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INTERVIEW/446: Kinderrechte - Umverteilungsinitiative gefragt ...    Ulrich Schneider im Gespräch (SB)


Gespräch am 29. August 2019 in Hamburg


Der Erziehungswissenschaftler Dr. Ulrich Schneider ist seit 1999 Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Neben seiner beruflichen Tätigkeit hat er eine Reihe von Büchern geschrieben, zuletzt "Kampf um die Armut - von echten Nöten und neoliberalen Mythen" (2015) und "Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können" (2017).

Am 29. August fand auf Einladung der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft im DGB-Haus eine Veranstaltung zum Thema "Aktiv werden gegen Kinderarmut!" statt [1]. Die Fraktionsvorsitzenden Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir diskutierten mit Ulrich Schneider sowie weiteren Expertinnen und Experten über diesen Problemkomplex. Am Rande der Veranstaltung beantwortete der Referent dem Schattenblick einige Fragen.


In der Diskussionsrunde - Foto: © 2019 by Schattenblick

Ulrich Schneider
Foto: © 2019 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Warum ist Kinderarmut so ein brisantes Thema in Deutschland und auch in Hamburg?

Ulrich Schneider (US): Es ist deshalb so ein brisantes Thema, weil Kinderarmut überflüssig wäre. Wir sind das fünftreichste Land auf dieser Welt, es gibt überhaupt keine Not, daß wir Kinderarmut zulassen müßten, daß wir sie nicht bekämpfen könnten. Und deswegen ist Kinderarmut immer in einem solch reichen Land auch Ausdruck politischen Versagens.

SB: Wer hat da versagt? Kinderarmut ist ja seit langem bekannt, und eigentlich müßten die Regierungsparteien über diese Problematik umfassend im Bilde sein.

US: Ich denke, wir haben ja seit Jahren, sagen wir mal seit der Wende, ein steigendes Armutsproblem in Deutschland, das jetzt 2018 erstmalig wieder ein bißchen abgenommen hat. Aber insgesamt ist die Tendenz steigend. Hamburg ist in gewisser Weise ein Sonderfall. Es ist das Land mit der höchsten Wirtschaftskraft pro Kopf und dem zweithöchsten durchschnittlichen Einkommen in Deutschland. In Hamburg gibt es zwar insgesamt vergleichsweise wenig Armut, jedoch herrscht innerhalb der Hansestadt eine deutliche Spaltung. Wenn man sich das anschaut, ist hier das Durchschnittseinkommen deutlich höher als in Restdeutschland, und deswegen ist das gesamte Lebenshaltungsniveau auch deutlich teurer, vergleichbar etwa mit München oder Stuttgart. Aus diesem Grund ist man hier als Kind auch schneller abgehängt. Legt man die Armutsdefinition zugrunde, daß Kinder arm sind, wenn sie nicht mithalten können, weil sie abgehängt sind von der Mitte, dann hat Hamburg ein deutliches Problem mit Armut und vor allem mit Kinderarmut.

SB: Deutschland ist ein reiches Land und dennoch wird die Spaltung zwischen sehr reichen und sehr armen Menschen immer größer. Wie kommt das und warum wird es seit Jahren immer wieder thematisiert, ohne daß die Politik entscheidend gegensteuert?

US: Ein Grund ist sicherlich, daß wir seit Mitte der 90er Jahre einen sich ausweitenden Niedriglohnsektor haben, der zwar in den letzten Jahren etwas gebremst wurde und nicht mehr weiter anwächst, der aber durch die Hartz-IV-Gesetzgebung erst richtig angeschoben worden ist, weshalb heute über 20 Prozent der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor arbeiten müssen. Das ist der eine Grund. Der andere Grund ist, wenn wir speziell von Kinderarmut reden, daß die Leistung für arme Kinder seit 2005 beschnitten wird. Mit Hartz IV wurden insbesondere kinderreiche Familien gegenüber der Sozialhilfe benachteiligt, sie haben weniger in der Tasche als vorher, das ist so. Und wenn man sich die weitere Gesetzgebung anschaut wurde das sogenannte Erziehungsgeld in Elterngeld umgewandelt. Damit hat man den Einkommenschwachen die Leistung fast halbiert, um dann genau dieses eingesparte Geld Einkommenstärkeren zukommen zu lassen. Dann wurden 2007 mit Hartz IV die Freibeträge auf dieses Elterngeld auch noch abgeschafft. Das heißt: Vor allem junge Mütter hatten schlagartig 300 Euro weniger im Monat im Portemonnaie. So etwas merkt man. Mit anderen Worten: Es sind einerseits die seit Jahren viel zu gering gestiegenen Löhne, andererseits kommt aber auch ein hausgemachtes Problem hinzu, indem wir seit der Jahrtausendwende eine Familienpolitik haben, die insbesondere die sogenannte leistungsstarke Mittelschicht bedient und bei den Menschen am unteren Rand deutlich einspart.

