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FAMILIE/243: Geteilte Sorge - Ein Kind, zwei Zuhause (DJI)


DJI Bulletin 1/2010, Heft 89
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Geteilte Sorge
Ein Kind, zwei Zuhause

Von Michaela Schier und Anna Proske


Das Leben mit getrennten Eltern stellt an Kinder nicht nur neue Anforderungen, sondern es beansprucht auch viel Zeit. Eine Studie des DJI untersucht erstmals, wie es Familien in Deutschland gelingt, den Alltag nach einer Scheidung oder Trennung zu meistern.


Immer öfter wohnen Kinder in Deutschland aufgrund von einer Trennung oder Scheidung nicht mit beiden Eltern in einem Haushalt zusammen. Dies führt dazu, dass Kinder zunehmend multilokal leben: Sie verbringen ihre Zeit in unterschiedlichem Ausmaß mal bei ihrer Mutter, mal bei ihrem Vater. Wie häufig und in welchem Rhythmus sie zwischen den Haushalten ihrer Eltern pendeln, ist bisher nicht bekannt. Einige statistische Daten erlauben jedoch eine Annäherung an die Zahl der potenziell pendelnden Kinder. Laut dem 7. Familienbericht machen etwa ein Fünftel aller Kinder in den alten und ein Drittel in den neuen Bundesländern während ihrer Kindheit Erfahrungen mit einem Wechsel des familialen Settings und damit auch mit dem getrennten Wohnen ihrer leiblichen Eltern (BMFSFJ 2006). Es handelt sich damit um ein gesellschaftlich hoch relevantes und vermutlich zunehmendes Phänomen, das die Schumpeter-Nachwuchsgruppe »Multilokalität von Familie« am Deutschen Jugendinstitut (DJI) derzeit untersucht. Die Projektgruppe beschäftigt sich mit der Frage, wie Familienleben hergestellt und gestaltet wird, wenn Eltern und ihre minderjährigen Kinder nach einer Scheidung oder Trennung beziehungsweise aufgrund von beruflicher Mobilität voneinander getrennt leben. Ziel ist es, die neuen Anforderungen systematisch herauszuarbeiten, die eine mehrörtige Lebensführung an Kinder, Jugendliche und Erwachsene stellt. Auf diese Weise sollen Kriterien und Rahmenbedingungen identifiziert werden, die für ein Gelingen multilokaler Familienarrangements von Bedeutung sind.


Rechtlicher und normativer Wandel

Im letzten Jahrzehnt stattfindende rechtliche und normative Veränderungen fördern die Multilokalität von Kindern. Seit der Kindschaftsrechtsreform 1998 wird rechtlich von einer Fortführung der gemeinsamen Sorge nach Trennungen oder Scheidungen ausgegangen. Der Gesetzgeber nimmt an, dass der Kontakt mit beiden Eltern dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Zeitgleich hat ein normativer Wandel des Vaterschaftsbildes vom distanzierten zum aktiven Vater stattgefunden, der sich, wenn auch noch wenig im Handeln, so doch deutlich in den Einstellungen von Vätern niederschlägt (Grunow 2007). Beide Entwicklungen erzeugen einen gewissen Druck auf Mütter und Väter, alltagspraktisch Wege zu finden, Elternschaft trotz der unterschiedlichen Wohnorte gemeinsam auszuüben. Dies hat Folgen für den Alltag ihrer Kinder. Studien zeigen, dass Kinder, deren Eltern das gemeinsame Sorgerecht haben, häufiger zwischen ihren Eltern pendeln als Kinder, bei denen nur ein Elternteil sorgeberechtigt ist (BMFSFJ 2006). Selbst wenn der Alltag nach der Trennung durch eine konfliktfreie Beziehung der Eltern und einen gut organisierten Ablauf gekennzeichnet ist, sind die Kinder durch die neue räumliche Lebenssituation mit besonderen Anforderungen konfrontiert.


Immer wieder Abschied: Kinder unterwegs

Um nach einer Trennung zumindest abwechselnd mit beiden Elternteilen zusammenleben zu können, müssen Kinder zunächst damit zurechtkommen, mehr oder weniger regelmäßig den Weg zwischen deren Wohnorten zurückzulegen. Dies bedeutet für Kinder und Eltern, dass sie neue alltagspraktische Routinen entwickeln müssen. Die Distanz zwischen den Wohnorten der Eltern spielt eine große Rolle für die Häufigkeit der Eltern-Kind-Kontakte sowie für die empfundenen Mobilitätsbelastungen, wie mehrere Studien zeigen (Jensen 2009; Smyth 2004; Schmitz 2000; Tazi-Preve u. a. 2007). Je näher die Eltern beieinander wohnen, umso häufiger besuchen Kinder den anderen Elternteil.

Allgemein schätzen Kinder, wenn sie ein Mitspracherecht darüber haben, wann und wie lange sie den anderen Elternteil besuchen. Je größer allerdings die Entfernung zwischen den Wohnorten der Eltern ist, umso weniger Einfluss haben Kinder meist auf die Planungen und umso belastender ist das Pendeln für jene Mädchen und Jungen, die vermehrt alleine mit Bus, Bahn oder Flugzeug reisen (Jensen 2009). Im Jahr 2009 hat zum Beispiel der Begleitservice »Kids on Tour« der Deutschen Bahn 6.229 allein reisende Kinder betreut. Umzusteigen oder auf den Zug zu warten, ist für sie eine große Leistung. Brisant wird die Situation, wenn der Zug Verspätung hat oder sich der Reiseplan kurzfristig ändert (Jensen 2009).


Marcel, elf Jahr alt, besucht im Münchner Stadtteil Schwabing ein Gymnasium. Seit vier Jahren wohnt er abwechselnd eine Woche bei seiner Mutter, ihrem neuen Partner und seinem Meerschweinchen in Schwabing und eine Woche bei seinem Vater, dessen neuer Frau und deren ebenfalls elfjähriger Tochter in München Harlaching. Von seiner Mutter aus geht er zu Fuß in die Schule, viele seiner Freunde wohnen in der Nachbarschaft. In den Vaterwochen nutzt er Bus und U-Bahn, um zur Schule zu kommen - häufig gemeinsam mit einem Schulfreund, der auch aus dem Münchner Süden ins Schwabinger Gymnasium fährt.


Manche Kinder empfinden das Pendeln aber auch als aufregende Belebung ihres Alltags, für viele wird es mit der Zeit zur Routine (Smart u. a. 2001). Immer bedeutet die Reise aber Abschied von einem Elternteil und Ankommen beim anderen Elternteil, den sie womöglich schon länger nicht mehr gesehen haben. Beide Momente werden von Kindern oft als schwierig beschrieben. Häufig zu reisen, heißt im Alltag auch: regelmäßig Koffer packen; liebe Dinge an einem Ort zurückzulassen; genau überlegen, dass man nichts vergisst, was man am anderen Ort braucht; aufgeregt sein. Dazu kommt, dass das Reisen anstrengend sein kann und Zeit in Anspruch nimmt. Zeit, die Kindern zum Spielen oder für ihre Freunde fehlt.


Freunde und Vereine müssen warten

Durch die Trennung der Eltern verändern sich für die Kinder nicht nur die räumlichen, sondern auch die zeitlichen Rahmenbedingungen des Zusammenseins mit ihrer Mutter und ihrem Vater. In den meisten Fällen verbringen Kinder nach der Trennung mehr Zeit mit ihren Müttern, mit denen sie in der Regel zusammenleben. Alltägliche und beiläufige Kontakte mit dem Vater nehmen drastisch ab. Dies ist etwas, was viele Kinder besonders bedauern (Hogan u. a. 2003; Werneck 2004). Wohnen die getrennt lebenden Eltern nahe beieinander, versuchen Väter manchmal, weiterhin am Alltag ihrer Kinder zu partizipieren, indem sie beispielsweise mehrmals wöchentlich am Abendessen im Haushalt der Ex-Partnerin teilnehmen oder die Kinder täglich zur Schule begleiten (Jurczyk u. a. 2009).

Bei größeren Distanzen zwischen den Wohnorten der Eltern sind alltägliche Kontakte mit beiden Eltern nicht möglich. Längere Phasen, in denen die Kinder von ihrem Vater getrennt sind, werden häufig nur durch sehr kurze Treffen unterbrochen. Es ist nicht immer leicht, sich in der begrenzten gemeinsamen Zeit wieder aufeinander einzustellen. Für die Aufenthalte beim außerhalb lebenden Elternteil sind meist Absprachen und Planungen nötig, spontane Besuche sind schwierig. Doch wenige oder kurze Besuche werden von Kindern nicht grundsätzlich negativer empfunden als häufige Kontakte. Wichtig für sie ist es, das Gefühl zu haben, dass beide Elternteile an einem intensiven Kontakt interessiert sind und sich darum bemühen (Hogan u. a. 2003; Werneck 2004).

Kinder erleben nach einer Trennung kaum noch Zeit mit beiden Eltern zusammen. Insgesamt bleiben ihnen in der Regel weniger elternfreie Phasen, da sie die verfügbare Zeit zwischen ihren Eltern aufteilen (müssen). Manchmal kommt es deshalb zu Widersprüchen zwischen elterlichen Interessen, ein paar Stunden mit ihren Kindern zu verbringen, und kindlichen Wünschen nach frei verfügbarer Zeit (Jensen 2009). In Zeiten, in denen Kinder beim entfernt wohnenden Elternteil leben, müssen sie auf Treffen mit Freunden oder Freizeitaktivitäten verzichten (Jensen 2007). Die Teilnahme im Fußball- oder Handballverein, die mit regelmäßigen Trainings und Spielen am Wochenende einhergeht, wird beispielsweise schwierig.

Um während des Getrenntseins dennoch in Kontakt zu bleiben, nutzen Eltern und Kinder häufig Kommunikationsmedien wie Internet, Telefon und Handy. Inwiefern solche »virtuellen Besuche« jedoch Face-to-Face-Kontakte mit den Eltern ersetzen können, ist skeptisch zu beurteilen (Werneck 2004). Denn die Kontakte erhalten durch die technische Vermittlung einen anderen Charakter. Besonders kleinen Kindern fällt es schwer, ihr Bedürfnis nach Nähe über Telefonate oder Skype auszugleichen. Charakteristisch für kindliche Bedürfnisse ist es gerade, dass sie spontan entstehen und zeitnah darauf eingegangen werden muss (Jurczyk u. a. 2009).


Ein vielseitiger, aber anstrengender Alltag

Multilokal lebende Kinder sind an zwei Orten zu Hause: bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater. Dies bedeutet, dass sie sich zwei Wohnungen, Wohn- und soziale Umfelder aneignen müssen, aber auch können. Außerdem nehmen sie wechselweise an zwei Familienalltagen teil, was eine große Herausforderung für Kinder darstellt, aber auch Chancen birgt. An zwei Orten zu leben, heißt für Kinder, sich in zwei Familienalltage einzufügen, diese mitzugestalten und miteinander zu verknüpfen. Unter Umständen müssen Wege zur Schule, zum Sportverein oder zu Freunden von unterschiedlichen Stadtteilen aus und mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln bewältigt werden.

Kinder berichten in einer qualitativen britischen Studie einerseits von Schwierigkeiten, sich immer wieder auf neue Regeln, Rituale und Alltagspraktiken der jeweiligen Familie einzustellen. Sind die Erziehungsstile der Eltern sehr unterschiedlich, erzählen einige Kinder sogar von dem Gefühl, zwei verschiedene Personen zu sein, je nachdem bei welchem Elternteil sie sich aufhalten. Viele empfinden es als sehr anstrengend, an zwei Orten zu Hause zu sein. Dennoch würden sie das Alltagsarrangement aber nicht ändern wollen, weil ihnen der Kontakt zu beiden Elternteilen sehr wichtig ist. Einige arrangieren sich aber nur mit diesem Modell, weil sie »gerecht« gegenüber ihren Elternteilen sein wollen. Sie möchten weder Gefühle verletzen noch Konflikte verursachen (Smart u. a. 2001).

Je älter die Kinder werden, umso häufiger verweigern sie dann auch das regelmäßige Pendeln (Jensen 2009). Wenn neue Partner und Geschwister dazu kommen, kann es zu Konflikten und Konkurrenzsituationen zwischen den pendelnden und den ortsstabilen Kindern um Raum, Dinge und Aufmerksamkeit kommen. Andererseits empfinden manche Kinder gerade die unterschiedlichen familialen Lebensräume als bereichernd. Sie nutzen die unterschiedlichen Lebensstile und Persönlichkeiten ihrer Eltern für die eigenen Interessen (Sieder 2008).


Kinder als multilokale Akteure ernst nehmen

Die Bedeutung eines multilokalen Familienlebens sowie der Mobilitätsanforderungen nach einer Scheidung oder Trennung für das Aufwachsen von Kindern sind im deutschsprachigen Raum noch kaum im Blick der Scheidungsforschung. Diese ist bisher weitgehend blind für alltagspraktische Anforderungen, die aus einem räumlich getrennten Familienleben resultieren und konzentriert sich bisher auf die psycho-sozialen Belastungen, die aus der Trennung der Eltern für die Kinder und die Eltern-Kind-Beziehung resultieren. Deshalb soll in der Studie am DJI der Frage nachgegangen werden, wie Kinder den mehrörtigen Alltag erleben und konkret gestalten. Bisher wird meist angenommen, dass sich das Pendeln zwischen sowie die Verortung von Kindern in zwei Haushalten negativ auf ihre Entwicklung auswirken. Nur wenige Studien verweisen ebenso auf positive Aspekte, die mit dieser Lebenssituation verbunden sein können (Sieder 2008; Haugen 2010; Smart u. a. 2001). Kinder als multilokale Akteure ernst zu nehmen und ihre gelebte Praxis empirisch zu untersuchen, verspricht insofern einen großen Erkenntnisgewinn für Wissenschaft, Politik und Praxis.


Dr. Michaela Schier leitet die von der VolkswagenStiftung für fünf Jahre geförderte Schumpeter-Nachwuchsgruppe »Multilokalität von Familie« am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Anna Proske arbeitet dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit. In einem ersten Schritt wird die Projektgruppe mittels einer Sekundäranalyse vorliegender Datensätze der quantitativen Verbreitung des Phänomens der Multilokalität von Familie und deren »Geografie« nachgehen. Im Zentrum des Forschungsvorhabens stehen dann zwei qualitative Teilstudien. Beide fokussieren sowohl auf Eltern als auch auf Kinder und Jugendliche sowie ihr konkretes Handeln im multilokalen Familienzusammenhang nach einer Scheidung oder Trennung beziehungsweise aufgrund von Mobilitätsanforderungen der Arbeitswelt. Weitere Informationen zur laufenden Untersuchung sind erhältlich im Internet unter www.dji.de/multilokale_familie.
Kontakt: schier@dji.de, proske@dji.de



Literatur:

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.; 2006): Siebter Familienbericht. Berlin

Grunow, Daniela (2007): Wandel der Geschlechterrollen und Väterhandeln im Alltag. In: Mühling, Tanja / Rost, Harald (Hrsg.): Väter im Blickpunkt. Opladen, S. 49-76

Haugen, Gry Mette (2010): Children's perspectives on everyday experiences of shared residence. In: Children & Society, 2, S. 112-122

Hogan, Diane / Halpenny, Ann Marie / Greene, Sheila (2003): Change and continuity after parental separation. Children's experiences of family transitions in Ireland. In: Childhood, 2, S. 163-180

Jensen, An-Magritt (2007): Mobile and uprooted? Children and the changing family. In: Zeiher, Helga u. a. (Hrsg.): Flexible childhood? Exploring children's welfare in time and space. Odense

Jensen, An-Magritt (2009): Mobile children: Small captives of large structures? In: Children & Society, 2, S. 123-135

Jurczyk, Karin / Schier, Michaela / Szymenderski, Peggy / Lange, Andreas / Voß, G. Günter (2009): Entgrenzte Arbeit - Entgrenzte Familie. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung. Berlin

Schmitz, Heike (2000): Familiäre Strukturen sechs Jahre nach einer elterlichen Trennung. Regensburg

Sieder, Reinhard (2008): Patchworks - das Familienleben getrennter Eltern und ihrer Kinder. