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STELLUNGNAHME/001: Quo vadis NATO? - Ermächtigungsfragen (Norman Paech)


Responsibility to protect - ein neues Konzept für neue Kriege?

von Prof. Dr. Norman Paech, Referent der Podiumsdiskussion am Eröffnungsabend des Bremer Kongresses "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" am 26. April 2013 zum Thema "Militärische Interventionen zum Schutz von Menschenrechten?"



Mit zeitlichem Abstand zur Veranstaltung "Quo vadis NATO?" hatten wir Gelegenheit, die nachfolgende Einlassung von Herrn Prof. Dr. Norman Paech mitaufzunehmen und halten es für themengerecht und angemessen, sie dem Interview mit der Rechtsanwältin Helga Wullweber (*) noch hinzuzufügen.

(*) Siehe im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/186: Quo vadis NATO? - Zwirn für die Kettenhunde, Helga Wullweber im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0186.html

Porträtaufnahme des Autors - Foto: Archivfoto, © by Schattenblick

Prof. Dr. Norman Paech
Foto: Archivfoto, © by Schattenblick


Responsibility to protect - ein neues Konzept für neue Kriege?

Norman Paech

Der Bürgerkrieg in Syrien, ein Land an der unmittelbaren Peripherie der NATO, hat erneut die Legitimation einer militärischen Intervention zur zentralen Streitfrage zwischen den NATO-Partnern gemacht. Ist es der Schutz der Bevölkerung in einer sozialrevolutionären Erhebung gegen einen längst überfälligen Diktator, ein weiteres Kapitel der arabischen Rebellion, welche es zu schützen gilt - so die offizielle Position der Regierungen und ihrer Medien. [1] Oder ist es ein erneuter Kolonialkrieg, der primär auf die Sicherung der Ressourcen und der geostrategischen Position bei der Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens [2] zielt? Ein weiteres Beispiel der "neuen Ära des Energieimperialismus"? [3] Die Frage ist nicht einfach durch einen Verweis auf die beiden Syrien-Resolutionen 1970 v. 26. Februar 2011 und 1973 vom 17. März 2011 des UN-Sicherheitsrats zu beantworten. Mit ihnen hat es allenfalls die juristische Legitimation für den Kriegsauftakt im März 2011 zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Einrichtung einer Flugverbotszone gegeben. Doch die Enthaltung der Stimmen durch vier wichtige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats (Brasilien, China, Indien, Russland) hat den Dissens innerhalb des Sicherheitsrats deutlich gemacht, der sich im Laufe der NATO-Aktionen noch verschärfte. Um eine vergleichbare Resolution haben die USA, Frankreich und Großbritannien lange im UN-Sicherheitsrat gerungen. Sie scheiterten jedoch an dem eindeutigen Widerstand Russlands und der VR China, die offensichtlich aus dem Missbrauch der Resolution 1973 durch die NATO gelernt hatten und nicht noch einmal in eine derartige Falle tappen wollten. Der Widerspruch zwischen der Kriegsführung der NATO-Staaten und dem Mandat, welches der UN-Sicherheitsrat für einen militärischen Einsatz in Libyen gegeben hatte, bestand von Anfang an. In Washington, Paris und London wurde ganz offen von dem Ziel gesprochen, das Regime Gaddafi zu beseitigen. Im UN-Sicherheitsrat konnte man sich nur auf ein Waffenembargo, die Einrichtung einer Flugverbotszone und den Schutz der Zivilbevölkerung einigen. Mit diesen Mitteln aber war kein "regime change" zu erreichen. So führte man den Krieg solange, bis Gaddafi beseitigt worden war - jenseits der vom Mandat gesetzten Grenzen und ohne völkerrechtliche Legitimation. Das wiederum hat dem UN-Sicherheitsrat doppelte Kritik aus unterschiedlicher Richtung eingebracht: er sei unfähig, die notwendigen Maßnahmen zur Beseitigung eines diktatorischen Regimes zu ergreifen, bzw. er sei unfähig, die Grenzen seines Mandats gegenüber den NATO-Staaten durchzusetzen.