SB: Gibt es eine Lobby gegen Kinderarmut und wie ist diese in den politischen Parteien verortet?

US: Natürlich gibt es eine Lobby gegen Kinderarmut. Wenn wir uns den außerordentlich rührigen Kinderschutzbund anschauen, wenn wir uns unseren Paritätischen anschauen, wenn wir den VdK Deutschland und den Sozialverband Deutschland anschauen, kann man doch von einer ausgeprägten Lobby sprechen. Und ich denke, sie wird auch immer stärker und hat jetzt nach einer gewissen Durststrecke wieder erste Erfolge. Wenn man sich ansieht, daß mittlerweile SPD, Linke und Grüne für eine Kindergrundsicherung und ähnliche Forderungen eintreten, dann ist das erst einmal Ausdruck erfolgreicher Lobbyarbeit.

SB: Die SPD hat gerade die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ins Gespräch gebracht. Ist das ein Versuchsballon oder ein ernsthafter Versuch, eine sozialere Politik zu machen?

US: Wir dürfen nicht übersehen, daß die SPD bereits 2013 im Wahlkampf die Vermögenssteuer gefordert hat, und ich habe das damals als sehr ernsthaft empfunden. Das wurde dann von Gabriel wieder einkassiert, höchstpersönlich sozusagen von der Parteispitze. Seitdem erlebe ich zumindest in der SPD, daß weite Teile dieser Partei nach wie vor zu einer Vermögenssteuer stehen. Sie wurde dann 2017 im Wahlkampf mit so einem Ja-aber behandelt - im Prinzip richtig, aber da sind so viele Prozesse anhängig auf EU-Ebene, und wir wollen das erst einmal abwarten, das Ganze muß auch juristisch sicher sein. Inzwischen ist bei der SPD ein Prozeß gelaufen, der dazu geführt hat, daß sie erneut die Vermögenssteuer ins Gespräch bringt und wieder da steht, wo sie schon 2013 stand. Ich kaufe ihr das ab.

SB: Wie ist die Linkspartei in dieser Frage aufgestellt? Sie hat ja auf Bundesebene eine Initiative für Kindergrundsicherung gestartet und ist auch hier in Hamburg sehr aktiv.

US: Es ist praktisch Standard bei der Linkspartei, für eine Umverteilung im größeren Stil einzutreten, einmal aus Gründen der Gerechtigkeit, zum anderen aber auch aus Gründen der Vernunft. Wir haben in Deutschland ungeheure Defizite bei Investitionen in Infrastruktur, bei Investitionen in Armutsbekämpfung. Und wir haben unheimlich hohe Ausgaben in naher Zukunft zu bewältigen in der Pflege und in anderen Bereichen. Da muß das Geld ja irgendwo herkommen. Wer soll es bezahlten, wenn nicht die, die es haben? Von daher ist das nicht nur eine Sache der Gerechtigkeit, sondern auch der Vernunft. Das ist, wie gesagt, bei der Linkspartei schon lange Standard. Die SPD hat sich jetzt wieder zur Vermögenssteuer bekannt und auch bei den Grünen ist man solchen Konzepten ja nicht völlig abgeneigt. Auch hier sehe ich große Gemeinsamkeiten.

