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FRAGEN/025: Die Spiele enden, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen bleiben (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 136, 2/16

Die Spiele enden, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen bleiben

Interview mit Julia Bustamente von Petra Pint


Julia Bustamente berichtet im folgenden Gespräch über Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Vorbereitungen für die diesjährigen Olympischen Spiele, wie sich Brasilianer_innen dagegen wehren und was von Seiten der Regierung, der Internationalen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft dagegen unternommen werden kann.


Seit nahezu zehn Jahren finden sportliche Mega-Events in Brasilien statt. 2007 waren es die Panamerikanischen Spiele, 2013 der FIFA-Konföderationen-Pokal, 2014 die Fußball-WM der Männer, und 2016 werden es die Olympischen und Paralympischen Spiele sein. Die Proteste gegen Zwangsumsiedlungen, Preissteigerungen und zunehmende Polizeigewalt brachten immer mehr wütende Menschen auf die Straßen. 2013 starteten die ersten Massendemonstrationen.

Auch Julia Bustamente schloss sich damals den Protesten an. Die Ökonomin arbeitet am "Instituto Políticas Alternativas para o Cone Sul" (PACS) mit dem Fokus auf öffentliche Ausgaben im Zuge von Sportgroßereignissen, auf Frauen- und Kinderrechte und Alternativmodelle zu aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen in Brasilien. Sie ist Mitglied im "Comitê Populares da Copa e Olympiadas", einem Bürger_innenkomitee, das von sozialen Bewegungen, Stadtteilorganisationen, Vertreter_innen von Universitäten und NGOs gegründet wurde. Ziel des Komitees ist es, Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen der Vorbereitung von sportlichen Großereignissen stattfinden, aufzuzeigen. Bei ihrem Besuch in Österreich im Rahmen der Kampagne "Nosso Jogo" [1] traf Petra Pint Julia Bustamente (JB) zum Interview.


Wie haben die sportlichen Mega-Events der letzten zehn Jahre Brasilien verändert?

JB: Im Zuge des Baus von großen Sportstadien, für die es keine Nachnutzung gibt, wurden Menschen zwangsweise umgesiedelt. Das Leben in Rio de Janeiro ist teurer geworden. Die Stadt wird immer mehr gespalten - sozial und räumlich. Die Militärpolizei und die Armee kontrollieren die Menschen in den Favelas oder anderen ärmeren Bezirken. Es kommt zu einer Militarisierung des täglichen Lebens. Die Polizei tötet nahezu jeden Tag Personen. Meist sind das junge, Schwarze Menschen, aber auch immer öfter werden Aktivist_innen aus sozialen Bewegungen Opfer der Polizei. Bei unseren Demonstrationen scheut die Polizei nicht davor zurück, mit Gummigeschossen, Tränengas, Pfeffersprays oder Schlagstöcken gegen uns vorzugehen. Dies hat zu einer Atmosphäre der Angst und einer Einschränkung der Meinungsfreiheit geführt.


In einem Dossier, das Sie geschrieben haben, findet sich ein Kapitel über die Situation von Frauen. Wie sieht diese aus?

JB: Frauen sind besonders von Armut betroffen, z. B. wenn unsere Städte immer teurer werden, die Mieten oder der Preis für die öffentlichen Verkehrsmittel steigen. Sie arbeiten auch öfter unter schlechten Bedingungen und sind in Zeiten der Krise stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Obwohl es viele neue Arbeitsplätze rund um die Olympischen Spiele gibt, werden dadurch eher prekäre Arbeitsverhältnisse geschaffen. Auch die Menschenrechtsverletzungen, die gerade jetzt passieren, haben einen größeren Einfluss auf diejenigen, die in der Gesellschaft am meisten unterdrückt werden - Frauen in den ärmeren Vierteln.

In unserem Dossier zeigen wir, dass zur Bewerbung solcher sportlichen Mega-Events Frauen ausschließlich sexistisch dargestellt und instrumentalisiert werden. Brasilien ist ein Land, in dem Gewalt gegen Frauen verbreitet ist. Wir möchten aber nicht nur die negativen Auswirkungen auf Frauen thematisieren, sondern auch zeigen, dass es gleichzeitig eine immer aktivere und stärker werdende Frauenbewegung gibt. Die Gewerkschaftsbewegung in Brasilien ist noch immer sehr männerdominiert, aber wenn es um Grundstücks- und Wohnungsangelegenheiten geht, haben wir viele starke Frauen in den sozialen Bewegungen: Frauen, die ihre Häuser verloren haben; Frauen, deren Söhne von Polizisten getötet wurden; Frauen, die Straßenverkäuferinnen sind und Polizeigewalt erfahren haben; Frauen, die sich auch trotz Schwangerschaft und Kindern nicht fürchten, für ihre Rechte zu kämpfen.


