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INTERVIEW/388: Es geht ums Ganze - den Anlaß zur Hoffnung finden ...    Elke Steven im Gespräch (SB)


Gespräch am 7. Oktober 2017 in Düsseldorf

Elke Steven war Mitglied im Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. In dieser Funktion war die Soziologin, zu deren Arbeitsschwerpunkten das Versammlungsrecht gehört, auch als Demonstrationsbeobachterin aktiv. Zu den G20-Protesten in Hamburg liegt eine von ihr verfaßte Broschüre [1] vor, die den bislang ausführlichsten Überblick über die Aktivitäten der GipfelgegnerInnen gibt. Beim bundesweiten Grundrechtekongreß am 7. Oktober 2017 in der Volkshochschule Düsseldorf, zu dem die Initiative "Demonstrationsrecht verteidigen!" eingeladen hatte, nahm der Schattenblick die Gelegenheit wahr, ihr einige Fragen zum Stand der Grundrechte zu stellen.



Elke Steven im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Elke Steven
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Steven, haben wir es eigentlich mit einer ständigen Verschlechterung des Standes der Grundrechte zu tun, oder repräsentiert die augenblickliche Verschärfung nur den normalen Wellenschlag in der Entwicklung von Staat und Gesellschaft, der mal in eine liberalere, mal in eine repressivere Richtung geht?

Elke Steven (ES): Daß es eindeutig immer schlechter wird, würde ich so nicht sagen. Ich würde schon sagen, daß es im Moment und gerade wenn man auf den Gipfel in Hamburg schaut, eine extreme Verschlechterung der Situation gegeben hat. Ich betone aber auch immer, daß es eine lange Zeit gegeben hat, in der dieses Versammlungsrecht immer selbstverständlicher in Anspruch genommen worden ist, immer mehr Formen entwickelt wurden, mit dem Polizeiverhalten umzugehen und die Wellenbewegung von daher eben auch mal in diese Richtung gegangen ist. Im Moment geht sie eher in die Gegenrichtung. Es gab eine Zeit, wo die Polizei sehr klar auf Deeskalation und Deeskalationskonzepte gesetzt hat. So war aus der Polizeihochschule nach dem Gipfel zu vernehmen, daß eine solche Strategie, wie sie in Hamburg angewendet wurde, zur Eskalation führt und keine Deeskalationsstrategie ist. Insofern gibt es immer wieder Wellenbewegungen. Das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts war nur in einer Zeit möglich, in der eine breite Öffentlichkeit sehr selbstverständlich das Versammlungsrecht verteidigt hat und dafür eingetreten ist. Ich glaube deshalb, daß diese breite Öffentlichkeit im Moment fehlt und es darum geht, sie wieder zu erreichen.

SB: Gibt es Ihrer Ansicht nach irgendwelche politischen Zusammenhänge, die die jeweilige Härte des Vorgehens erklären können? So ist die Polizei bei den G20-Protesten in Hamburg sehr aggressiv vorgegangen, während sie sich beim Klimacamp im Rheinland sechs Wochen später vergleichsweise dazu eher zurückgehalten hat.

ES: Ich glaube, es kommt immer vieles zusammen. Ich glaube schon, daß es beim G20-Gipfel auch mit der Präsenz der vielen anderen Staaten zu tun hatte, die auch einen bestimmten Fokus hergestellt haben. Aber es gibt natürlich auch eine spezifische Hamburger Linie und Entwicklung, die meiner Meinung nach tragend ist. Das Klimacamp war natürlich viel kleiner als der G20-Gipfel und sehr viel mehr eine regionale Angelegenheit. Doch auch da fand ich, daß sich die Atmosphäre im Vorfeld schon verändert hatte und sehr viel mehr vor Gewalttätern gewarnt wurde. Früher war das nicht so massiv.

SB: In Frankreich wurde jetzt der seit zwei Jahren geltende Ausnahmezustand teilweise in Gesetzesform gegossen und damit permanent gemacht. Ist das eine Entwicklung, die man auch für die Bundesrepublik befürchten muß?

