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INTERVIEW/410: Digitale Vernetzung - zu verhandeln wären ...    Thomas Engel im Gespräch (SB)


Der Industriesoziologe Thomas Engel ist an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Bereich der Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie tätig. Dort untersucht er unter anderem im Projekt Gesunde Arbeit in Pionierbranchen (GAP), das von Prof. Dr. Klaus Dörre koordiniert wird, den Zusammenhang von Arbeits- und Gesundheitsschutz im Rahmen der neuen Anforderungen, die für die Belegschaften aus der digitalen Transformation der industriellen Produktion entstehen. Auf einer Konferenz der Marx-Engels-Stiftung zu Industrie 4.0 am 10. März in Essen referierte Thomas Engel zu den arbeits- und gesellschaftspolitischen Perspektiven dieser Entwicklung. Anschließend beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Im Vortrag mit Projektionswand - Foto: © 2018 by Schattenblick

Thomas Engel
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Heute wird Arbeitnehmern abverlangt, mehrere Aufgaben parallel zu erledigen. Ist Multi-Tasking deiner Ansicht nach überhaupt möglich und wie wirkt sich diese Belastung auf die Gesundheit der Lohnabhängigen aus?

Thomas Engel (TE): In den Arbeitswissenschaften ist der Begriff Multi-Tasking umstritten. Meiner Ansicht nach aber kann man zeigen, daß eine markt- und wettbewerbsgetriebene Verdichtung von Arbeit stattfindet, weil in vielen Berufen heute zusätzlich neue Aufgaben zu erledigen sind, die es vorher nicht gab. Hier ist der Begriff Multitasking sinnvoll. Die Menschen verstehen ihn so, daß viele Aufgaben anfallen und gleichzeitig zu erledigen sind, weil der Termin-, Zeit- oder Leistungsdruck hoch ist. Im Zuge der Digitalisierung ist Multitasking genauer zu beleuchten, denn diese Entwicklung sorgt vielfach für eine Überforderung und eine Zunahme psychischer Belastungen. Das spiegelt sich auch im Krankheitsgeschehen wider.

SB: In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der behandlungsbedürftigen Burn-Outs und Depressionen angestiegen. Besteht deiner Ansicht nach ein Zusammenhang zur insgesamt größeren Arbeitsanforderung, auch außerhalb der bezahlten Arbeitszeit, wenn etwa verlangt wird, E-Mails schon auf dem Weg zur Arbeit zu checken und ähnliches?

TE: Sich ausgebrannt zu fühlen und depressiv zu resignieren sind generell Symptome für einen Anstieg psychischer Belastungen in der heutigen Arbeitswelt. Die verschiedenen Studien wie etwa der DGB-Index Gute Arbeit oder der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zeigen, daß gerade Anforderungen außerhalb der Arbeitszeit zunehmen. Da besteht sicherlich ein Zusammenhang, mobile Arbeit und Entgrenzung sind die entscheidenden Stichworte dazu. Von Phänomenen wie der Beantwortung von E-Mails in der Freizeit ist bekannt, daß sie als psychisch beanspruchend wahrgenommen werden. Das hat auch strukturelle Gründe, wie die Tatsache, daß uns die Technik ständig unmittelbar umgibt. Das Handy in der Tasche ist ja nur eines von mehreren Geräten. Der Tablet-Check nebenbei beim Fernsehgucken kommt auch noch dazu, und so vermehrt sich diese Anforderung ständig. Klaus Dörre spricht hier - eine Formulierung von Oskar Negt aufgreifend - vom "Kampf um jedes Zeitatom", die mit der Digitalisierung perfektioniert wird. Zudem bewegen sich die Unternehmen und ihre Beschäftigten häufig im globalen Kontext: Sie müssen Anfragen aus Übersee beantworten, wobei dafür - auftragsbedingt und aufgrund der Zeitverschiebung - nur ein schmales Zeitfenster zur Verfügung steht. Plötzlich ist man, auch wenn man im hochqualifizierten Bereich tätig ist und sich bisher davor geschützt wähnte, damit konfrontiert, auf solche zeitlichen Anforderungen rasch reagieren zu müssen.

