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ARBEIT/462: Von Hartz IV zum System von der Leyen (Sozialismus)


Sozialismus Heft 6/2011

Von Hartz IV zum System von der Leyen
Erneuter drastischer Umbau der Arbeitsmarktpolitik

Von Bernhard Müller


Der Konjunkturaufschwung läuft weiter gut, wenngleich dies vor allem eine Sonderentwicklung in Deutschland markiert. Allerdings verweisen die politischen Umwälzungen in Nordafrika und im Nahen Osten sowie die Katastrophen in Japan auf deutliche Risiken. Unbestreitbar ist zudem, dass weiterhin große Unterschiede zwischen den einzelnen EU-Staaten bestehen: Während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland um 1,5%, in Frankreich, Belgien und Österreich im Frühjahr 2011 um 1,0% und in den Niederlanden um 0,9% zulegte, verzeichnete Italien eine Stagnation (plus 0,1%) und Spanien ein nur mageres Plus von 0,3%. Portugals Wirtschaft schrumpfte um 0,7%, während Griechenlands Wirtschaft zwar um 0,8% wuchs, dabei aber das Vorjahresniveau um 4,8% verfehlte.

In einem atemberaubenden Tempo hat die deutsche Wirtschaft den tiefsten Einbruch in der Nachkriegsgeschichte hinter sich gelassen und ist nach einem Einbruch des (realen) Bruttoinlandsprodukts von 4,7% in 2009 im letzen Jahr wieder um 3,6% gewachsen. Diese Entwicklung hat sich nach einer Abkühlung im IV. Quartal 2010 im Frühjahr 2011 fortgesetzt. Damit wurde das Vorkrisenniveau von Anfang 2008 bereits wieder überschritten. Im Vorjahresvergleich legte die Wirtschaftsleistung sogar so stark zu wie seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr, nämlich um 5,2%. Positive Impulse kamen im Vergleich mit dem IV. Quartal 2010 vor allem von der Binnenwirtschaft. Sowohl die Investitionen in Ausrüstungen und in Bauten als auch die Konsumausgaben haben deutlich zugenommen.

Die positive wirtschaftliche Entwicklung hat selbstverständlich auch auf dem Arbeitsmarkt Spuren hinterlassen.(1) Die Zahl der Erwerbstätigen stieg im Jahr 2010 auf rund 40,5 Mio. Personen. Auch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm wieder zu und erreichte mit 27,71 Mio. fast wieder das Vorkrisenniveau. Dieser Anstieg ist insbesondere auf die Teilzeitarbeit zurückzuführen. Dies ging allerdings erneut einher mit der weiteren Ausdehnung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Der Boom der Leiharbeit mit inzwischen über 800.000 Beschäftigten (Februar 2011) ist dabei nur eine Facette. Knapp fünf Millionen ausschließlich geringfügig Beschäftigte gehören ebenso zum Bild einer zersplitterten Lohnarbeitsgesellschaft wie die 1,4 Mio. Lohnabhängigen, die trotz Arbeit arm und deshalb auf zusätzliche Sozialleistungen angewiesen sind. Insgesamt sind von den etwa 36 Mio. lohnabhängig Beschäftigten nur mehr rund 23 Mio. in einem Normalarbeitsverhältnis.

Die Zunahme der Beschäftigung in 2010 hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist. Im Durchschnitt des letzten Jahres wurden 3,244 Mio. Menschen offiziell als arbeitslos registriert. Dies waren 179.000 bzw. 5% weniger als ein Jahr zuvor. Allerdings gab es deutliche Unterschiede: Während die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen im Bereich des SGB III deutlich um 9,6% (absolut: 1.075.463) gesunken ist, war der Rückgang bei den arbeitslosen HilfeempfängerInnen mit 2,8% (absolut: 2.162.958) wesentlich bescheidener. Hinzu kommt, dass trotz des »XXL-Aufschwungs« die Zahl der erwerbsfähigen BezieherInnen von Arbeitslosengeld II seit Anfang 2011 wieder steigt.


