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ARBEIT/620: Superreich dank Billigmode - Working Poor in Europa (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 141, 3/17

Superreich dank Billigmode
Working Poor in Europa

von Christa Luginbühl


Rund 60 Millionen Menschen, überwiegend Frauen, arbeiten in Textil-, Kleider und Schuhfabriken weltweit. Der Sektor ist ein_e wichtige Arbeitgeber_in, und viele Unternehmen und Regierungen betonen, dass dank der Textilindustrie Millionen von Frauen der Zugang in den formalen Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Doch die Näherinnen in den Fabriken zahlen einen hohen Preis - auch in Europa.

Stefan Persson, H&M-Hauptaktionär und mit einem geschätzten Privatvermögen von 19,6 Mrd. US-Dollar unter den Top 50 der weltweit reichsten Personen, erhielt 2014 einen Preis für seinen "außerordentlichen Einsatz für Frauenförderung". Bei der Preisverleihung sagte er: "Durch die Investition in die wirtschaftliche Ermächtigung von Frauen können wir helfen, das Leben von Einzelpersonen und Familien zu verändern, wir können Armut bekämpfen und positive Entwicklungen für ganze Gemeinschaften bringen." Das sind schöne Worte, doch die Realität sieht anders aus: H&M, wie alle andern Modefirmen, investiert in Länder, wo die Produktionsflexibilität hoch, die politischen Rahmenbedingungen ökonomisch interessant und die Lohnkosten gering sind. Obwohl die technische Entwicklung fortschreitet, werden Kleider und Schuhe noch immer hauptsächlich von Hand gemacht. Für die reibungslose Produktion sind Modefirmen daher auf Millionen von Frauen angewiesen, die in ihren Zulieferfabriken schuften - Männer sind in vielen Ländern längst in die etwas besser bezahlten Jobs der Niedriglohnbranchen weitergezogen.

Armut trotz langer Arbeitstage

Die Kleider und Schuhe in europäischen Läden stammen vorwiegend aus asiatischen, aber auch aus südosteuropäischen Ländern. Denn gerade für den Fast-Fashion-Bereich, dessen Takt H&M in hohem Maße vorgibt und in kurzen Zeitintervallen neue Kleider in die Läden bringt, sind kurze Lieferwege zwischen Produktion und Absatzmarkt entscheidend. In der Studie "Im Stich gelassen: Die Armutslöhne der ArbeiterInnen in Kleiderfabriken in Osteuropa und der Türkei" haben Bettina Musiolek und ich 2014 aufgezeigt, wie prekär die Arbeitsbedingungen für Näherinnen in Bulgarien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Kroatien, Mazedonien, Moldawien, Rumänien, in der Slowakei, der Türkei und der Ukraine sind. 2016 haben wir die Situation im Schuhsektor untersucht und in Albanien, Bosnien und Herzegowina und Mazedonien sowie in den drei EU-Mitgliedsländern Polen, Rumänien und der Slowakei mit zahlreichen Arbeiterinnen gesprochen.

Die Geschichten der Frauen gleichen sich überall: sie erzählen von ermüdenden Arbeitstagen, von schlechter Behandlung am Arbeitsplatz, von verbalen und teilweise sexuellen Übergriffen, von gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen wie Kälte im Winter, weil die Heizung im Fabrikgebäude nicht läuft, um Stromkosten zu sparen, oder von Hitze im Sommer, weil es keine ausreichende Belüftung gibt. Vor allem aber berichten sie von enormer Armut und von der Schwierigkeit, trotz Arbeit in der Fabrik die täglichen Ausgaben zu bestreiten. Wie dramatisch tief ihre Einkommen sind, zeigt ein Vergleich der Kaufkraft:

Die niedrigen Löhne sind ein systematisches Problem in der Kleider- und Schuhindustrie. Was wir von Asien her kennen, zeigt sich auch in Europa: Die Kluft zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn und dem geschätzten Existenzminimum ist durchwegs sehr hoch.

Ohne existenzsicherndes Einkommen sind vor allem Frauen im Kampf ums Überleben für ihre Familien in Doppel- und Mehrfachbelastungen gefangen: sie machen Überstunden, suchen verbilligte Waren und reduzieren die täglichen Ausgaben auf ein Minimum, haben weder Freizeit noch Ferien, betreiben Subsistenzlandwirtschaft, müssen Kredite aufnehmen oder saisonale Niedriglohnjobs im Bau- oder Landwirtschaftssektor in Westeuropa annehmen. Durch die Emigration der jüngeren Generation und die oft unzureichenden Sozial- und Krankenkassensysteme zeichnet sich zudem in vielen Ländern Südosteuropas ein gewaltiges Care-Defizit ab, was den Druck auf die Frauen noch erhöht.

