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ARMUT/143: Interview - Armutsrisiko um mehr als Drittel angestiegen (spw)


spw - Ausgabe 2/2010 - Heft 177
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Armutsrisiko um mehr als ein Drittel angestiegen
Interview mit Dr. Markus M. Grabka

Das Interview führte Stefan Stache


SPW: Das DIW hat jüngst Zahlen zum Armutsrisiko in Deutschland vorgestellt. Welche zentralen Entwicklungstendenzen sind, auch im EU-Vergleich, seit den 90er Jahren zu beobachten?

MARKUS GRABKA: Nach den Empfehlungen der Europäischen Kommission unterliegt eine Person dem relativen Armutsrisiko, wenn dessen verfügbares Einkommen weniger als 60 Prozent des Median der bedarfsgewichteten Haushaltseinkommen der Gesamtbevölkerung in einem Mitgliedsland ausmacht. Im Jahre 2008 lag diese Schwelle in Deutschland bei einem Einpersonenhaushalt bei einem monatlichen Einkommen von 925 Euro, bei einem Vierpersonenhaushalt mit zwei minderjährigen Kindern entsprechend bei 1.943 Euro. Im Jahre 2008 lebten in Deutschland demnach 11,5 Mio. Menschen unterhalb dieser Armutsrisikoschwelle, dies entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 14 Prozent. Ende der 90er Jahren lag diese Quote noch bei etwa 10 Prozent. Es bestehen auch weiterhin deutliche Unterschiede in der Betroffenheit von relativer Einkommensarmut zwischen Ost- und Westdeutschland.

Während Anfang der 90er Jahre nahezu jeder Fünfte in den neuen Ländern nur ein Einkommen unterhalb der Armutsrisikoschwelle aufwies, hat sich dieser Anteil im Rahmen des Transformationsprozesses bis zur Jahrtausendwende auf 13 Prozent deutlich reduziert und lag damit nur noch weniger als drei Prozentpunkte über dem Wert in Westdeutschland. Seitdem ist das Armutsrisiko für Deutschland insgesamt um mehr als ein Drittel, in Ostdeutschland sogar um knapp die Hälfte stark angestiegen. In den neuen Ländern hat das Armutsrisiko damit wieder ein Niveau erreicht wie kurz nach der Wiedervereinigung.

Lange Zeitreihen zur Entwicklung des Armutsrisikos im internationalen Vergleich werden nur von der OECD zur Verfügung gestellt. Danach zeigt sich, dass in etwa Zweidrittel der betrachteten Länder das Armutsrisiko seit Mitte der 90er Jahre zugenommen hat. Überdurchschnittliche Zuwächse zeigen sich vor allem in Finnland, Irland, Spanien, Schweden und Deutschland.

SPW: Die Datenbasis der aktuellen Untersuchung bezieht sich noch auf das Jahr 2008 - dem letzten Jahr vor der Krise. Selbst im Aufschwung gelang keine verteilungspolitische Wende. Woran lag das? Ist in den nächsten Jahren mit einer stärkeren Verbreitung von Armutslagen zu rechnen?

MARKUS GRABKA: Bis 2008 hatten wir in Deutschland einen lang anhaltenden und auch kräftigen Aufschwung, der zwar zu einer Zunahme der Zahl der Beschäftigten aber nicht zu einer Reduzierung der Ungleichheit führte. In der Vergangenheit war ein wirtschaftlicher Aufschwung auch mit einem Anstieg der Realeinkommen der Bevölkerung und insbesondere der ArbeitnehmerInnen verbunden. Dies hat aber in der letzten Aufschwungphase nicht stattgefunden. Die Realeinkommen der Bevölkerung stagnieren nun bereits seit der Jahrtausendwende. Der verteilungspolitische Spielraum wurde einseitig zugunsten des Postulats des Arbeitsplatzerhalts aufgegeben und damit die Binnennachfrage geschwächt. Entsprechend haben die Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen in den letzten Jahren an Bedeutung verloren, während Einkommen aus Selbständigkeit und Kapitaleinkünfte deutlich gestiegen sind.

Es ist davon auszugehen, dass ein weiterer Anstieg des Armutsrisikos bereits kurzfristig stattfindet, da in Folge der Wirtschaftskrise mehr als 1,5 Mio. ArbeitnehmerInnen Einkommenseinbußen aufgrund des Kurzarbeitergeldes erleiden mussten. Auch die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen ist gegenüber dem Tiefstand Ende 2008 bereits um mehrere 100.000 angestiegen. Von Seiten der Politik sind zudem keine Signale erkennbar, die auf eine Umkehr hin zu einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung hindeuten. Vielmehr wird die Einkommens- und Vermögensungleichheit durch aktuelle Maßnahmen weiter vorangetrieben. Beispielhaft kann die Anhebung des Kindergelds, von dem BezieherInnen des Arbeitslosengeldes II nicht profitieren, oder die Anhebung der Freibeträge bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer genannt werden.

SPW: Welche Rolle spielt die ungleiche Einkommensverteilung für das einseitig exportorientierte deutsche Wachstumsmodell, das im März auch von Seiten der konservativen französischen Regierung heftig kritisiert wurde?