Gesamtetat Arbeitslosenversicherung und Hartz IV

Ist 2010
Ist 2010
Ist 2010
Soll 2011
Soll 2011
Soll 2011


Arbeitslosen-
versicherung
Hartz IV

Gesamt

Arbeitslosen-
versicherung
Hartz IV

Gesamt

Arbeitsförderung
Weitere Leistungen
Lohnersatz/
Grundsicherung
Verwaltung(*)
Unterkunft
Gesamt

Finanzierung:
Bund
Kommunen
BA
Gesamt
9.073
5.908
17.541
4.662
0
37.184

13.134
0
24.050
37.184
6.000
0
22.200
4.400
13.700
46.300

30.500
10.500
5.256
46.256
15.073
5.908
39.741
9.062
13.700
83.484

43.634
10.500
29.306
83.440
10.002
4.095
15.470
4.643
0
34.210

8.046
0
26.164
34.210
5.300
0
20.400
4.300
14.300
44.300

29.000
10.700
4.600
44.300
15.302
4.095
35.870
8.943
14.300
78.510

37.046
10.700
30.764
78.510

* ohne SGB Verwaltungskosten der Kommunen
** Ausgaben der Arbeitslosenversicherung ohne »Eingliederungsbeitrag« der BA


Kosten von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung

Dass die Arbeitslosigkeit in der schweren Wirtschaftskrise nicht so stark eingebrochen ist wie die Wirtschaftsleistung, war nicht zuletzt das Verdienst einer klugen Arbeitsmarktpolitik und der Bereitschaft der Lohnabhängigen und ihrer Gewerkschaft, dafür die eigenen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. So konnte durch den Rückgriff auf die Arbeitszeitkonten, die Hinnahme von Kurzarbeit mit entsprechenden Kürzungen der Lohneinkommen sowie das aus den Beiträgen der Lohnabhängigen finanzierte Kurzarbeitergeld ein deutlicherer Anstieg der Massenarbeitslosigkeit vermieden werden.

Finanziert wurde das »deutsche Beschäftigungswunder« also von den Lohnabhängigen selbst. Dies trifft auch für den Etat der Arbeitslosenversicherung insgesamt zu. So führten der Rückgang bei den Beitragseinnahmen um 4,0 Mrd. Euro sowie die um acht Mrd. Euro expandierenden Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik (4,5 Mrd. Euro entfielen davon auf das Kurzarbeitgeld) im Krisenjahr 2009 zu einem Defizit in der Arbeitslosenversicherung in Höhe von 13,8 Mrd. Euro, das ausschließlich aus den Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit finanziert wurde.

Durch die günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt gaben Bund und Kommunen 2010 bei Gesamtausgaben von etwa 84 Mrd. Euro insgesamt 10,8 Mrd. Euro weniger für Arbeitsmarkt und Grundsicherung aus als geplant. 8,7 Mrd. Euro entfielen dabei auf höhere Beitragseinnahmen (+1,0 Mrd. Euro) sowie geringere Auszahlungen von Arbeitslosengeld I (-5,7 Mrd. Euro) und II (-1,7 Mio. Euro). Dass der Bund im Jahr 2010 insgesamt 15,8 Mrd. Euro weniger als im Haushaltsentwurf geplant ausgeben musste, ist ganz überwiegend auf die Minderausgaben im Hartz IV-System und den niedrigeren Zuschussbedarf für die Arbeitslosenversicherung zurückzuführen.