ES: Ich glaube, daß es sich im Moment insgesamt um eine Entwicklung handelt, bei der man leider nicht hoffen kann, daß der Wahlerfolg der AfD dazu führt, daß sich alle Parteien wirklich deutlich dagegen stellen. Statt dessen greifen fast alle Parteien immer mehr Themen der AfD, des nationalen Schutzes und des Abbaus von Grundrechten auf, so daß tatsächlich eine Verschiebung nach rechts stattfindet. Es werden ständig neue Möglichkeiten der Überwachung technischer Art aufgebaut und auf alle möglichen Kommunikationsformen ausgeweitet. So greifen die für die Innere Sicherheit zuständigen Behörden gemeinsam auf Daten zu und schränken damit die Grundrechte immer weiter ein.

SB: Heute wurde aus dem Publikum heraus gesagt, daß 87 Prozent gegen die AfD stünden. Man könnte auch die These aufstellen, daß die AfD Exponentin einer Rechtsentwicklung ist, die sich in der Mitte schon länger abbildet - zum Beispiel der große Zuspruch für Sarrazin oder Gaulands lange CDU-Mitgliedschaft. Haben wir es nicht mit einer gesamtgesellschaftlichen Malaise zu tun und nicht nur einer radikalen Formierung am rechten Rand?

ES: Genau diese gesellschaftliche Formierung meine ich. Sie zeigt sich daran, daß andere Parteien die Themen der AfD aufgreifen. CDU/CSU sowieso, aber auch in der SPD gibt es Stimmen, die weitere Einschränkungen im Migrationsbereich fordern. Ich glaube, angesichts dieser sozialen Spaltung, der immer tieferen Diskrepanz zwischen Arm und Reich, geht es um die Strategie, sich selbst abzusichern und andere abzuhängen. Diese Formierung findet nicht nur in Deutschland statt, sondern europa- und weltweit.

Trotzdem gibt es immer wieder dagegen gerichtete Bestrebungen. Von daher ist die Entwicklung nicht so klar und eindeutig. Zu bestimmten Zeitpunkten kann man versuchen, alles dafür zu tun, daß sie wieder in die Gegenrichtung kippt. Aber man kann wohl nicht organisieren oder bestimmen, wie es dazu kommt.

SB: Welche Organisationen verteidigen noch explizit die Grundrechte in der Bundesrepublik? Auf Anhieb fallen mir etwa die Rote Hilfe als Unterstützungsorganisation gegen Repression, humanistische Verbände, der Herausgeberkreis des Grundrechte-Reports, das Grundrechtekomitee, dem Sie bisher angehörten, oder vielleicht Amnesty international ein. Dennoch scheint es fast ein Randphänomen geworden zu sein, sich für Grund- und Bürgerrechte einzusetzen. Wie sehen Sie das als langjährige Aktivistin auf diesem Feld?

ES: Gerade wenn man noch einmal auf Hamburg schaut und nicht die Berichterstattung zu den Protesten heranzieht, sondern sich daran erinnert, was man vor Ort gesehen hat, bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Menschen jeden Tag wieder auf die Straße gingen und welch hohe Solidarität zu allen Demonstrationen bestand. Insofern, meine ich, ist es falsch, nur ein negatives Bild zu haben. Ich glaube, es gibt immer noch eine breite, kritisch denkende Bevölkerung, die sich auch wieder mobilisieren läßt wie Herr Ernst heute, der aus der Theologie heraus noch einmal eine andere Perspektive zu dieser Frage entwickelt hat.

SB: Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen der sozialen Frage und dem Bewußtsein für politische Rechte, das manchmal erst entsteht, wenn die sozialen Bedingungen sich drastisch verschlechtern?

ES: Das ist eine schwierige Frage. Einerseits werden gerade die AfD-Wähler so geschildert, daß sie sich als die Abgehängten verstehen, aber sie sind es ja nicht wirklich durchgehend. Es sind ja eher diejenigen, die noch nicht abgehängt sind und Angst vor dem sozialen Absturz haben. Diejenigen, die die Erfahrung machen, daß sie keine Rechte mehr haben, fangen auch eher an, wieder um ihre Rechte zu kämpfen. Von daher glaube ich, man muß immer wieder versuchen, auch diese Menschen anzusprechen und ihnen Wege aufzuzeigen, wie man tatsächlich für seine Rechte kämpfen kann und was dafür zu tun ist. Es ist ja eher die Frustration, daß man nichts erreichen kann, die dazu führt, daß manche Leute seltsame Wege gehen.

SB: Frau Steven, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.grundrechtekomitee.de/sites/default/files/G20_Protest.pdf


Berichte und Interviews zum Kongreß "Demonstrationsrecht verteidigen!" im Schattenblick unter:
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