MARKUS GRABKA: Die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre hat mit dazu geführt, dass die Wettbewerbsposition Deutschlands sich gegenüber europäischen Wettbewerbern deutlich verbessert hat. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der parallel dazu stark an Bedeutung gewonnene Niedriglohnsektor hat diese Entwicklung in Deutschland weiter gestärkt. Eine stärkere Ungleichheit insbesondere der Erwerbseinkommen findet aber nicht allein am unteren Ende der Einkommenshierarchie statt, sondern es lassen sich auch markante Einkommenssteigerungen bei Topverdienern beobachten, die nicht durch die Globalisierung erklärt werden können.

SPW: Mit welcher Strategie kann Armut verhindert, Prekariat bekämpft und eine verteilungspolitische Wende eingeleitet werden?

MARKUS GRABKA: Zunächst ist es wichtig zu analysieren, welche Personengruppen besonders von Armut betroffen sind. Dies sind vor allem Alleinerziehende, junge Erwachsene und MigrantInnen. Bei Alleinerziehenden stellt sich das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein weiterer konsequenter Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen würde eine wesentliche Voraussetzung bilden, bei diesen Armut abzubauen. Junge Erwachsene treffen beim Berufseinstieg zunehmend auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit geringer Entlohnung. Hierzu hat die überzogene Flexibilisierung des Arbeitsmarktes beitragen. Insbesondere das Verdrängen des Normalarbeitsverhältnisses zugunsten von prekären Beschäftigungsverhältnissen wirkt sich bei den BerufseinsteigerInnen negativ aus. Ein Überdenken der entsprechenden Arbeitsmarktreformen erscheint daher angebracht. Bei MigrantInnen stellt sich vielfach das Problem des Fehlens einer entsprechenden beruflichen Qualifikation. Um das Erwerbspotential zu heben, bedarf es entsprechender Qualifizierungsangebote. Langfristig ist aber vorrangig eine stärkere Investition in Bildung erforderlich, um vor allem die Ursachen von Armut zu bekämpfen.

Neben der Zunahme des Armutsrisikos stellt aber auch die hohe Konzentration der Vermögen eine weitere Herausforderung an die Politik dar, da mit dem Vermögen spezifische Funktionen, wie die Macht- und Herrschaftsfunktion, verbunden sind. Neben der Einführung einer Börsenumsatzsteuer ist hier vor allem auch an eine grundlegende Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer hin zu deutlich höheren Steuersätzen und abgesenkten Freibeträgen zu denken. Als weiteres Signal erscheint auch die Einführung einer Luxussteuer erachtenswert, denn neben ermäßigtem und normalem Mehrwertsteuersatz könnte auch ein erhöhter Satz die Verteilungsgerechtigkeit heben.

SPW: Wie bewerten sie die Vorschläge des SPD-Papiers "Fairness am Arbeitsmarkt"? Welche Anforderungen sind an den öffentlichen Beschäftigungssektor bzw. den sozialen Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund bereits massiv unterfinanzierter öffentlicher Dienstleistungen zu stellen?

MARKUS GRABKA: Das Signal welches mit diesem Papier gesendet wird, geht zwar in die richtige Richtung. Details sind aber als fragwürdig zu bewerten. So ist beispielsweise der Verzicht auf jegliche Vermögensprüfung bei Bezug des Arbeitslosengeldes II nicht nachvollziehbar, da diese Grundsicherung nur als letztes soziales Netz in Anspruch genommen werden sollte. Dagegen ist die Schaffung eines begrenzten öffentlichen Beschäftigungssektors als positiv zu werten, wenn dieser auf Bereiche beschränkt wird, in denen der erste Arbeitsmarkt keine Angebote zur Verfügung stellt. Dies erfordert natürlich zusätzliche öffentliche Mittel, die den Handlungsspielraum des Staates wieder vergrößern.

SPW: In Abgrenzung von Konzepten eines öffentlichen Beschäftigungssektors und von Mindestlöhnen wird bisweilen die Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld II gefordert. Welche Wirkungen würden von höheren Hinzuverdiensten ausgehen?

MARKUS GRABKA: Die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen dürfte dazu führen, dass EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld II weniger Anreize haben, eine höher dotierte Beschäftigung anzunehmen und sich damit in dem Transferbezug einrichten. Zudem besteht die Gefahr, dass der Niedriglohnsektor weiter an Bedeutung gewinnen könnte.

SPW: Zur Debatte um die Bekämpfung von Kinderarmut: Sollte die Förderung sozialer Infrastruktur wie z.B. Betreuungseinrichtungen Priorität vor direkten finanziellen Leistungen genießen?

MARKUS GRABKA: Unabhängig von der Art wie ein Transfer ausgestaltet sein kann, besteht ein dringender Investitionsbedarf in mehr Bildung und vorrangig in frühkindliche Bildung. Entgegen der vielen Sonntagsreden hat der Anteil der Bildungsausgaben gemessen am BIP in den vergangenen Jahren sogar ab- anstatt zugenommen. Wichtig ist also vorrangig, dass mehr Geld bei den Kindern ankommt. Neben der Investition in die Gebäude und die Ausstattung bedarf es aber eben auch einer stärkeren Investition in die Köpfe. Hier dürfte sich unter anderem ein verbesserter Betreuungsschlüssel positiv auf die frühkindliche Entwicklung auswirken.


Dr. Makus Grabka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2010, Heft 177, Seite 8-10
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2010