Geringe Löhne als Investor_innenanreiz

In der Bekleidungsindustrie herrscht ein harter Wettbewerb, gespart wird, wo es geht. In den untersuchten Schuhproduktionsländern fanden wir z. B. folgende Anreizsysteme, um Investor_innen anzulocken:

Freihandelszonen, die exportorientierten Unternehmen Steuererleichterungen oder Spezialsubventionen zugestehen (von den untersuchten Ländern insbesondere in Albanien);

EU-Freihandelsabkommen, u. a. Zollerleichterungen für Produkte, die im Outward Processing Trade System hergestellt werden (halbfertige Produkte werden ins Ausland geliefert, der arbeitsintensive Prozess findet in einem Niedriglohnland statt, bei der Wiedereinfuhr ins Ursprungsland fallen keine oder kaum Zollkosten an betrifft alle untersuchten Länder);

Restriktionen im Bereich der Lohnentwicklung als Bedingung für die Bewilligung von Darlehen des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission (z. B. in Rumänien);

direkte Interventionen der Regierung in die Mindestlohnentwicklung, z. B. Ausnahmeregelung vom allgemeinen Mindestlohn für spezifische Sektoren wie Bekleidungs- und Schuhindustrie, um Investoren anzulocken und "wettbewerbsfähig" zu sein (u. a. in Mazedonien, Bosnien und Herzegowina).

Aktionäre wie Stefan Persson oder Amancio Ortega, der Hauptaktionär der spanischen Inditex-Gruppe (u. a. Zara), sind aber nicht nur Investoren, sie haben mit ihrer Geschäftstätigkeit auch sagenhafte Vermögen angehäuft. Dieses Vermögen hat sich seit 2008, also während und nach der Weltwirtschaftskrise, sogar noch vergrößert. Ortega besitzt heute 71,3 Mrd. US-Dollar Privatvermögen und ist der viertreichste Mensch weltweit.

Schlechte Arbeitsbedingungen in den globalen Kleider- und Schuhfabriken sind nicht einfach mit dem "richtigen" Konsumverhalten zu ändern. Hier geht es im Kern um eine Gerechtigkeits- und Verteilungsfrage, darum, welche Art von Handelssystem wir wollen und was wir als "Normalität" akzeptieren. Die G20 haben am 7./8. Juli 2017 in Hamburg eine Deklaration verabschiedet und darin u. a. das Bekenntnis abgegeben, dass faire Löhne eine der Schlüsselkomponenten für nachhaltige globale Lieferketten seien und dass sie sich für den Abbau von Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen einsetzen wollen.[3] An politischen Absichtserklärungen fehlt es also nicht, an konkreten Massnahmen hingegen schon. Als engagierte Bürger_innen können und müssen wir beginnen, unsere eigenen Regierungen beim Wort zu nehmen und Taten statt leere Lippenbekenntnisse einzufordern.


Zur Autorin:
Christa Luginbühl arbeitet seit 20 Jahren im NGO-Bereich. Von 2008 bis 2016 hat sie für Public Eye die Clean Clothes Campaign (CCC) Schweiz geleitet. Seit 2017 ist sie Geschäftsleitungsmitglied von Public Eye. Die CCC ist ein globales Netzwerk zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie.

Anmerkung:
[1] https://www.g20.org/gipfeldokumente/G20-leaders-declaration.pdf

Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Folgende Abbildungen wurden nicht in den Schattenblick übernommen:

Grafik 1: Wie lange muss eine Näherin arbeiten, um in ihrem Land einen Liter Milch kaufen zu können?
Aus: Christa Luginbühl, Bettina Musiolek: Labour on a Shoestring, 2016, S. 19
https://www.publiceye.ch/fileadmin/files/documents/CCC/BD_REPORT_labour_on_a_shoestring.pdf

Grafik 2: Anteil des Existenzminimums, der durch den gesetzlichen Mindestlohn gedeckt wird.
Aus: Christa Luginbühl, Bettina Musiolek: Labour on a Shoestring, 2016, S. 15
https://www.publiceye.ch/fileadmin/files/documents/CCC/BD_REPORT_labour_on_a_shoestring.pdf


Lesetipps:
Christa Luginbühl, Bettina Musiolek (2014): Im Stich gelassen: Die
Armutslöhne der Arbeiter_nnen in Kleiderfabriken in Osteuropa und der Türkei
https://www.publiceye.ch/fileadmin/files/documents/CCC/2014_D_CCC-Report-Stitched_Up.pdf
Christa Luginbühl, Bettina Musiolek (2016): Labour on a Shoestring
https://www.publiceye.ch/fileadmin/files/documents/CCC/BD_REPORT_labour_on_a_shoestring.pdf

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 141, 3/2017, S. 12-13
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2017

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