Dabei hatte der UN-Sicherheitsrat in den Jahren zuvor durchaus bewiesen, dass er angesichts außergewöhnlicher akuter Notstände und humanitärer Katastrophen nicht handlungsunfähig ist. So reagierte er im Frühjahr 1991 auf die schweren, an Völkermord grenzenden Angriffe auf die Kurden im Norden des Irak durch Saddam Hussein mit der Resolution 688, die dem irakischen Regime den Zugang zu den kurdischen Gebieten verwehrte. Dies war ein schwerer Eingriff in die Souveränität des Irak und die erste Intervention des UN-Sicherheitsrats, die als eine "humanitäre Intervention" bezeichnet werden kann. Denn sie bezog sich auf eine rein innerstaatliche Situation, die vom Sicherheitsrat nur wegen der grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme als eine Gefährdung des internationalen Friedens (gem. Art. 39 UN-Charta Voraussetzung für ein Tätig werden) angesehen werden konnte. Der UN-Sicherheitsrat gab hier noch kein Mandat für ein militärisches Eingreifen, sondern sicherte nur einzelnen humanitären Organisationen den Zugang zu dem gefährdeten Gebiet. Weiter ging der Sicherheitsrat im Dezember 1992 mit seiner Resolution 794 angesichts des faktisch handlungsunfähigen Staates Somalia. Auch hier hat er einen internen humanitären Notstand als Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit gewertet und gem. Art. 39 und 42 UN-Charta eine multinationale Truppe von 30 000 Soldaten unter Führung der USA zum militärischen Eingriff ermächtigt, um die Ordnung wiederherzustellen. Damit dehnte er den Begriff der "internationalen Friedensbedrohung" substantiell aus und erweiterte seine Kompetenz, auch in rein innerstaatliche Zustände eingreifen zu können. Die Mission scheiterte bekanntlich und die USA zogen sich unter entwürdigenden Umständen 1994 aus Somalia zurück. Das hinderte den Sicherheitsrat allerdings nicht, noch im gleichen Jahr der französisch geführten "Opération Turquoise" in Rwanda mit der Resolution 1992 ein militärisches Mandat zu geben. Auch dieses Mandat wurde vornehmlich mit dem Schutz Vertriebener, Flüchtlinge und Zivilisten begründet. Schließlich legitimierte der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 940 vom Juli 1994 die Operation "Restore Democracy" unter Führung der USA in Haiti. Ziel war es, die unrechtmäßige Regierung zu beseitigen, was den Truppen diesmal gelang. Dies war zweifellos die weitestgehende Interpretation der "internationalen Friedensbedrohung" und die schwächste und am wenigsten überzeugende Begründung für militärische Maßnahmen. Dass Russland und China die Resolution haben passieren lassen, ist wohl weitgehend dadurch zu erklären, dass es sich hier um den "Vorhof" der USA handelt.

Die Libyen-Resolutionen 1970 und 1973 stehen in dieser Tradition "humanitärer Interventionen". Beide Resolutionen sind ihrem Wortlaut nach geprägt von der Sorge um die Zivilbevölkerung. Ihren Schutz fordern sie nicht nur vor den "ausgedehnten und systematischen Angriffen" (Res. 1970) ein, sondern auch vor den "groben und systematischen Verletzung von Menschenrechten, insbesondere willkürlicher Inhaftierungen, des Verschwindenlassens und summarischer Hinrichtungen" (Res. 1973). Alle empfohlenen Maßnahmen, vom Waffenembargo und Reiseverbot über das Einfrieren von Vermögenswerten bis hin zum Einsatz militärischer Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung sind Ausdruck dieses humanitären Ansatzes der Resolutionen. Dieses Schutzanliegen ist legitim. Die Kritik hat sich an den falschen Prämissen, an dem von Anfang an intendierten und absehbaren Missbrauch der Ermächtigung zu Zwecken, die weder die Resolutionen noch das Völkerrecht erlaubt, entfacht. [4] Mag ein Diktator noch so brutal, abschreckend und langlebig sein, die Souveränität des von ihm beherrschten Staates schützt ihn vor ausländischen Interventionen, wenn er nicht den internationalen Frieden bedroht (Art. 39 UN-Charta) - und das konnte man von Gaddafi nicht behaupten.