SB: Wenn in der Industrie mit Hilfe von Automatisierung und Digitalisierung rationalisiert wird, könnte doch der Preis für die Arbeitskraft sinken. Wie realistisch ist es, dass die Automatisierung einfach durch besonders billige Arbeitskräfte, die sogar Maschinen unterbieten, kompensiert wird? Wäre es möglich, daß gar nicht so viele Arbeitsplätze verloren gehen wie von einigen prognostiziert, dafür aber ein erheblicher Verlust bei den Löhnen und auch der Qualität der Arbeit erfolgt?

TE: Also zunächst einmal steigt die Arbeitslosenquote derzeit nicht. Und die Löhne befinden sich auch nicht im freien Fall. Derzeit ist die Entwicklung unentschieden, wem die Rationalisierungsgewinne zugutekommen. Aber es ist natürlich klar, daß in einer Krisensituation die Arbeitslosigkeit zunimmt, so daß bei effizienten Automatisierungslösungen die Einstellung von gut entlohntem Personal schwerer durchsetzbar wird. Wir haben aber auch Fachkräfteengpässe. So gehen die Preise bei IT-Fachkräften durch die Decke. Da sie häufig dem außertariflichen Bereich zugeordnet werden, können sie individuell schöne Gehälter aushandeln. Es gibt ein lehrreiches Beispiel aus dem Versandhandel, wo klar wird, wie sehr die Entscheidung für oder gegen Technik auch preisabhängig getroffen wird. Beispielsweise kommt es bei Packvorgängen im Versandhandel wesentlich auf die Fingerfertigkeiten der Beschäftigten an, die sich bisher sehr schwer durch Maschinen realisieren lassen. Wenn es aber Tätigkeiten ohne besonderen Anspruch an die menschlichen Hände oder Finger gibt, wie etwa den Transport von Halle A in Halle B, dann versucht man, diese Funktionen durch die Technik zu ersetzen. Aber nur dann, wenn das Lohnniveau in der Region vergleichsweise hoch ist. Wenn es niedrig ist, wie häufig in Ostdeutschland oder Osteuropa der Fall, dann kann man auch mit der billigen Arbeitskraft ganz gut leben statt durchgehend zu automatisieren. Solche Effekte können wir durchaus beobachten.

SB: Es gibt im populären Verständnis der Künstlichen Intelligenz (KI) die grundlegende Befürchtung, daß irgendwann Maschinen über Menschen entscheiden. Inwieweit kann sich das Mensch-Maschine-Modell in die Richtung entwickeln, daß die Algorithmen tatsächlich autonom agieren? Oder bleibt KI nicht immer eine von Menschen geschaffene Technologie, in der sich der Input des Ingenieurs oder des menschlichen Erfindungsgeistes ausdrückt?

TE: Es kommt hin und wieder schon vor, daß die Schöpfer, Ingenieure, Programmierer darüber staunen, was die Maschine oder der Algorithmus abgeliefert hat. Sie können nicht mehr nachvollziehen, wie es dazu gekommen ist. Es gibt auch das Beispiel von den Chat-Bots, die plötzlich rassistisch im Netz agieren. Da entgleist ganz offensichtlich die KI, und dann schaltet man sie wieder ab. Aber grundsätzlich sind die Technik und der Algorithmus Ausdruck des menschlichen Geistes und der sozialen Aushandlung. Peter Brödner weist ja entschieden darauf hin, daß ein beträchtlicher Unterschied zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz besteht. Dieses Argument sollte man ernst nehmen. Leider übertragen viele Techniker und Manager kurzschlüssig künstliche Intelligenz auf menschliche Intelligenz und andersherum. Sie glauben tatsächlich, das eine durch das andere ersetzen zu können.

SB: Was wäre euren Erkenntnissen nach erforderlich, um einer gesellschaftlich und sozial verträglichen, vielleicht sogar produktiven und erfreulichen Entwicklung im Bereich der Digitalisierung Vorschub zu leisten, anstatt stets dem Druck der Weltmarktkonkurrenz stattzugeben?

TE: Man muß sicherlich mehrgleisig fahren. In der Gesellschaft, in der Arbeitswelt, auf der Seite der Gewerkschaften und im Management müssen sich alle grundsätzlich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Ich glaube, daß der sinnvolle Technikeinsatz dort anfängt, wo man die Menschen abholt, wo man sie fragt und einbezieht. Gerade die Technikeinführungsprozesse sind doch immer noch ausschließlich von den Technikern und vom Management geprägt, von Entscheidungen, die auf anderen Ebenen stattfinden als bei denen, die damit arbeiten müssen. Hier schwebt uns als Forschungsgruppe vor, Mechanismen systematisch und kollektiv zu verankern, die den Beschäftigten Freiräume bieten und Mitsprache ermöglichen, die sich nicht in ehrenamtlichen Überstunden ausdrücken, sondern Teil der Arbeitszeit sind. Außerdem müssen gewisse Rechte in den zu entwickelnden Codes verankert werden, die beispielsweise überprüfbar machen, ob sich der E-Mailserver abends wirklich abschaltet, wie in der Betriebsvereinbarung geregelt. Es ist auch zu überprüfen, wie Daten genutzt werden: Muss unbedingt die individuelle Leistung in der Software abgebildet werden oder reicht es nicht, daß die Gruppe oder die Schicht kollektiv ihr Log-In und ihr Log-Out abliefern und diese Daten zur gemeinsamen Leistungsbemessung ausreichen. Solche Elemente schweben mir vor, um Datengebrauch und Algorithmen vielleicht ein bißchen besser in den Griff zu bekommen und handhabbar zu machen. Aber das bedarf einer ordentlichen Flankierung von gesetzlicher und regulierender Seite her. So haben wir in den letzten Jahren auch festgestellt, daß beim Arbeitsschutz eine Dezentralisierung stattgefunden hat und weniger Kontrollen stattfinden. Im Datenschutz hat man eher das Problem einer schweren Durchschaubarkeit der Handlungsmöglichkeiten für den einzelnen Beschäftigten. Für Datenschützer und für Betriebs- und Personalräte. Viele wissen einfach nur, daß der Datenschutz ein Grundrecht ist, sie entwickeln daraus aber überhaupt keine Ideen, wie Datenmissbrauch und übermäßige Kontrolle in den Griff zu kriegen und betrieblich handhabbar zu machen sind.

SB: Die neue Staatsministerin für Digitalisierung Dorothee Bär hat den Datenschutz als Wachstumshindernis kritisiert. Wäre es nicht erforderlich, unter den Menschen, deren Leben inzwischen umfassend von der Digitalisierung geprägt wird, wieder so etwas wie eine emanzipatorische Basisbewegung zu propagieren, anstatt auf Stellvertreterlogiken zu setzen?

TE: Von einer CSU-Repräsentantin erwarte ich keinen neuen Impuls für eine emanzipatorische Bewegung von unten. Da muß man wahrscheinlich auf den Ebenen wie dem Chaos Computer Club, Netzpolitik.org oder der Re:publica suchen. Solche Netzwerke, Initiativen und Veranstaltungen bieten Gelegenheiten Bündnisse zu schmieden, um beispielsweise dem Datenschutz zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen. Die Piratenbewegung hat ja auch versucht, eine Verbindung von Grundrechten und emanzipatorischer Bewegung zustande zubringen. Da ist natürlich auch viel Individualismus im Spiel, daher erscheint mir eine solche Bewegung auf sich alleine gestellt schwierig. Das ist politisch ordentlich einzubetten. Vielleicht sollten die Parteien, die in der Wählergunst aktuell einbüßen, darüber nachdenken, innovative Bündnisse zu kreieren oder sich einem solchen Projekt wie der Piratenpartei zu nähern, um die eigene politische Agenda zu erneuern und mit diesen Bündnissen wieder frischen Wind in die Parteienlandschaft zu bringen.

SB: Thomas, vielen Dank für das Gespräch.

26. April 2018


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