Die neue Agenda: Sparen durch »Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente«

Obwohl der Schutzschirm des Bundes für die Arbeitsmarktpolitik mit 5,2 Mrd. Euro im Jahr 2010 (im Unterschied zu dem für die Banken mit einigen hundert Mrd. Euro)(2) mehr als bescheiden ausgefallen ist, plant die Bundesregierung nun im Rahmen der »Schuldenbremse«, die Lohnabhängigen und die sozial Ausgegrenzten besonders massiv am Schuldenabbau zu beteiligen. So hat die schwarz-gelbe Bundesregierung schon im Mai 2010 im Rahmen ihres Sparpaketes eine »Neujustierung« der Arbeitsmarktpolitik angekündigt. Danach sollten durch Kürzungen in den Bereichen des SGB II + III fast 30 Mrd. Euro eingespart werden:

16 Mrd. Euro durch Kürzungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik;
0,8 Mrd. Euro durch die Abschaffung des befristeten Zuschlags zum ALG II;
7,2 Mrd. Euro durch Abschaffung des Zuschusses an die Rentenversicherung bei ALG II;
4,5 Mrd. Euro durch »Effizienzverbesserungen« bei der Arbeitsmarktvermittlung im SGB II;
1,6 Mrd. Euro durch die Abschaffung des Elterngelds bei ALG II-BezieherInnen.

Konkretisiert werden die Sparmaßnahmen jetzt in dem von der Bundesarbeitsministerin vorgelegten »Gesetzentwurf zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente«, durch die die Arbeitslosenversicherung und das Hartz IV-System noch einmal gründlich »reformiert« werden sollen.

Von den Sparmaßnahmen entfallen auf die Bundesagentur für Arbeit (BA) 10 Mrd. Euro. Deren Etat war vor allem durch die Absenkung der Beitragssätze ab 2007 von 6,6% auf schließlich 2,8% im Jahr 2009 bereits massiv beschädigt worden: Die Beitragseinnahmen sanken von 51,1 Mrd. Euro im Jahr 2006 auf nurmehr 26,5 Mrd. Euro im Jahr 2008, einem Zeitpunkt also, an dem der Krisenprozess den Arbeitsmarkt noch gar nicht vollständig erfasst hatte. Auf diesem Niveau haben sie sich auch im »XXL-Aufschwung« eingependelt. Selbst im Boomjahr 2011 erwartet die BA nurmehr Einnahmen von 24,6 Mrd. Euro.

Zur Kompensation für den politisch gewollten rabiaten Einnahmeausfall erhält die BA seit 2007 Anteile (1%) aus der Mehrwertsteuer. Sie beliefen sich 2010 auf 7,9 Mrd. Euro, konnten den Ausfall bei den Beitragseinnahmen also bei weitem nicht ausgleichen.

Gleichzeitig hat die schwarz-gelbe Bundesregierung der Arbeitslosenversicherung seit 2008 einen »Eingliederungsbeitrag« aufgebrummt, mit dem die Versicherten die Hälfte der Eingliederungs- und Verwaltungsausgaben des Hartz IV-Systems mitfinanzieren. Das waren 2010 insgesamt 5,3 Mrd. Euro. Hinzu kommen Förderleistungen für die BezieherInnen von Hartz IV, z.B. für berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen für hilfebedürftige Jugendliche oder die berufliche Ersteingliederung für Jugendliche mit Behinderung. Diese direkt aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung auch für Hartz IV-EmpfängerInnen zu finanzierenden Förderinstrumente summieren sich auf nochmals etwa 600 Mio. Euro im Jahr.

Gleichwohl konnte die BA in den Jahren 2006/2007 eine Reserve von 17,9 Mrd. Euro (2007) aufbauen, die für die Antikrisenpolitik eingesetzt wurde. Das war allerdings nur möglich, weil durch Hartz IV die Voraussetzungen für den Leistungsbezug und die Leistungshöhe beschränkt und der Umfang der Arbeitsförderung zurückgefahren wurden. So bezog von den 3,24 Mio. Arbeitslosen im Jahr 2010 nur mehr knapp ein Drittel (1,04 Mio.) noch Lohnersatzleistungen der Versichertengemeinschaft.