Allerdings hat der UN-Sicherheitsrat - das ist seine Stärke aber auch die Gefahr - eine von keiner Institution kontrollierbare Kompetenz und entscheidet eigenmächtig, wann und unter welchen Umständen der internationale Frieden bedroht ist. Diese Freiheit nutzte er seit Beginn der neunziger Jahre zu einer Reihe der bereits erwähnten humanitären Interventionen, deren letzte die beiden Libyen-Resolutionen sind. Rückendeckung bekam er durch ein Konzept, welches entwickelt worden war, um zukünftig den Missbrauch der "humanitären Intervention" wie beim Überfall auf das damalige Jugoslawien im Frühjahr 1999 zu verhindern. Diesen Krieg der NATO gegen einen Staat, der sie nicht angegriffen hatte und für den die NATO nicht einmal ein Mandat beim Sicherheitsrat nachgesucht hatte, sah der damalige Generalsekretär Kofi Annan als schwere Niederlage an. Es war die totale Missachtung der UNO mit einer windigen und völkerrechtlich höchst zweifelhaften Rechtfertigung als "humanitäre Intervention", die ihn veranlasste, nach Alternativen zu suchen. Er wollte das Verhältnis von Souveränität und Intervention bestimmen lassen, um eine wirksame Reaktion auf humanitäre Notstände zu ermöglichen. Gleichzeitig wollte er die Ausschaltung des UN-Sicherheitsrats in zukünftigen Fällen verhindern.

Im September 2000 wurde auf Initiative des kanadischen Außenministers eine "International Commission on Intervention and State Sovereignty" (ICISS) gebildet, die schon nach einem Jahr im Dezember 2001 ihr Ergebnis vorlegte: den inzwischen weithin bekannt gewordenen Bericht "The responsibility to protect". Auf diese "Schutzverantwortung" stützt sich nun der Sicherheitsrat ausdrücklich zum ersten Mal in den Libyen-Resolutionen.

Der Bericht ist zum Katechismus des Menschenrechtsschutzes zwischen den Staaten avanciert mit all den exegetischen Raffinessen, die Katechismen gemeinhin provozieren. [5] Seine zentrale These lautet, dass "souveräne Staaten eine Verantwortung haben, ihre eigenen Bürger vor vermeidbaren Katastrophen - vor Massenmord und Vergewaltigung, vor Hunger - zu schützen, dass aber, wenn sie nicht willens oder nicht fähig dazu sind, die Verantwortung von der größeren Gemeinschaft der Staaten getragen werden muss." (ICISS, 2001, S. VIII).

