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ARBEIT/546: Haiti - Kleine Mindestlohnerhöhung, Arbeitsrechtverstöße in Textilfabriken verbreitet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Dezember 2013

HAITI: Kleine Mindestlohnerhöhung - Arbeitsrechtverstöße in Textilfabriken verbreitet

von Jane Regan


Bild: © Jude Stanley Roy/IPS

Haitianische Arbeiterinnern produzieren T-Shirts für Hanes
Bild: © Jude Stanley Roy/IPS

Port-au-Prince, 5. Dezember (IPS) - In Haiti wird der Mindestlohn erhöht. Was vielversprechend klingt, ist nach Angaben von Kritikern ein fauler Kompromiss. Der Verdienst reicht nach Angaben kritischer Gewerkschaften nicht zum Leben.

Ab dem 1. Januar wird der Mindestlohn von derzeit 200 Gourdes (4,65 US-Dollar) pro Tag um zwölf Prozent auf 225 Gourdes (5,23 Dollar) steigen. Rechtlich steht den Beschäftigten damit ein Stundenlohn von 65 US-Cent zu. Das sind sieben Cent mehr als bisher.

Für die 30.000 Beschäftigten in den Fertigungsbetrieben wird sich nichts ändern. Sie verdienen schon jetzt sieben Dollar am Tag beziehungsweise 87 Cent die Stunde - theoretisch. Untersuchungen zeigen, dass fast zwei Dutzend Fabriken vor Ort, die für die Bekleidungsfirmen Gap und Walmart produzieren, ihre Beschäftigten um einen erheblichen Teil ihrer Löhne betrügen.

Bereits vor fünf Jahren hätte das haitianische Parlament einer Erhöhung des Mindestlohnes von 70 auf 200 Gourdes (von 1,74 auf 4,96 Dollar) pro Tag zustimmen sollen. Doch aus den von WikiLeaks verbreiteten und von den haitianischen Zeitungen 'The Nation' und 'Haiti Liberté' analysierten Geheimunterlagen geht hervor, dass der Haitianische Industrieverband (ADIH) zusammen mit der US-amerikanischen Botschaft die Erhöhung des Mindestlohns erfolgreich abwehren konnte.

ADIH berief sich damals auf einen von der US-Entwicklungsbehörde USAID mitfinanzierten Bericht, wonach Haiti im Fall einer Erhöhung der Fabriklöhne seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßen würde. Der frühere Staatspräsident René Préval soll sich dieser Sichtweise angeschlossen haben.


500 Gourdes gefordert

Der neue Mindestlohn, auf den sich ein von der Regierung zusammengesetzter Rat aus Gewerkschafts-, Regierungs- und Unternehmensvertretern (CSS) am 29. November verständigte, ist für die Beschäftigten und deren Gewerkschaften eine herbe Enttäuschung. Sie hatten einen Tagessatz von 11,63 Dollar (500 Gourdes) verlangt.

Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, hatte das Kollektiv der Textilarbeitergewerkschaften (KOSIT), in dem die in drei Industrieparks Beschäftigten organisiert sind, am 7. November in der Hauptstadt Port-au-Prince und im Norden des Landes für die Erhöhung des Mindestlohns auf 500 Gourdes gestreikt.

Ende November veröffentlichten die Fabrikbesitzer einen Brief, in dem sie argumentierten, dass Haiti gegenüber seinen großen Rivalen Bangladesch, Kambodscha und Vietnam wettbewerbsfähig bleiben müsse, die allesamt für ihre schlechten Arbeitsbedingungen und Übergriffe bekannt sind.

Die Bedeutung der Textilindustrie dürfe nicht unterschätzt werden, hieß es in dem Schreiben, das 23 haitianische, dominikanische und südkoreanische Fabrikeigentümer und Industrielle unterzeichnet hatten, die der ADIH angehören. So könne der Sektor Haiti dabei behilflich sein, sich weiter zu öffnen und sich als ein wandlungsfähiges und modernes Land zu präsentieren.

Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Briefes, am 29. November, stimmten acht der neun CSS-Mitglieder einschließlich drei Gewerkschaftsvertretern dem neuen Mindestlohn in Höhe von 225 Gourdes zu. Die KOSIT war in dem Gremium nicht vertreten.

Yannick Etienne von der Organisation 'Batay Ouvriye' ('Arbeiterkampf'), die die KOSIT und andere Textilarbeiterverbände unterstützt, wirft den CSS-Gewerkschaftlern vor, den Beschäftigten in den Rücken gefallen zu sein. "Es ist schändlich von den CSS-Gewerkschaftsführern, einem solchen Hungerlohn zuzustimmen, zumal wir sie auf einem Treffen am Vorabend aufgefordert hatten, jedem Abkommen unter 300 Gourdes ihre Unterschrift zu verweigern."


Lohndiebstahl

Die 30.000 Beschäftigten in den Textilfertigungsbetrieben in Haitis Freihandelszonen - zwei Drittel von ihnen sind Frauen - arbeiten für Firmen wie Gap, Gildan Activewear, Hanes, Kohl's, Levi's, Russell, Target, VF und Walmart. Nach haitianischem Recht muss die Bezahlung so hoch sein, dass die Abrechnung nach Stückzahl einen Tageslohn von mindestens 300 Gourdes ergibt.