SB: Unter jungen Leuten sind starke Umweltbewegungen geschaffen worden, zuletzt hat sich die Bewegung Fridays for Future weithin einen Namen gemacht. Das sind Themen, die derzeit in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden. Sehen Sie die Möglichkeit eines Übertrags, daß diese Generation, die in solchen Fragen aktiv ist und auf die Straße geht, sich auch mit der Armutsproblematik befaßt?

US: Um das wirklich fundiert beurteilen zu können, fehlt mir der empirische Hintergrund. Ich nehme indessen Kinder wahr, weil ich selber welche habe, und empfinde sie als sozial sehr sensibel. Ich empfinde Kinder und junge Menschen ohnehin meist als sensibler als erwachsene Menschen. Ich erlebe junge Menschen immer als wesentlich idealistischer als Erwachsene, wesentlich optimistischer, wesentlich selbstvertrauender als erwachsene und alte Menschen. Von daher muß man auch ganz klar, was Armutsbekämpfung und gerechte Sozialpolitik angeht, auf die Jugend setzen, auf wen sonst!

SB: Bestimmte Bewertungen der Gesellschaft, wie zum Beispiel zu sagen, es handle sich um eine Klassengesellschaft, sind heutzutage nicht mehr sehr populär. Könnte es dennoch Sinn machen, auf solche Begrifflichkeiten zurückzugreifen?

US: Ich denke nicht, daß man im streng soziologischen Sinne wirklich ganz sauber Klassen unterscheiden kann. Aber es gibt Interessengegensätze, die man herausarbeiten und definieren muß, die man nicht kleinreden darf. Natürlich gibt es Interessengegensätze beispielsweise zwischen Mietern und profitorientierten Vermietern, sprich großen Aktien- und Wohnungsgesellschaften. Natürlich gibt es Interessengegensätze von Menschen, die für kleines Geld Leiharbeit machen, und großen Aktiengesellschaften, die Leiharbeiter im großen Stil vermieten. Diese Interessengegensätze sind da, und die darf man nicht kleinreden. Dazu braucht man aber im Zweifelsfall nicht auf den Klassenbegriff zu rekurieren.

SB: Es wird häufig von der Bildungsgesellschaft gesprochen und postuliert, Wissen sei eine Art Kapital der deutschen Gesellschaft. Zugleich werden sehr viele Kinder und junge Menschen abgehängt. Welche Schlüsse ließen sich aus diesem Widerspruch ziehen?

US: Wir haben viele Jugendliche, die abgehängt sind. Aber fairerweise muß man sagen, daß es früher sogar noch mehr waren. Die Anstrengungen, die in Deutschland gemacht wurden, kann man nicht völlig kleinreden. Aber wir sind natürlich noch weit davon entfernt, alle Kinder und Jugendlichen mitzunehmen. Das werden wir erst dann erreichen, wenn die Familie, was Bildungsfragen anbelangt, nicht mehr in der Pflicht ist, sprich, wenn die Schule aus ist, ist mit Bildung Schluß, dann haben die Familien mit Freizeit das Wort. Solange ein Großteil der Bildungsaufgaben, Hausarbeiten et cetera, Vorbereitungen auf Klassenarbeiten, auf die Familien abgeschoben wird, brechen natürlich soziale Unterschiede hervor zwischen denen, die schlecht gebildet sind, und denen, die besser gebildet sind, zwischen den Eltern, die zu Hause Zeit haben, das mit ihren Kindern zu machen und sie auf viele Weisen unterstützen zu können, und anderen, denen das nicht möglich ist. Da sind die alleinerziehenden Mütter, die vielleicht im Schichtdienst arbeiten und keine Zeit haben. Da sind noch die Eltern, die gut Deutsch sprechen und andere, die das nicht können. Das heißt, wir werden erst alle Kinder mitnehmen, wenn wir eine inklusive Schule mit einem Ganztagsangebot haben, so daß Familien wirklich von dieser Aufgabe entlastet sind.

SB: Herr Schneider, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:


[1] www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0348.html


Bericht und Interviews zur Diskussionsveranstaltung "Aktiv werden gegen Kinderarmut!" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

BERICHT/348: Kinderrechte - ohne Abstufung und Unterschiede ... (SB)


4. September 2019


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