Die große Unbekannte dieser These ist die "Verantwortung der größeren Gemeinschaft der Staaten": wie sieht sie aus und wie wird sie durch wen ausgeübt? Diese Frage spitzt sich auf die Frage zu, wer wann zu einer militärischen Intervention berechtigt ist. Der Bericht identifiziert eine Reihe von Tatbeständen schwerer Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen, die ein militärisches Eingreifen begründen können. Primär jedoch legt er das Gewicht auf Maßnahmen der zivilen Prävention. Erst wenn diese scheitern, hält er auch militärische Maßnahmen für legitim. Allerdings formuliert er eine Reihe von Vorbedingungen, die uns aus der historischen Lehre vom "gerechten Krieg" bekannt sind. Es handelt sich um insgesamt sechs Kriterien: 1) ein gerechter Grund, 2) eine rechte Absicht, 3) die militärischen Maßnahmen als letztes Mittel, 4) die Verhältnismäßigkeit der Mittel, 5) realistische Erfolgsaussichten und 6) eine richtige Instanz für die Autorisierung der militärischen Intervention. Alle Kriterien sind in hohem Maße unbestimmt und auslegungsfähig. Hinsichtlich des sechsten Kriteriums lässt der Bericht jedoch keinen Zweifel daran, dass es zu einer derartigen Intervention in jedem Fall eines Mandats des UN-Sicherheitsrats gem. Art. 39/42 UN-Charta bedarf. [6] Unmissverständlich heißt es in dem Report: "Bevor eine militärische Intervention durchgeführt wird, muss in jedem Fall die Autorisierung durch den Sicherheitsrat gesucht werden. Jene, die nach einer Intervention rufen, müssen formal um eine solche Autorisierung nachsuchen oder der Sicherheitsrat muss von sich aus die Initiative ergreifen oder der Generalsekretär gem. Art. 99 UN-Charta..." (ICISS 2001, Z. 6.15, S. 50). Dieses spiegelt nichts anderes als den aktuellen Stand des Völkerrechts wider. Die UN-Generalversammlung hat es einige Jahre später bestätigt, als sie auf dem World Summit 2005 das neue Konzept annahm und in ihr Abschlussdokument einarbeitete. Unter Ziffer 139 fasst es zusammen:

"Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapitel VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Zivilbevölkerung vor Mord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Organisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentliche Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offensichtlich dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen...." [7]

Damit ist dem Bericht und seinem Konzept allerdings noch keine rechtlich verbindliche Qualität verliehen worden. Er bleibt ein politisches Programm, dessen Konkretisierung die Generalversammlung weiter prüft, und welches nicht an der Dogmatik der UN-Charta rüttelt: Ohne eine Resolution des UN-Sicherheitsrats darf die Souveränität eines Staates nicht zugunsten humanitärer Ziele und Motive durchbrochen werden.

Dies kann nicht deutlich genug betont werden, da es immer wieder Stimmen gibt, die sich nicht an die in der Charta formulierten Grenzen halten wollen, um das Feld der "humanitären Intervention" auch für Einzelstaaten oder regionale Organisationen zu öffnen. U. a. verweisen sie dabei auf die Charta der Afrikanischen Union (AU) vom 11. Juli 2000, zu deren Arbeitsgrundsätzen auch gem. Art. 4 (h) zählt: "Das Recht der Union, auf Beschluss der Versammlung in einem Mitgliedstaat zu intervenieren und zwar im Hinblick auf schwerwiegende Umstände, namentlich: Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Doch führt dieser Hinweis in die Irre. Denn dieses "Recht" kann nicht das Gewaltverbot und das Gebot der Nichteinmischung, die gleichfalls als Grundsätze (f) und (g) in der Charta der AU genannt werden, durchbrechen. Durch die Verankerung der beiden Grundsätze in Art. 2 Z. 4 und Z. 7 UN-Charta haben sie übergeordnete Gültigkeit (Art. 103 UN-Charta). Auch Staaten der AU können das Recht zur Intervention nur mit der Zustimmung des Mitgliedstaates selbst oder auf Grund einer Resolution des UN-Sicherheitsrats gem. Art. 39 und 42 UN-Charta in Anspruch nehmen.

