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ALTER/254: Menschen in der Pflege nicht allein lassen (BAGSO)


Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO)
Pressemitteilung vom 31. März 2020

Menschen in der Pflege nicht allein lassen!

Stellungnahme der BAGSO zur Corona-Epidemie in Deutschland


Anlässlich des Tags der älteren Generation am 1. April fordert die BAGSO die Politik auf, bei der Bekämpfung der Folgen der Corona-Epidemie die Anstrengungen zum Schutz älterer Menschen zu Hause, in der ambulanten Pflege und in Pflegeeinrichtungen zu verstärken. Die bekannt gewordenen Infektionsfälle mit vielen Todesfällen in Pflegeheimen zeigen, dass auch die Altenpflege nur unzureichend auf die Epidemie vorbereitet ist. Die derzeitige Ausnahmesituation stellt die Gesellschaft vor Fragen von hoher ethischer Relevanz. Dies betrifft den Umgang mit begrenzten Ressourcen wie Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten ebenso wie die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zur Reduzierung sozialer Kontakte in Pflegeheimen.

Überall wo Menschen pflegerisch versorgt werden, braucht es dringend und in ausreichendem Umfang Atemschutzmasken und Schutzkleidung. In der häuslichen Pflege geht es zudem um die Sicherstellung der Versorgung. Für osteuropäische Pflegekräfte müssen in bilateralen Gesprächen Lösungen gefunden werden, die ihnen Reisefreiheit garantieren. Pflegende Angehörige müssen schnell und unbürokratisch unterstützt werden.

Die BAGSO hält es für richtig und wichtig, dass die in Deutschland erst vor einer Woche in Kraft getretenen Regelungen zur Einschränkung physischer Kontakte bis auf Weiteres unverändert gelten. Ein besonderes Augenmerk muss aber auf die Situation allein lebender älterer Menschen sowie auf die Situation in Alten- und Pflegeheimen gelegt werden. Für allein lebende Menschen braucht es überall lokale "Anrufstationen" und die Betroffenen müssen davon erfahren. Die Einschränkungen persönlicher Kontakte zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeeinrichtungen und mit ihren Angehörigen bergen selbst gesundheitliche Risiken und müssen so bald wie möglich durch mildere Maßnahmen wie besondere Hygienevorkehrungen ersetzt werden.


Über die BAGSO
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen vertritt über ihre 120 Mitgliedsorganisationen viele Millionen ältere Menschen in Deutschland. Mit ihren Publikationen und Veranstaltungen - dazu gehören auch die alle drei Jahre stattfindenden Deutschen Seniorentage - wirbt die BAGSO für ein möglichst gesundes, aktives und engagiertes Älterwerden.

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Corona-Epidemie in Deutschland: Menschen in der Pflege nicht allein lassen!
Stellungnahme der BAGSO zum Tag der älteren Generation am 1. April 2020

Als Interessenvertretung der älteren Generationen hat die BAGSO bereits am 24. März 2020 Empfehlungen verabschiedet, wie der gesundheitliche Schutz, die Versorgung und die soziale Situation älterer Menschen angesichts der Ausbreitung des Coronavirus SarsCoV-2 in Deutschland verbessert werden können. Die Empfehlungen betreffen die Situation von älteren Menschen, die aktuell zu ihrem eigenen Schutz den ganzen Tag - vielfach allein - zu Hause bleiben, ebenso wie von Menschen in der ambulanten Pflege und in Pflegeeinrichtungen.[1]

Zum Tag der älteren Generation stellen wir fest: Der von der Bundesregierung, gemeinsam mit den Regierungschefs der Länder, eingeschlagene Weg ist richtig, aber wir müssen in Deutschland noch besser werden. Das gilt im Besonderen für den Schutz besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen, zu denen nicht nur die Älteren und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen zählen, sondern auch alle, die sich etwa im Bereich der Pflege um deren Versorgung kümmern. Zudem ergeben sich, gerade wenn die Ausnahmesituation lange Zeit andauern sollte, Fragestellungen von hoher ethischer Relevanz. Hier müssen alle Maßnahmen immer wieder neu auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft und bei Bedarf korrigiert werden.[2]

Pflegerische Versorgung

Die bekannt gewordenen Infektionsfälle mit vielen Todesfällen in Pflegeheimen zeigen, dass auch die Altenpflege nur unzureichend auf die Epidemie vorbereitet ist. Es braucht dringend und in ausreichendem Umfang Atemschutzmasken und andere Schutzkleidung überall dort, wo Menschen pflegerisch versorgt werden, sei es stationär oder ambulant, zum Schutz der Pflegebedürftigen und zum Schutz von professionellen Pflegekräften und pflegenden Angehörigen. Der bisherige Verlauf zeigt, dass sich das Virus sonst dramatisch schnell mit verheerenden Folgen verbreitet.

In der häuslichen Pflege geht es neben dem Schutz vor Ansteckung um die Sicherstellung der Versorgung. Viele osteuropäische Pflegekräfte haben Deutschland bereits verlassen, aus Sorge, zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren zu können. Wie es beim grenzüberschreitenden Pendlerverkehr zum Teil bereits gelungen ist, müssen hier in bilateralen Gesprächen dringend Lösungen gefunden werden, die den Pflegekräften Reisefreiheit garantieren.

Ausfälle in der häuslichen Versorgung können häufig nicht allein von den Familien aufgefangen werden. Leistungen zur Entlastung pflegender Angehöriger sollten deshalb schnell und unbürokratisch erhöht und flexibilisiert werden.[3]

Medizinische Versorgung

Wir begrüßen die vielfältigen Bemühungen, sich auf eine große Zahl von stationär und speziell intensivmedizinisch zu versorgenden COVID-19-Patientinnen und Patienten vorzubereiten. Und wir hoffen, dass mit den getroffenen Maßnahmen die Zahl der Neuinfektionen so weit reduziert werden kann, dass alle Patientinnen und Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf angemessen versorgt werden können.

Berichte aus anderen Staaten, dass bei nicht mehr ausreichenden intensivmedizinischen Ressourcen nach dem Lebensalter entschieden wird, wer eine kurative und wer nur noch eine palliativmedizinische Behandlung bekommt, lösen bei vielen älteren Menschen Ängste aus. Die relevanten medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland haben nun Handlungsempfehlungen auf der Grundlage allgemein geltender notfallmedizinischer Regeln verabschiedet.[4] Die klare Botschaft der deutschen Medizin ist: "Wir entscheiden nicht nach Alter!" Maßgeblich ist vielmehr die Erfolgsaussicht der Behandlung.[5] Mit Blick auf die entstandene Besorgnis begrüßen wir diese Klarstellung sehr.

Einschränkungen von Freiheitsrechten

Wir halten es für richtig und wichtig, dass die in Deutschland erst vor einer Woche in Kraft getretenen Regelungen zur Einschränkung physischer Kontakte bis auf weiteres bis zum 20. April 2020 unverändert gelten werden. Wir begrüßen alle Bemühungen, in dieser Zeit weitere intensivmedizinische Kapazitäten zu schaffen und die Zahl der Testungen weiter zu erhöhen. Wir verbinden dies mit der Hoffnung, dass es damit gelingen kann, die Infizierten und Kranken zu isolieren und bestmöglich zu versorgen und gleichzeitig die Einschränkungen für die Nicht-Infizierten schrittweise lockern zu können. Hier können differenzierende Lösungen angezeigt sein: So ist es vorstellbar, dass Schulen und Universitäten wieder öffnen, die - gerade auch von älteren Menschen genutzten - Angebote der Erwachsenenbildung oder des Seniorenstudiums vorerst jedoch weiterhin nur online bereitgestellt werden.

Sorge bereitet uns vor allem die Situation allein lebender älterer Menschen ohne soziales Netzwerk und die von Bewohnerinnen und Bewohnern von Alten- und Pflegeeinrichtungen. Über die Situation älterer Menschen in Einpersonenhaushalten ist im Verlauf der Corona-Krise bisher wenig berichtet worden. Wir befürchten, dass dort nicht wenige alte Menschen in Angst vor Ansteckung oder sogar bereits erkrankt sind, die sich nur begrenzt selbst helfen und nicht das Nötigste für ihre gesundheitliche Sicherheit tun können. Lokale Anrufstationen, die um Hilfe und Unterstützung gebeten werden können, sollten - soweit noch nicht geschehen - eingerichtet werden. Diese Angebote müssen vor Ort in geeigneter Weise an die möglichen Betroffenen vermittelt werden.

Besonders belastend sind die Einschränkungen persönlicher Kontakte zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen untereinander und zu ihren Angehörigen. In Anbetracht der Größe der Bedrohung erscheinen solche Maßnahmen derzeit vom Grundsatz her gerechtfertigt. Das entbindet alle Akteure jedoch nicht von der Pflicht, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.

Die Einschränkungen bergen zum Teil erhebliche gesundheitliche Risiken. Der in vielen Heimen bestehende Personalmangel hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Angehörige Pflegeaufgaben übernehmen, die nicht wegfallen dürfen, etwa bei der Sicherstellung ausreichender Flüssigkeitsaufnahme, bei der - häufig zeitaufwendigen - Nahrungsaufnahme, vor allem aber bei der Sicherstellung individueller Ansprache und Beschäftigung.

Weiter gibt es Berichte über Pflegeheime, die die von den Landesregierungen oder lokalen Behörden erlassenen Regelungen oder Empfehlungen eigenmächtig verschärfen.[6] Eine von Einrichtungsleitungen generell angeordnete vollständige Isolation von Menschen in Altenpflegeeinrichtungen etwa in der Form, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner - ohne dass es Verdachtsfälle gibt - ihre Zimmer nicht mehr verlassen dürfen, ist nicht gerechtfertigt. Das Gebot körperlicher Distanz darf nicht zu einer nahezu vollständigen sozialen Ausgrenzung führen. Dies gilt umso mehr, als vor allem demenziell Erkrankte, die den überwiegenden Teil der Bewohnerschaft mancher Pflegeheime ausmachen, den Grund für die Maßnahmen nicht verstehen können. Stattdessen müssen die Einrichtungen Wege finden, wie in der aktuellen Situation ein regelmäßiger Kontakt innerhalb der Einrichtung und nach außen organisiert werden kann. Hier sind Bund, Länder und Kommunen in der Pflicht, an vertretbaren Lösungen mitzuwirken und ggf. finanzielle und organisatorische Unterstützung zur Nutzung von digitalen Kommunikationstechnologien zu leisten.

Alle Einschränkungen für die Besuche von Angehörigen stehen fortwährend auf dem Prüfstand und müssen so bald wie möglich durch mildere Maßnahmen wie besondere Hygienevorkehrungen ersetzt werden. Dies ist ein Gebot der Verhältnismäßigkeit und der Menschlichkeit.

Verabschiedet vom BAGSO-Vorstand am 30. März 2020


Anmerkungen:

[1] Die Stellungnahme ist abrufbar unter:
https://www.bagso.de/publikationen/menschenleben-schuetzen-zusammenhalt-staerken/

[2] Siehe hierzu auch die aktuelle Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur Corona-Krise:
https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/show/corona-krise-menschenrechte-muessen-daspolitische-handeln-leiten/
sowie die Stellungnahme der Unabhängigen Expertin der Vereinten Nationen für die Rechte älterer Menschen:
https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25748&LangID=E

[3] Vorschläge von BAGSO und wir pflegen e.V. zur Sicherung der häuslichen Pflege unter:
https://www.bagso.de/fileadmin/user_upload/bagso/01_News/Aktuelles/2020/Massnahmen_zur_Corona-Soforthilfe_fuer_die_haeusliche_Pflege.pdf

[4] Die klinisch-ethischen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin sind abrufbar unter:
https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/covid-19/1540-covid-19-ethikempfehlung-v2/file
In die gleiche Richtung geht die Ad-hoc-Empfehlung "Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise" des Deutschen Ethikrates:
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf

[5] In den Empfehlungen wird auch klargestellt, dass dabei immer alle Patientinnen und Patienten betrachtet werden, nicht nur die Gruppe der COVID-19-Erkrankten.

[6] Siehe auch https://www.biva.de/positionspapier-besuchsbeschraenkungen-pflegeheim/

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Quelle:
Pressemitteilung vom 31. März 2020
Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO)
Noeggerathstr. 49, 53111 Bonn
Telefon 0228 / 24 99 93-0, Fax 0228 / 24 99 93-20
E-Mail: kontakt@bagso.de
Internet: www.bagso.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2020

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