier in der Bundesrepublik? Ist es ähnlich wie in Griechenland?

Anna: Oh ja. Ich war überrascht zu sehen, daß sie auf eine ähnlich arglose Weise über Kurdistan reden, ohne dem zu mißtrauen, was dahinterstecken könnte. Ich werde sehr ungeduldig, wenn ich erlebe, wie sich die kurdische Partei in dieser Umgebung präsentiert. Aber ansonsten fühle ich mich zuhause. Ich bin froh, eine ganze Menge junger Leute getroffen zu haben, die gut darüber informiert sind, was in Griechenland vor sich geht. Denn ich glaube an den Einfluß von Erfahrungen und Ideen.

SB: Hältst du die Orientierung am Internationalismus weiterhin für eine fortschrittliche Sache?

Anna: Natürlich. Es gibt eine Geschichte der Bewegung wie die der Ersten Internationale, die in der Uniformität der Arbeitsbedingungen in Zentraleuropa zur Zeit der schwerindustriellen Entwicklung wurzelt. Mit dem Fortschreiten der Zeit merken wir, daß wir unsere Parameter überprüfen und erweitern müssen, daß es nicht nur um Industrialisierung gehen kann. Meiner Ansicht nach hat die Industrialisierung einen kulturellen Schub initiiert, den auch die Linke unbesehen hingenommen hat, während andere Aspekte ignoriert wurden. Aus diesem Grund konnte Lenin, wenn er es denn getan hat, sagen: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.

Aber jetzt merken wir, daß wir nicht nur Wachstum erzeugen können, wobei wir Land und Ressourcen verbrauchen. Auch die Erfahrung der Zwangskollektivierung durch Stalin zeigt, daß wir Respekt für eine ganze Reihe anderer Dinge zeigen müssen. Das sollte in den internationalen Austausch einfließen. Ich kann immer etwas von anderen lernen, und sie von uns und von mir. Das geschieht auch auf der Ebene individueller Beziehungen. Jede Person bringt etwas mit sich ein.

SB: Anna, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] Zitat aus dem Lied "Subterranean Homesick Blues" von Bob Dylan, das in der US-Linken der 60er Jahre dazu genutzt wurde, die Offenkundigkeit herrschender Gewaltverhältnisse auf den Punkt zu bringen.


Beiträge zum Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im Schattenblick unter:
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