Beunruhigender ist die Stellungnahme des European Union Institute for Security Studies, mit der es sich für eine Ausdehnung der "humanitären Intervention" über die Grenzen der UN-Charta ausspricht. [8] Beunruhigend nicht wegen der Qualität ihrer Argumentation, sondern wegen der Bedeutung des Instituts als offizieller Thinktank der EU. Ihr Autor Luis Peral beginnt mit der üblichen Klage über die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrats, da er offensichtlich seinen Beitrag noch vor der März-Resolution 1973 geschrieben hat. Doch auch nach der Ermächtigung zum Schutz der Bevölkerung und zur Einrichtung einer Flugverbotszone, die bereits das Kernelement der Resolution 688 von 1991 gegen den Irak bildeten, hätte sein Versuch, die "humanitäre Intervention" auch außerhalb des UN-Sicherheitsrats zu etablieren, kaum anders ausgesehen. Denn der Autor benutzt sein generelles Unbehagen an den Aktionsmöglichkeiten des Sicherheitsrats zu einer weitergehenden Kritik an dem Konzept der Schutzverantwortung, der "responsibility to protect". Er beginnt mit einem Missverständnis des Berichts, die allerdings seiner gelegentlichen Doppeldeutigkeit selbst geschuldet ist. [9] Er unterstellt der Kommission, dass sie militärische Interventionen in außergewöhnlich schwerwiegenden Fällen wie Völkermord und ethnische Säuberung auch dann erlauben, wenn der Sicherheitsrat nicht in der Lage ist, adäquate Maßnahmen zu ergreifen (S. 2). Diese Position sieht er im Widerspruch zu der von ihm richtig wahrgenommenen Aussage des Abschlussdokuments des World Summit von 2005, dass allein der Sicherheitsrat auf einer Fall zu Fall-Entscheidung die Schutzverantwortung im Rahmen des Kapitel VII mit militärischen Mitteln wahrnehmen kann. Die Folgerung Perals ist daher eindeutig falsch: "So dient die Formulierung des Prinzips, wie es aus dem World Summit hervorgegangen ist, exakt der entgegengesetzten Zielsetzung im Bericht der ICISS, welches es als fundamentales Prinzip des Völkerrechts identifiziert hatte." (S. 3, Übersetzung N.P.) Er übersieht, dass es zwischen der Kommission und der Generalversammlung in dieser Frage gar keinen Dissens gegeben hat, das Abschlussdokument nur die authentische Interpretation des Berichtes liefert. Der ICISS-Bericht weist sehr nachdrücklich auf die Gefahr hin, dass Einzelstaaten oder Ad-hoc-Koalitionen zu eigenmächtigen militärischen Aktionen greifen könnten, wenn der Sicherheitsrat in schockierenden Notsituationen, die nach einer Reaktion schreien, untätig bleibt (ICISS 2001, Z. 6.39, S. 55), er billigt sie aber nicht. Er weist auf die weitere Gefahr hin, dass ein Versagen des Sicherheitsrats und die darauffolgende eigenmächtige militärische Intervention einzelner Staaten ernste Konsequenzen für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der UNO selbst haben werden (ICISS 2001, Z, 6.40, S. 55).

Auch der nächste Widerspruch, den der Autor entdeckt haben will, zeigt zwar ein politisches Dilemma auf, ist aber kein Widerspruch. "Wenn das Konzept der responsibility to protect den Versuch darstellt, den einzelnen Staat daran zu hindern, den Schutzschild der Souveränität dazu zu benutzen, um seine Bürger legal abzuschlachten, so ist es gleichermaßen inakzeptabel, dass der UN-Sicherheitsrat seine Entscheidungsmacht dazu benutzt, internationale Aktionen daran zu hindern, die Opfer zu beschützen." (S. 3) In den beiden jüngeren Fällen von Völkermord, in Kampuchea und Ruanda, hat der Sicherheitsrat nur deshalb nichts unternommen, weil die großen Mächte ihn herausgehalten haben, genauso wie bei ihren Kriegen gegen das ehemalige Jugoslawien und Irak. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die ICISS-Kommission nach Alternativen für einen inaktiven oder blockierten Sicherheitsrat gesucht hat, sie wollte ihm lediglich präzisere Entscheidungshilfen bei der Verhinderung von Massenverbrechen geben. Daher formuliert der Bericht: "Es gibt kein besseres oder geeigneteres Organ als den UN-Sicherheitsrat, um militärische Interventionen zum menschlichen Schutz zu autorisieren.... Die Aufgabe ist nicht, Alternativen zum Sicherheitsrat als Quelle der Autorität zu finden, sondern den Sicherheitsrat arbeitsfähiger zu machen als bisher." (ICISS 2001, Z. 6.14, S. 49)