Dort, wo jetzt noch die Vila Autódromo liegt, wird der Olympiapark gebaut, mit Wettkampfstätten, Medienzentrum und einem Olympiastützpunkt. Doch die Bewohner_innen wehren sich. Die Vila Autódromo ist zu einem wichtigen Ort für den Widerstand gegen die Zwangsumsiedlungen geworden.

JB: Familien werden derzeit oft ohne offizielle Begründung vertrieben. Ihnen wurde eigentlich versprochen, dass sie in ihren Häusern bleiben können. Vila Autódromo ist eines der vielen Beispiele von Zwangsräumungen in Rio de Janeiro. Darüber hinaus zeigt es auch, dass Frauen für ihre Rechte eintreten.

Am 8. März 2016, dem Internationalen Frauentag, wurde das Haus von Maria da Penha, einer Schlüsselperson unserer Bewegung in Vila Autódromo, um sechs Uhr morgens von der Polizei umstellt, sie wurde aus dem Haus vertrieben, verlor ihr gesamtes Hab und Gut, und ihr Haus wurde abgerissen. Wir haben versucht, die Zerstörung ihres Hauses zu stoppen, aber wir konnten es nicht verhindern. Ihre Familie und sie haben in einer Kirche Unterschlupf gefunden, bis sie einen anderen Ort zum Wohnen haben.

Für den Internationalen Frauentag hatten wir eine große Demonstration geplant. Dort haben wir über diese Fälle von Gewalt gesprochen, so auch über Maria da Penhas Geschichte. Damit stärken wir die Widerstandsbewegungen und den Kampf von Frauen.


Was sollte von der Regierung getan werden, um die Situation zu verbessern?

JB: Wir wollen, dass die Regierung diese Menschenrechtsverletzungen sofort stoppt, sie der Bevölkerung zuhört und dass die Veränderungen in der Stadt nicht über die Köpfe der Menschen hinweg gefällt werden. Wenn entschieden wird, ein sportliches Mega-Event zu veranstalten, sollte die Bevölkerung miteinbezogen werden und die Entscheidung nicht nur von der Regierung ausgehen. Wenn die Scheinwerfer nicht mehr auf Rio gerichtet sind, werden wir immer noch hier sein. Die Stadt soll für die Menschen gestaltet werden, die dort leben und arbeiten. Jetzt finden viele Veränderungen statt, die auf ein einziges Event ausgerichtet sind, das gerade drei Wochen dauern wird.


Was kann das Internationale Olympische Komitee (IOC) tun?

JB: Sobald der Vertrag zwischen IOC und dem austragenden Land unterschrieben ist, sind beide für die Geschehnisse vor Ort verantwortlich. Es ist eine geteilte Verantwortlichkeit. Deswegen sollte es auch verpflichtende Standards geben, die Gastländer erfüllen müssen, um solche Mega-Sportevents austragen zu dürfen. Hier sollte die Einhaltung der Menschenrechte an oberster Stelle stehen. Das heißt, momentan wäre es ganz wichtig, dass das IOC darauf drängt, dass die Menschenrechtsverletzungen in Rio aufhören - und dass solche zukünftig an anderen Austragungsorten verhindert werden.


Vielen Dank für das Interview!


Anmerkung: 1 Nosso Jogo ist eine Initiative, die die Olympischen und Paralympischen Spiele in Brasilien im Sommer 2016 für eine vielfältige Bildungs- und Informationsarbeit nutzt. Neben der Einhaltung von Menschenrechten bei Sportgroßveranstaltungen geht es darum, ein differenziertes Bild von Brasilien jenseits gängiger Stereotypen zu zeichnen. "Nosso Jogo" bedeutet auf Portugiesisch "Unser Spiel" und nimmt Bezug auf die positiven Werte von Sport, wie Fairness, Inklusion, Diversität, Gleichberechtigung und Internationalität.
Mehr Infos: www.nossojogo.at

Lesetipp: Rio Olympics 2016: The Exclusion Games. Mega-Events and Human Rights Violations in Rio de Janeiro,
http://bit.ly/1VGUiSh

Hörtipp: Julia Bustamente war auch bei den Women on Air zu Gast. Das Interview gibt es hier zum Nachhören:
http://noso.at/?p=4604

Zur Autorin: Petra Pint koordiniert seit 2014 die Sendereihe "Globale Dialoge" von Radio ORANGE 94.0 und seit 2016 ist sie für die Kampagne Nosso Jogo für die Frauen*solidarität zuständig.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 136, 2/2016, S. 10-11
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2016

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