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FAMILIE/241: Armutsrisiko Trennung (DJI)


DJI Bulletin 1/2010, Heft 89
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Armutsrisiko Trennung

Von Walter Bien


Etwa 75 Prozent der Kinder wachsen immer noch bei ihren leiblichen Eltern auf, doch die traditionelle Familie hat Konkurrenz bekommen: Da viele Ehen oder Partnerschaften scheitern, lebt ein zunehmender Anteil des Nachwuchses bei Alleinerziehenden oder in Patchwork-Familien. Für Betroffene hat das oft finanzielle Konsequenzen.


Die meisten Ehen in der Bundesrepublik enden nicht durch Scheidung, wie leicht vermutet werden könnte - sie enden, wie Statistiker berechnet haben, immer noch durch den Tod des Partners. Bei 64 Prozent aller Ehen, die im Jahr 2008 gelöst wurden, war der Tod die Ursache. Lediglich die übrigen 36 Prozent waren Scheidungsfälle. Nichtsdestotrotz steigt die Scheidungsrate in Deutschland seit Jahrzehnten fast kontinuierlich. Im Jahr 2008 wurden laut Statistischem Bundesamt 191.948 Ehen geschieden. Von 1.000 bestehenden Ehen gehen damit pro Jahr durchschnittlich etwa elf in die Brüche; im Jahr 1993 waren es dagegen nur acht von 1.000. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit diesen Werten heute im oberen Mittelfeld. Zwar setzte hierzulande 2004 ein leichter Rückgang der absoluten Scheidungszahlen ein. Doch das ist kein Indiz für stabilere Eheverhältnisse, sondern liegt vielmehr daran, dass immer weniger Paare heiraten. Die Zahl der Eheschließungen geht seit 1990 zurück: von 516.000 vor 20 Jahren auf 377.000 im Jahr 2008.


Etwa jedes fünfte Kind erlebt eine Scheidung

Für einen zunehmenden Teil der Kinder und Jugendlichen bricht irgendwann im Leben die gewohnte Welt zusammen. So blieb die Anzahl der Scheidungskinder trotz des allgemein zu beobachtenden Geburtenrückgangs zwischen 1975 und 2008 auf nahezu demselben Niveau: Im Jahr 2008 wurden 150.187 Kinder mit einer Scheidung der Eltern konfrontiert. Sie stellen damit immer noch eine relativ kleine Gruppe dar. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts erlebten 16 Prozent aller Kinder aus den Ehen, die im Jahr 1980 geschlossen wurden, dass sich ihre Eltern irgendwann scheiden ließen. Eine Schätzung für die jüngste Vergangenheit ergibt, dass etwa jedes fünfte Kind, das in den neunziger Jahren geboren wurde, eine Scheidung der Eltern erlebt.


Die große Unbekannte: die Zahl der Trennungskinder

Zu den Scheidungskindern hinzu kommen jedoch noch jene Kinder, die in den amtlichen Statistiken nirgends auftauchen: Trennungskinder, deren Eltern nie geheiratet haben. Fest steht bislang nur so viel: Zwischen 1996 und 2008 hat sich der Anteil der Kinder, die in (Haushalts-)Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe lebten, auf acht Prozent verdoppelt. Zudem wachsen inzwischen 16 Prozent der Kinder in Deutschland bei Alleinerziehenden auf, was einem Plus von vier Prozentpunkten im betrachteten Zeitraum entspricht. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Ein-Eltern-Familien nahezu immer Folge einer Trennung oder Scheidung sind und nur ganz selten ein gewollter Zustand des Elternteils ist.

Addiert man zu den Scheidungskindern (etwa 16 Prozent) die Trennungskinder aus nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften und die Kinder von Alleinerziehenden, die niemals mit beiden leiblichen Elternteilen zusammengelebt haben, kommt man auf einen Gesamtwert von etwa 25 Prozent. Das heißt im Umkehrschluss, dass heute immer noch zirka 75 Prozent aller Kinder bei ihren leiblichen Eltern leben. Anders ausgedrückt: Wenn 1996 im Schnitt etwa fünf Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheiratet waren, in einer 30-köpfigen Schulklasse saßen, so waren es 2008 bereits sieben bis acht Kinder. Auch wenn es große Schwankungen zwischen den Regionen, Schultypen und Klassen gibt, ist davon auszugehen, dass sich dieser allgemeine Zuwachs von Kindern unverheirateter Eltern auch auf die Anzahl der Trennungskinder auswirkt. Eine repräsentative Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) hat zumindest gezeigt, dass nicht-eheliche Lebensgemeinschaften deutlich instabiler sind als Ehen (Alt/Bender 1998).

Auch die zweiten und dritten Ehen haben weniger Aussicht auf Bestand (Klein 1995). Nicht zuletzt liegt das daran, dass sich die Lebensumstände - insbesondere, wenn die Partner Kinder in eine neue Ehe oder Lebensgemeinschaft mitbringen - verkomplizieren und Vorbilder wie bei der klassischen Familienkonstellation »Vater-Mutter-Kind« fehlen. Die Kinder, die mindestens schon ein Mal im Leben mit einer Scheidung oder Trennung konfrontiert waren, leben zwar wieder im Familienbund, stehen aber zusätzlich in Beziehung zum oft fernen leiblichen Elternteil, der möglicherweise ebenfalls wieder eine neue Familie gegründet hat. Die Kinder haben damit oft zwei Mütter und zwei Väter, wobei meist nur die leiblichen Eltern das Sorgerecht erhalten.

Das DJI hat im Jahr 1999 versucht, die Zahl der Stieffamilien per Umfrage und Hochrechnung genauer zu erfassen (Bien u. a. 2002). Vorher gab es nur Schätzungen aus der Scheidungs- und Wiederverheiratungsquote. Nach den Berechnungen lebten 1999 etwa 850.000 von insgesamt 15,3 Millionen Kindern in Stieffamilien. Das sind etwa fünf von 100 Kindern. In den neuen Bundesländern waren es damals deutlich mehr als in Westdeutschland. Damit liegt Deutschland in Europa eher im hinteren Drittel. Stieffamilien sind in Skandinavien und osteuropäischen Ländern typisch, in den katholisch geprägten Ländern wie Italien und Polen eher selten.

Laut Statistischem Bundesamt trat bei fast einem Drittel der Hochzeiten, die 2008 stattfanden, einer der Partner mindestens schon zum zweiten Mal vor den Standesbeamten. Zum Vergleich: 1960 handelte es sich nur bei einem Fünftel der Eheschließungen um eine Wiederverheiratung. Eine neue Lebensform sind Patchwork-Familien allerdings nicht. Es gibt sie seit Jahrhunderten, weil auch Witwer oder Witwen neue Partner finden. In den 1950er Jahren, von vielen als das goldene Zeitalter der »heilen« Familie beschworen, lebten als Kriegsfolge sehr viele Kinder in Stieffamilien.



Paare in Deutschland 
 Die Anzahl der Ehen und unehelichen Lebensgemeinschaften, in Millionen



insgesamt

mit Kindern unter 18 Jahren
Ehen
18,46 
6,13           
Lebensgemeinschaften
2,58 
0,69           

Quelle: Statisches Bundesamt (Mikrozensus S. 46), Stand: 2008


Alleinerziehend, weiblich, arbeitslos

Entgegen dem von Politik und Medien vielfach vermittelten Eindruck kann von einer Familienkrise vor diesem Hintergrund keine Rede sein. Der weit überwiegende Teil der Kinder wächst immer noch bei seinen beiden leiblichen Eltern auf. Auch war die Beziehung zwischen den Generationen noch nie so gut wie heute. Dennoch stellt der Trend zu einer immer größeren Vielfalt der Familienformen nicht nur die betroffenen Familien vor neue Herausforderungen, sondern auch die Politik und die Rechtsprechung. Denn auf die veränderten Lebensbedingungen der Eltern und Kinder müssen richtige Antworten gefunden werden. Geeignete Ansätze in der Rechtsprechung (etwa Mediation, gemeinsames Sorgerecht) oder in der Beratung sind in den vergangenen Jahren entstanden, müssen aber oft noch weiterentwickelt und ausgebaut werden. Denn momentan haben Scheidungs- und Trennungskinder in Deutschland häufig nicht nur mehr familiale Konflikte zu bewältigen als ihre Altersgenossen, sie sind auch häufiger von gesellschaftlichen Risiken wie Armut betroffen, die sie in vielfacher Weise in ihrer Entwicklung benachteiligen können. Betroffen sind vor allem Kinder von alleinerziehenden Müttern, die nicht oder nur stundenweise erwerbstätig sind.

Wie eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW 2010) zeigt, breitet sich die Armut in Deutschland insbesondere bei jungen Menschen, aber auch bei Alleinerziehenden drastisch aus. Im Jahr 2008 waren der DIW-Untersuchung zufolge 14 Prozent aller Bundesbürger armutsgefährdet. Das ist rund ein Drittel mehr als zehn Jahre zuvor. Als armutsgefährdet gelten Menschen, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in der Gesellschaft verfügen. Das heißt, ein Alleinstehender, der im Jahr 2007 weniger als 925 Euro netto im Monat zum Leben hatte, gehört zu dieser Gruppe. Nach diesen Kriterien weisen Alleinerziehende mit mehr als 40 Prozent weit überdurchschnittliche Armutsraten auf. War das jüngste Kind bis zu drei Jahre alt, waren sogar mehr als die Hälfte der Elternteile von Armut betroffen. Dabei spielt die Familiensituation selbst keine so große Rolle, ausschlaggebend ist vielmehr die Zahl der Erwerbstätigen im Haushalt in Relation zu der Gesamtzahl der Haushaltsmitglieder (Bien/Weidacher 2004), die bei mehreren minderjährigen Kindern und Alleinerziehenden besonders ungünstig ist.



Nachwuchs im Nachteil
Der Anteil der Alleinerziehenden, die von Armut bedroht sind, in Prozent



1998

2008
Jüngstes Kind 0-3 Jahre   
46
55
Jüngstes Kind 4-7 Jahre   
33
43
Jüngstes Kind 8-11 Jahre  
44
40
Jüngstes Kind 12-16 Jahre 
33
56
Jüngstes Kind
über 16 Jahre
11
21

Quelle: SOEP, Berechnungen des DIW Berlin 2010


Kinder geraten unverschuldet in einen Trennungshaushalt, in dem das Risiko für eine prekäre wirtschaftliche Situation hoch ist. Die negativ verlaufene wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre und die - laut dem Verfassungsgerichtsurteil vom Februar 2010 - nicht immer nachvollziehbare angemessene Berücksichtigung der Lage der Kinder bei den Hartz-IV-Sätzen machen es notwendig, dass benachteiligte Kinder eine besondere Aufmerksamkeit erhalten. Der Anstieg der Scheidungs- und Trennungsraten ist Teil einer gesellschaftlichen Entwicklung, die der eine oder andere bedauern mag. Dass diese sich aber derart massiv auf die wirtschaftliche Situation von Kindern auswirkt, ist nicht zwingend. Mit den beiden Vorhaben, die Erwerbschancen für alleinerziehende Frauen zu verbessern und zügig mehr Angebote der Kinderbetreuung bereitzustellen, hat die Politik bereits den richtigen Weg eingeschlagen, um auf diese Missstände zu reagieren.

Der Autor Dr. Walter Bien leitet am Deutschen Jugendinstitut das Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden.
Kontakt: bien@dji.de


Literatur

Alt, Christian / Bender, Donald (1998): Kinder in nichtehelichen Lebensgemeinschaften und nach Scheidung - Entwicklungen und Sequenzmuster. In: Bien, Walter / Schneider, Norbert F. (Hrsg.): Kind ja, Ehe nein? DJI: Familiensurvey, Band 7. Opladen, S 139-177

Bien, Walter / Hartl, Angela / Teubner, Markus (Hrsg.; 2002): Stieffamilien in Deutschland. Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt. DJI: Familiensurvey, Band 10. Opladen

Bien, Walter / Weidacher, Alois (Hrsg.; 2004): Leben neben der Wohlstandsgesellschaft - Familien in prekären Lebenslagen. DJI: Familiensurvey, Band 12. Wiesbaden

Klein, Thomas (1995): Scheidungsbetroffenheit im Lebensverlauf von Kindern. In: Nauck, Bernhard / Bertram, Hans (Hrsg.): Kinder in Deutschland. DJI: Familiensurvey, Band 5. Opladen, S. 253-263


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 1/2010, Heft 89, S. 4-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2010