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ARBEIT/486: Soziale Verantwortung von Unternehmen und das chinesische Arbeitsrecht (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 118, 4/11

Interessen, die verbinden?
Soziale Verantwortung von Unternehmen und das chinesische Arbeitsrecht

Ein Gespräch mit Francine Chan Ping Lan (Mitarbeiterin) und April Lai (Vorstandsmitglied) von Worker Empowerment in Hongkong im Oktober 2011.




Europäische Unternehmen und andere ausländische Investoren in China profitieren nach wie vor von der mangelnden arbeitsrechtlichen Absicherung und den schlechten Arbeitsbedingungen der überwiegend weiblichen ArbeitsmigrantInnen in den arbeitsintensiven Industrien. Die NGO Worker Empowerment arbeitet seit 2004 von Hongkong aus an einer Verbesserung der arbeitsrechtlichen Lage in China und unterstützt ArbeiterInnen bei der Durchsetzung ihrer Rechte.


frauensolidarität: Wie arbeitet Worker Empowerment?

Francine Chan Ping Lan (FCPL): Wir setzen uns für das Bekanntwerden des geltenden Arbeitsrechts unter den ArbeiterInnen in den Exportindustrien ein. Dazu führen wir Aufklärungs- und Bildungsarbeit durch und unterstützen ArbeiterInnen bei der Durchsetzung ihrer individuellen Rechtsansprüche. Ein weiteres Schwergewicht unserer Arbeit liegt auf der Organisierung von ArbeiterInnen mit dem Ziel, strukturelle Änderungen im System zu erreichen.

Unser Einsatzort ist überwiegend im Perlflussdelta, im südlichen Teil Chinas. Wir betreiben ein ArbeiterInnenzentrum in Shenzen und eines in Huizhou, beide befinden sich in der Provinz Guangdong. Dort bieten wir Rechtsberatung bei Streitfällen und veranstalten offene Arbeitsgruppen, um aktuelle Themen oder Fälle zu diskutieren. Zum Beispiel gibt es eine Arbeitsgruppe zu Politik und Anwaltschaft, eine andere befasst sich mit Verletzungen am Arbeitsplatz. Wer dabei die notwendigen Behandlungskosten trägt, ist eine der häufigsten Fragen.

frauensolidarität: 2008 wurde das Arbeitsvertragsgesetz (Contract Labour Law) eingeführt und der Öffentlichkeit von der Einheitsgewerkschaft All China Federation of Trade Unions (ACFTU) als großer Fortschritt präsentiert. Speziell während der Olympischen Spiele sollten damit alle kritischen Stimmen kalmiert werden. Gibt es durch das Gesetz von 2008 heute spürbare Verbesserungen?

FCPL: Es gibt vielleicht geringfügige Verbesserungen, aber die große Mehrheit der Arbeiterinnen steht unter großem Druck. Zu den größten Problemen der Beschäftigten zählen nach wie vor exzessive Arbeitszeiten, geringe Löhne, unbezahlte Überstunden, ausbleibende Zahlungen, mangelnde Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen, Altersdiskriminierung und die Diskriminierung durch das Niederlassungsgesetz (Hukou-System).

Hintergrund dazu ist, dass das geltende Arbeitsvertragsgesetz nicht umgesetzt wird. Wenn wir die Durchsetzung des Arbeitsrechts seitens der Regierung betrachten, stellen wir allzu oft fest, dass ArbeiterInnen bei der Arbeitsverwaltung keine Unterstützung finden. Eher werden die Arbeitgeber unterstützt. Den ArbeiterInnen wird von einer Klage beim Volksgericht abgeraten. Ein Prozess ist eine kostspielige Unternehmung, deshalb suchen sie eher den Weg der außergerichtlichen Schlichtung auf betrieblicher Ebene. Dadurch verzichten ArbeiterInnen aber auf die ihnen rechtlich zustehenden Abfindungen, aus Angst vor dem ungewissen Ende eines Schiedsverfahrens und aufgrund der Hürden, die ihnen ein solches Verfahren auferlegt.

Eine der Hürden ist, dass ArbeiterInnen ihre Arbeitsbeziehungen nachweisen müssen. Nach dem Arbeitsvertragsgesetz von 2008 sind Arbeitsverträge mittlerweile vorgeschrieben, aber die Mehrheit der ArbeitnehmerInnen unterzeichnet auch heute noch keinen Vertrag, wenn sie in einer Fabrik zu arbeiten beginnen. Somit gibt es kein Verfahren, und sie erhalten keine Abfindung.

Zusätzlich müssen sie die Anzahl ihrer Arbeitsstunden belegen. Alle Aufzeichnungen und Dokumente behält der Arbeitgeber. Manchmal werden auch gefälschte Aufzeichnungen angefertigt, falls ein Nachweis vor Gericht verlangt wird. Die Beweislast, dass es sich um gefälschte Dokumente handelt, liegt bei den ArbeiterInnen. Dasselbe gilt für Krankheiten, Unfälle oder wenn es bei Kontakt mit Chemikalien in späterer Folge zu Unfruchtbarkeit kommt. Die Beweislast liegt immer bei den Frauen.

frauensolidarität: Welche Unterstützung bietet Worker Empowerment in diesen Situationen?