Das Ziel der Bundesregierung besteht offenkundig darin, die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung (inkl. der Mitfinanzierung von Hartz IV) dem niedrigeren Niveau der Beitragseinnahmen anzupassen. Gleichzeitig werden ihr weitere Belastungen aufgenötigt. Die Koalition geht dabei sehr ruppig vor, sodass es immer wieder zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommt:

Um dem Sparen Nachdruck zu verleihen, erhält die BA zur Finanzierung ihrer Defizite vom Bund nurmehr einen Kredit, der zurückzuzahlen ist. Bis 2006 haftete der Bund für solche Defizite. Diese Haftung wurde bereits von Schwarz-Rot außer Kraft gesetzt. Konsequenz: Belastung des BA-Etats in den nächsten Jahren durch die Kredit-Rückzahlung in Höhe von 5,2 Mrd. Euro für das Defizit im Jahr 2011. Weitere Defizite werden folgen.
Schwarz-Gelb will den Bundeszuschuss, den die BA seit 2008 als Ausgleich für die niedrigeren Beitragssätze erhält, um bis zu vier Mrd. Euro jährlich kürzen. Dabei handelt es sich um ein typisches Beispiel des aus den letzten Jahrzehnten sattsam bekannten Verschiebebahnhofs: Damit soll die Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung im Alter durch den Bund finanziert werden.
Im Jahr 2010 hat der Bund die betriebliche Insolvenzumlage ab 2011 ausgesetzt. Die BA wollte ihre Rücklage aus diesen Zahlungen in Höhe von 1,2 Mrd. Euro ins Haushaltsjahr 2011 übernehmen. Das hat Schwarz-Gelb untersagt. Effekt: Das Defizit der BA in 2010 fiel niedriger aus, der Bundeszuschuss wurde entsprechend gekürzt. Das Defizit und damit die Kreditaufnahme der BA im Jahr 2011 fallen damit logischerweise höher aus. Die Beitragszahler bezahlen so die Leistungen der BA im Falle von Insolvenz.
Künftig sollen Arbeitslosen- und Rentenversicherung die Rentenbeiträge der Behinderten in Werkstätten übernehmen. Der Beitrag summiert sich auf rund 155 Mio. Euro (120 Mio. für BA, 35 Mio. Euro für die Rentenversicherung) im Jahr. Hinzu kommen auf einen Schlag 510 Mio. Euro, weil die neue Regelung für drei Jahre rückwirkend geltend soll. Der Bund zahlt diese Beiträge schon seit Ende 2007 nicht mehr. Die von der BA (400 Mio. Euro) und der Rentenversicherung (110 Mio. Euro) ausgelegten Beträge fehlen in den Etats.

Klar ist, dass mit diesen zusätzlichen Belastungen der Druck auf die BA, die geforderten 10 Mrd. Euro Einsparungen bei der Arbeitsförderung auch umzusetzen, hoch ist. Wichtigste Maßnahme zur Umsetzung dieser Politik ist die Umwandlung von Pflicht- in Ermessungsleistungen, wie im Falle des »Gründungszuschusses«, der bisher Arbeitslosen einen Weg in die selbständige Existenz ermöglichen sollte. Durch Umwandlung in eine Ermessensleistung, Veränderung der Anspruchsgrundlage und Kürzung der Unterstützungsbeiträge sollen die Kosten von 1,8 Mrd. Euro im Jahr 2010 auf nur noch 400 Mio. Euro im Jahr 2013 gesenkt werden (Einspareffekt bis 2015: 5,2 Mrd. Euro).

Aber selbst wenn es der BA gelingen sollte, das angepeilte Einsparvolumen und damit eine deutliche Verschlechterung der Arbeitsförderung umzusetzen, bleibt sie angesichts der ihr aufoktroyierten Mindereinnahmen und Mehrbelastungen, die sich bis 2014 auf mindestens 14 Mrd. Euro summieren, chronisch unterfinanziert und wird rote Zahlen schreiben müssen. Nach Angaben der Bundesagentur droht ein Finanzierungsloch von mindestens 9 Mrd. Euro. Bei einem konjunkturellen Abschwung droht der Offenbarungseid, weil die Rücklagen lange aufgebraucht sind.


»Neujustierung« des Hartz IV-Systems

Auch im Bereich des SGB II hat die schwarz-gelbe Bundesregierung einen umfangreichen Umbau eingeleitet. Durch Kürzungen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik und »Effizienzverbesserungen in der Arbeitsvermittlung« sollen hier bis 2014 insgesamt 10,5 Mrd. Euro eingespart werden. Praktisch bedeutet dies, dass u.a. die »Leistungen zur Eingliederung in Arbeit« von 6 Mrd. Euro im Jahr 2010 auf nurmehr 4,2 Mrd. Euro 2014 sinken sollen.

Entsprechend wird im Hartz IV-System für 2011 mit Ausgaben von gut 44 Mrd. Euro kalkuliert - rund zwei Mrd. Euro weniger, als noch im vergangenen Jahr eingesetzt wurden. Rückläufig sind trotz minimaler Erhöhung der Regelsätze die Regelleistungen zur Sicherung des Existenzminimums sowie die arbeitsmarktpolitischen Eingliederungsleistungen. Fast ein Viertel der Ausgaben für das Hartz IV-System entfallen auf die Kommunen, die vorrangig die Kosten für die Unterkunft übernehmen müssen.

Der Bund reduziert demgegenüber seine Aufwendung für das Hartz IV-System u.a. durch die Streichung der Rentenbeiträge für Hilfeempfänger, die Abschaffung des befristeten Zuschlags zu den Regelsätzen sowie durch die Kürzung der Eingliederungsleistungen um 1,3 Mrd. Euro. Das ist ein Fünftel gegenüber den Ansätzen des vergangenen Jahres. Diese Reduktion geht weit über den erwarteten Rückgang der arbeitslosen HilfeempfängerInnen hinaus.

Vor allem bei der öffentlich geförderten Beschäftigung, aber auch bei der beruflichen Weiterbildung, soll es drastische Einschnitte geben. Hier wurden 2010 im Schnitt mehr als 670.000 Lohnabhängige arbeitsmarktpolitisch gefördert. 262.000 Menschen befanden sich in Ein-Euro-Jobs, 211.000 Arbeitssuchende kamen über Lohnkostenzuschüsse in geförderte sozialversicherte Jobs und 50.000 waren in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bzw. »Arbeitsgelegenheiten in der Entgeldvariante«. Das soll so nicht bleiben.

Deshalb werden ABM und die Entgeltvariante der »Arbeitsgelegenheiten« komplett gestrichen. Der Beschäftigungszuschuss, der sich speziell an langzeitarbeitslose Hilfeempfänger richtet, für die voraussichtlich ohne eine Förderung in den nächsten 24 Monaten keine Chance auf einen regulären Arbeitsplatz besteht, wurde schon im Jahr 2010 gedeckelt. Er ist neben ABM und den »Arbeitsgelegenheiten« das einzige Instrument im Hartz IV-System, bei dem eine tarifliche bzw. ortübliche Entlohnung verbindlich geregelt ist. Diese Verbindlichkeit wird jetzt beseitigt.

Mit dieser Politik werden die letzten Mindeststandards im Hartz IV-System für eine ordentliche Bezahlung beseitigt. So will man die Förderung von Arbeitgebern beim »Beschäftigungszuschuss« nicht mehr davon abhängig machen, dass die Beschäftigten nach Tarif bezahlt werden. Zudem werden Erwerbslose mit besonderen Vermittlungshemmnissen nicht mehr berücksichtigt. All das öffnet einer weiteren Ausbreitung von Billigbeschäftigung Tür und Tor.

Aber auch bei den Arbeitsgelegenheiten, die 2010 mit 1,8 Mrd. Euro fast ein Drittel der Gesamtausgaben ausmachten, will die Bundesregierung die Axt anlegen und sparen. Dafür sollen die Pauschalen für die Beschäftigungsgesellschaften, die den Langzeitarbeitslosen Ein-Euro-Jobs anbieten, von 500 Euro auf eine Grundpauschale von 30 Euro und eine Zusatzpauschale für »betreungsintensive Fälle« von bis zu 120 Euro gesenkt werden. Damit ist aus der Sicht vieler Träger eine professionelle Begleitung nicht mehr möglich und viele städtische Beschäftigungsgesellschaften geraten in existenzielle Nöte.

Schließlich werden Hartz IV-Empfänger immer häufiger mit Sanktionen bedrängt, wie aus den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zu entnehmen ist. 2009 wurden rund 727.000 Mal Sanktionen gegen Bezieher von ALG II ausgesprochen. 2010 lag die Anzahl bereits bei rund 829.000, dies entspricht einer Steigerung um 14%. Angestiegen ist im Vorjahresvergleich auch die Höhe der Zwangsmaßnahmen: im Durchschnitt wurden die monatlichen ALG II-Beiträge um 123,72 Euro infolge von Sanktionen gekürzt.

Ein Großteil der Sanktionen hat allerdings im Widerspruchsverfahren keinen Bestand. Die unklare Gesetzeslage sowie eine miserable Verwaltungspraxis führen vielmehr zu einer massiven Klageflut, mit entsprechend hohen Gerichtskosten, die in jeder Abrechnung des Hartz IV-Systems fehlen. Der Effekt ist neben einem »Beschäftigungsprogramm« für die Justiz einzig ein riesiges Konfliktpotenzial.


Wirkungen des Sparkurses

Die politisch gewollte drastische Absenkung der Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik und Armutsverwaltung zeigt bereits deutliche Wirkungen. So fiel die Zahl der neubeginnenden Maßnahmen in der Beruflichen Weiterbildung seit Jahresbeginn 2011 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um minus 48% auf nur noch 111.697 TeilnehmerInnen (April 2011). Insbesondere Hartz IV-EmpfängerInnen (SGB II) sind betroffen. Hier sinkt die Arbeitslosigkeit nur langsam, im April 2011 gegenüber 2010 mal gerade um 89.000 oder 4%. Die Zahl der Maßnahmen in der beruflichen Weiterbildung ist um 23% gesunken, die Zahl der seit Jahresbeginn neubegonnenen Maßnahmen sogar um 40%.

Ähnlich dramatisch sind die Einbrüche in der öffentlich geförderten Beschäftigung. Dabei geht es nicht nur um die Rückgänge bei den Ein-Euro-Jobs, deren Zahl um 35% (absolut: 105.000) auf nunmehr 193.000 zurückgefahren wurde. Tiefe Einschnitte gibt es vor allem auch bei teureren Instrumenten, mit denen etwa der Berliner Öffentliche Beschäftigungssektor finanziert wird. Beispiel Beschäftigungszuschuss (SGB II § 16e): Hier gab es auf Bundesebene im April 2011 nur noch 19.105 Arbeitsplätze, die gefördert wurden - ein Rückgang von 52%! Noch dramatischer sind die Rückgänge bei den seit Jahresbeginn neu begonnenen Förderungen. Ihre Zahl liegt um 69% unter dem Vorjahresstand.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung ist finster entschlossen, ihre »Neujustierung« von Arbeitsmarkt- und Armutspolitik umzusetzen. Mit der Schuldenbremse im Rücken hat sie im Eckwertebeschluss vom 16. März 2011 verbindliche Festlegungen für den Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2012 sowie den Finanzplan bis 2015 getroffen. In diesem Eckwertebeschluss wird zur Arbeitsmarktpolitik festgestellt: »Die günstige Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung als auch die Umsetzung der Einsparvorhaben aus dem im Juni 2010 beschlossenen Zukunftspaket wirken dämpfend auf die Bundesausgaben bei den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende und der Arbeitsförderung... Angesichts rückläufiger Arbeitslosenzahlen und höherer Erwerbsbeteiligung sowie struktureller Einsparungen wird die BA bereits ab dem Jahr 2012 einen positiven Finanzierungssaldo aufweisen; sie kann daher mit der Rückzahlung des ihr im Jahr 2011 gewährten Darlehens beginnen.«

Dieser schönfärberische Optimismus steht im krassen Gegensatz zu den tatsächlichen Wirkungen dieser »Neujustierung« von Arbeitslosenversicherung und Hartz IV-System:

Die ganze Kürzungsoperation ist schon deshalb völlig absurd, weil sie ein riesiges gesellschaftliches Konfliktpotenzial heraufbeschwört. Die eh schon gravierende soziale Spaltung der Berliner Republik wird so mit weiteren sozialen Konflikten aufgeladen. Die drastische Kürzung der Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik steht zudem in eklatantem Widerspruch zu der vor allem von den Arbeitgebern ständig vorgetragenen Klage über unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland. Es fehlt bei Schwarz-Gelb schlicht der politische Wille, das vorhandene Arbeitskräftepotenzial zu qualifizieren. In ihrem Sparwahn bevorzugen die Koalitionäre die Opferung der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf dem Altar der »Schuldenbremse«.
Sämtliche Errungenschaften aktiver Arbeitsmarktpolitik, der Fortentwicklung der Qualifikation der Lohnabhängigen, einer gesellschaftlich abgefederten Phase der Arbeitslosigkeit und der Hilfestellungen für sozial Benachteiligte werden mit der Sparpolitik brutal abgeräumt. Die soziale Spaltung wird so weiter vertieft und die sozial Ausgegrenzten ihrem »Schicksal« überlassen.
Einen Ausweg aus der anhaltenden Krisenkonstellation bietet diese Sparwut nicht. Der »XXL-Aufschwung« steht auf tönernen Füßen und kann bei wieder offen ausbrechender Finanzkrise schnell zu Ende sein. Nach wie vor bleibt die Inlandsnachfrage schwach, weil die Einkommen der Beschäftigten trotz aktueller Aufschwungkonstellation stagnieren bzw. sinken. Die dargelegte Sparoperation von Schwarz-Gelb im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und im Hartz IV-System verstärkt die Nachfrageschwäche massiv, indem sie Arbeitslosen und SozialleistungsempfängerInnen und den für ihre Betreuung zuständigen gesellschaftlichen Institutionen finanzielle Mittel entzieht. Hinzu kommt, dass den lohabhängigen BeitragszahlerInnen immer mehr Lasten aufgebürdet werden, die an anderer Stelle fehlen. Gefährdet werden schließlich massiv Arbeitsplätze bei den Trägern von Maßnahmen im Bereich von Arbeitslosenversicherung und Hartz IV-System.

Bernhard Müller ist Redakteur von Sozialismus.


Anmerkungen

(1) Vgl. zum Folgenden auch: Wilhelm Adamy, Arbeitsmarktpolitik und Finanzen: Bilanz 2010 - Perspektiven 2011, in: Soziale Sicherheit 4/2011.

(2) Ein wesentlicher Grund für den deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung im Jahr 2010 um 319 Mrd. Euro waren denn auch laut Bundesbank die »umfangreichen Maßnahmen zur Finanzmarktstabilisierung in Höhe von 241 Mrd. Euro«. »Die seit 2008 kumulierten Effekte von Finanzmarktunterstützungsmaßnahmen beliefen sich gemäß den derzeit berücksichtigten vorläufigen Werten auf 335 Mrd. Euro bzw. 13,4% des BIP.« (Deutsche Bundesbank, Pressenotiz vom 13.4.2011)


*


Quelle:
Sozialismus Heft 6/2011, Seite 19 - 23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2011