Dem Autor des ISS geht es allerdings gerade darum, einen "Rahmen für die Durchsetzung von R2P ohne Autorisierung durch den UNSC" zu skizzieren, wie die Überschrift für seine Ausführungen S. 4 ff. lautet. Dabei ist durchaus zuzugeben, dass es sehr viele neue Gefahren und Bedrohungen für den internationalen Frieden gibt, wie z.B. die massive Vertreibung von Bevölkerung bei internen Konflikten, grenzüberschreitende Flüchtlingsströme, die die Souveränität der Nachbarstaaten gefährden können. Doch fallen sie erst dann in den Rahmen der internationalen Schutzverantwortung, wenn sie zu schwersten Notsituationen führen, die nur noch mit militärischen Mitteln beantwortet werden können. Dies ist trotz der erschreckend hohen Zahl der Flüchtlinge aus Syrien aber noch nicht der Fall. Der Autor bezieht sich auf Resolution 1296, in der der Sicherheitsrat im Jahr 2000 für friedenssichernde Aktivitäten in Sierra Leone präzise Bedrohungen der internationalen Sicherheit rechtlich zu fixieren ("codify") versuchte, die ein unmittelbares Eingreifen forderten. Im Rahmen dieser Resolution seien "alle Staaten der internationalen Gemeinschaft befugt, Aktionen zu unternehmen auf der Basis internationaler Normen und Prinzipien, wie sie in einer Resolution des Rats aufgeführt werden, die aber der Rat selber nicht anwenden will." (S. 5) Dies allerdings ist nun ein vollkommen unzulässiger Kurzschluss. Die Tatsache, dass der Sicherheitsrat in einem konkreten Fall den Tatbestand der Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Friedens feststellt, aber dennoch nicht zu einer Maßnahme nach Art. 42 greift, eröffnet für keinen Einzelstaat die Legitimation, nun selbst in Aktion zu treten. Diese Legitimation folgt erst aus dem Mandat nach Art. 42 UN-Charta und noch nicht aus der Feststellung nach Art. 39 UN-Charta.

Die ICISS-Kommission hat selbst zwei Alternativen diskutiert, die dann eingreifen könnten, wenn der Sicherheitsrat seiner "Schutzverantwortung" nicht nachkommt. Die erste Alternative läge bei der Generalversammlung, die in einer Notsondersitzung, wie sie durch die "Uniting for Peace"-Resolution 377 V von 1950 genau für die Situationen geschaffen wurde, in denen der Sicherheitsrat handlungsunfähig ist, über die notwendigen Maßnahmen entscheiden könnte (ICISS 2001, Z. 629, S. 53). Ob es dann leichter ist, eine Zweidrittel Mehrheit für eine Entscheidung im Plenum zu erhalten, mag dahinstehen. Auch hatte die Kommission noch nicht die Erfahrung aus dem Jahr 2003 gemacht, als die USA während der zähen Beratungen im Sicherheitsrat über ein Mandat für eine Intervention gegen den Irak erfolgreich eine Initiative verhinderte, eine Sondersitzung der Generalversammlung einzuberufen. Die USA hätten dort nur eine deutliche Absage für ihre Interventionspläne zu erwarten gehabt und konnten bereits mit dem Hinweis, dass diese Alternative nicht in ihrem Interesse sei, die Initiatoren abschrecken.

Die zweite Alternative wären regionale Organisationen, die in vielen Fällen aufgrund ihrer nachbarschaftlichen Nähe zu der problematischen Zone viel besser für eine Intervention geeignet seien (ICISS 2001, Z. 631, S. 53 f.). Art. 52 UN-Charta gewährt ihnen eine gewisse Flexibilität und Art. 53 ermöglicht ihnen sogar, Zwangsmaßnahmen durchzuführen - allerdings nur unter der Autorität des Sicherheitsrats: "Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats dürfen Zwangsmaßnahmen aufgrund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht ergriffen werden", heißt es in Art. 53 Abs. 1 S. 2 UN-Charta. Allerdings zeigt sich die Kommission mit der Praxis nachträglicher Zustimmung, wie nach den Interventionen der ECOWAS in Liberia und Sierra Leone, auch für die Zukunft einverstanden.

Der Ansatz des Europäischen Instituts, die Eingriffsprärogative des UN-Sicherheitsrats gänzlich zu durchbrechen, ist juristisch untragbar. Er ist aber auch gefährlich, da er letztlich nur darauf hinausläuft, den NATO- Staaten die Möglichkeit zu verschaffen, ihr militärisch überlegenes Potential zur Durchsetzung ihrer strategischen Interessen unter Umgehung der UNO einzusetzen. Dies zu betonen ist insbesondere notwendig in einer Zeit, in der seit langem die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens in den militärischen Planungen der USA-NATO Allianz eine zentrale Rolle als mögliche Ziele spielen, vor allem Iran, Libyen, Syrien und der Libanon.10 Was hier die Etikette "humanitär" und "Schutzverantwortung" trägt, ist in Wahrheit "regime change", wie die jüngste Eskalation des Krieges in Libyen bewiesen hat und wie es die jetzige Diskussion der "Freunde Syriens" um ein militärisches Eingreifen zugunsten der Aufständischen in Syrien zeigt.


Fußnoten:

[1] Dazu zählen die öffentlich-rechtlichen TV- und Radioanstalten ebenso wie die Boulevard- und sog. Qualitätspresse - und zwar im Falle Libyens flächendeckend während der vergangenen Monate. Insofern erübrigen sich konkrete Nachweise.

[2] Vgl. etwa Joachim Guilliard, Kein Frühling in Arabien, in: junge welt v. 27. 07. 2011 und W. Guilliard, Kolonialkrieg gegen Afrika, in: junge welt v. 28. 07.2011. Michel Chossudovsky, A "Humanitarian War" on Syria? Military Escalation. Towards a Broader Middle East-Central Asian War? In: Global Research, August 9, 2011.

[3] Vgl. Friedberg Pflüger, Eine neue Ära des Energieimperialismus, in: Internationale Politik, Mai/Juni 2010.

[4] Vgl. etwa Reinhard Merkel, Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim, in: FAZ v. 22. März 2011. Dagegen Christian Tomuschat, Wenn Gaddafi mit blutiger Rache droht, in: FAZ v. 23. März 2011. Vgl. auch N. Paech, In Kreuzzugseuphorie. Auf nach Tripolis - Fuck the International Law. Anmerkungen zur Libyen-Resolution 1973 und anderen "humanitären Interventionen" des UN-Sicherheitsrats, in: junge welt v. 30. März 2011.

[5] Vgl. u.a. Tobias Debiel, Souveränität verpflichtet: Spielregeln für den neuen Interventionismus, in: IPG 3, 2004, S. 61 ff. Lena Jöst, Peter Strutynski, Humanitär intervenieren - aber nur mit humanitären Mitteln, in: Werner Ruf, Lena Jöst, Peter Strutynski, Nadine Zollet, Militärinterventionen: verheerend und völkerrechtswidrig, Berlin 2009, S. 9 ff.

[6] Vgl. Jennifer M. Welsh, From Right to Responsibility: Humanitarian Intervention and International Society, in: Global Governance, Vol. 8, No. 4, S. 503 ff., 504 - 507.

[7] Übersetzung Lena Jöst, Peter Strutynsky, vgl. o. Anm. 5.

[8] Luis Peral, Implementing R2P in Libya - How to Overcome the Inaction of the UN Security Council, European Institute for Security Studies, ISS Analysis March 2011.

[9] Vgl. Lena Jöst, Peter Strutynski, Anm. 5, S. 21.

[10] Vgl. Michel Chossudovsky, Anm. 2.

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Quelle:
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Prof. Dr. Norman Paech, Universität Hamburg
Internet: http://norman-paech.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2013