FCPL: Wir beraten die ArbeiterInnen zu den verschiedenen Rechtswegen, die sie in Anspruch nehmen können. Wenn ein Schiedsverfahren der geeignete Weg ist, beraten wir sie zum Ablauf und klären sie auf, welche Dokumente sie benötigen werden. Wenn wir bereits wissen, dass es sich um einen trickreichen Arbeitgeber handelt, raten wir ihnen, so viele Belege wie möglich für ihre Anstellung zu sammeln, ohne dass der Arbeitgeber etwas davon erfährt.

Vor allem geht es uns darum, sie in der Überzeugung zu bestärken, dass auf diesem Weg etwas erreicht werden kann, ihnen das notwendige Selbstvertrauen zu geben, um überhaupt Kontakt mit den staatlichen Stellen aufzunehmen. Wir raten ihnen, sich auf sich selbst zu verlassen, keinen Anwalt anzuheuern, zumal wir keine finanzielle Verfahrenshilfe leisten können.

April Lai (AL): Gegenwärtig gibt es rund 150 Millionen migrantische Arbeitskräfte in China, allein in Shenzen leben rund zwölf Millionen. Die gesetzliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt 40 Wochenstunden. Aber in der Realität sind die Gehälter sehr niedrig, und die ArbeiterInnen sind gezwungen, Überstunden zu machen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der gesetzliche Mindestlohn liegt weit unter den Kosten für den benötigten Warenkorb. In Shenzen beträgt der Verdienst durchschnittlich 1.320 RMB, d. s. 154 Euro (150 Euro beträgt der Mindestlohn in Shenzen, Anm.), in Dongguan sind es 950 RMB (111 Euro). Gegenwärtig ist die Inflationsrate in China sehr hoch, Konsumprodukte sind teuer. ArbeitsmigrantInnen müssen zusätzlich ihre Familien daheim in den Dörfern unterstützen.

In kleinindustriellen Anlagen sind die Arbeitsbedingungen meist schlechter als in der Großindustrie. Unter den kleinen Produktionsstätten ist die Konkurrenz am härtesten. Sie ergattern Aufträge, indem sie die billigsten Angebote machen. Zudem gibt es je nach Herkunft des Investitionskapitals eine unterschiedliche Managementkultur. Foxconn z. B. ist ein taiwanesisches Unternehmen, das regelrecht militärisch organisiert ist. Auf der anderen Seite werden von den großen internationalen Unternehmen Subunternehmen eingesetzt, die ihre Aufträge wiederum an kleinere Fabriken weiterleiten, in denen ebenfalls sehr schlechte Arbeitsbedingungen vorherrschen.

frauensolidarität: Zahlreiche NGOs in Europa führen Kampagnen zur sozialen Verantwortung der Unternehmen (Corporate Social Responsibility - CSR) durch. Immer wieder hören wir nun von NGOs vor Ort, dass in den vergangenen Jahren keine wesentlichen Fortschritte erzielt wurden. Wie beurteilt ihr diese Strategie? Erscheint sie euch zielführend, die Arbeitsbedingungen zu verbessern?

AL: Was du beschreibst, ist ein Top-down-Ansatz, der bei den großen Unternehmen ansetzt. Wir gehen den anderen Weg. Wir setzen auf die Selbstorganisierung unter den ArbeiterInnen, so dass sie ihren Bedürfnissen eine Stimme geben und im Fabriksmanagement partizipieren können. Die Unternehmen verpflichten sich zu sozialen Bestimmungen, weil sie die in Kampagnen zum Ausdruck gebrachten KonsumentInnenwünsche berücksichtigen wollen. Sie müssen also etwas unternehmen, um sich als sozial verantwortlich darstellen zu können.

Deshalb gibt es aber noch lange keine Möglichkeiten für ArbeiterInnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Es geht nur darum, die notwendigen Auflagen zu erfüllen, ein Audit durchzuführen, Aufzeichnungen vorzuweisen. Aber oft genug sind sowohl die Stundenaufzeichnungen als auch die Gehaltszettel reine Fälschungen. Und dann müssen Organisationen wie wir ein "Gegen-Audit" durchführen, um die Realität aufzuzeigen. In meinen Augen ist das alles eine enorme Zeit- und Geldverschwendung.

FCPL: Wir hören ein und dieselbe Schilderung immer wieder: Bevor ein Audit durchgeführt wird, werden Fragebögen ausgeteilt mit den Fragen, die den ArbeiterInnen gestellt werden, und sie bekommen die erwünschten Antworten gleich dazu. Sie werden aufgefordert, die Antworten auswendig zu lernen. Bestehen sie die anschließende "Prüfung" fehlerfrei, erhalten sie eine Belohnung. So funktioniert CSR.

frauensolidarität: Wir danken für das Gespräch!

Webtipp:
www.workerempowerment.org/en/

Übersetzung aus dem Englischen: Petra Steiner

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 118, 4/2011, S. 32-33
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2012