Doch unterschiedliche Gruppen einschließlich der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) konnten in drei Studien zeigen, dass die Mehrheit der Beschäftigten selten den gesetzlich festgelegten Mindestlohn erhält. Eine 29-jährige Beschäftigte einer Kleiderfabrik, die T-Shirts für Hanes produziert, ist eine von vielen Arbeiterinnen, die regelmäßig um einen Teil des ihr gesetzlich zustehenden Lohnes betrogen wird. Wie alle interviewten Betroffenen bestand sie auf Anonymität.

"Mit meiner Arbeit ernähre ich mein vierjähriges Kind, zwei Schwestern und einen Bruder", erklärte sie gegenüber IPS. "Manchmal schaffe ich die Stückzahl. Dann bekomme ich die 300 Gourdes. Doch das ist selten der Fall."

In Oktober hatte die ILO in ihrem Bericht 'Better Work Textile Factory Monitoring Programme', der auf Umfragen in 23 Fabriken beruht, bestätigt, dass diese nicht den gesetzlichen Mindestlohn zahlen. Wäre dies der Fall, würden sie mindestens 90 Prozent der Beschäftigten für einen Acht-Stunden-Tag mit 300 Gourdes entlohnen.

Einer Untersuchung des Solidaritätszentrums des in den USA ansässigen Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO zufolge braucht eine Fabrikarbeiterin in der haitianischen Hauptstadt für sich und zwei Kinder 29 Dollar am Tag (1.152 Gourdes) an sechs Tagen die Woche zum Leben.

Auch bei 'One World Apparel', einer Fabrik des ehemaligen haitianischen Präsidentschaftskandidaten Charles Henri Baker, verdient eine Arbeiterin selten die vorgeschriebenen 300 Gourdes die Stunde. "Du musst 75 Dutzend Stück nähen. Doch nicht jede Arbeit ist gleich aufwändig. Manchmal erreichst du die Quote, manchmal schaffst du sie nicht", berichtet eine 54-jährige Fabrikarbeiterin, die seit acht Jahren für das Unternehmen arbeitet. "Egal wie lange du brauchst - du erhältst den gleichen Stückpreis. Auch wenn ich mich wirklich anstrenge, bringe ich es meist nicht über 225 Gourdes."

Die Bekleidungsfirmen Gildan und Fruit of the Loom haben kürzlich angekündigt, dafür zu sorgen, dass ihre haitianischen Zulieferer ihren Arbeitern künftig den gesetzlichen Mindestlohn zahlen. "Unsere eigene unabhängige Untersuchung hat den Vorwurf des 'Workers Rights Consortium' (WRC) bestätigt, wonach die Bekleidungsindustrie in Haiti den Standardwert unterläuft", heißt es in einer Mitteilung von Fruit of the Loom.

Der WRC hatte in seinem am 15. Oktober veröffentlichten Bericht 'Stealing from the Poor', der auf Interviews mit Arbeitnehmern von fünf Fabriken in der Hauptstadt und im Komplex SAE-A im Caracol-Industriepark beruht, weiter festgestellt, dass bei der Abrechnung der Arbeitszeiten die Lohnarbeiter ebenso häufig betrogen werden. Die ILO gab die Rate mit neun Prozent an.


Länger arbeiten für den Mindestlohn

Arbeiter, die in der Hauptstadt bei One World, Genesis, Premium und GMC beschäftigt sind, werden demnach im Jahr um den Lohn von durchschnittlich sieben Wochen geprellt. Auch kommt es häufig vor, dass die Arbeiter freiwillig länger arbeiten, um die Quote zu erreichen, die ihnen 300 Gourdes pro Tag verschafft.

Der Wirtschaftswissenschaftler Camille Chalmers, Leiter der Haitianischen Plattform für eine alternative Entwicklung (PAPDA) wirft der Regierung Versagen vor, die 300-Gourdes-Regelung durchzusetzen. Er fordert zudem einen Mindestlohn in Höhe von mindestens 540 Gourdes.

Wie der Universitätsprofessor am 18. November auf einem Treffen zum Thema erklärte, neigt die haitianische Regierung dazu, den Botschaftern und der ADIH zuzuhören. (...) Unsere Regierung ist wirklich mit der Oberschicht, der Oligarchie, verbandelt. "Die Regierung, die derzeit mit dem Slogan 'Haiti steht Unternehmen offen' wirbt, betont auf nationalen und internationalen Konferenzen immer wieder den haitianischen Niedriglohnvorteil."

Eine weitere Textilarbeiterin, die drei Kinder hat, ist der Ansicht, dass die Löhne auf mindestens 500 Gourdes angehoben werden müssten. "Wenn ich höre, dass demonstriert werden soll, bin ich dabei", versichert sie gegenüber IPS. "Mit einem solchen Minilohn kommt keiner aus. Die Bosse wissen das. Sie sind einfach nur brutal." (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://betterwork.org/global/?page_id=316
http://www.solidaritycenter.org/Files/haiti_livingwagesnapshot030311.pdf
http://www.workersrights.org/freports/WRC%20Haiti%20Minimum%20Wage%20Report%2010%2015%2013.pdf
http://www.ipsnews.net/2013/12/wage-hike-haiti-doesnt-address-factory-abuses/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 5. Dezember 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2013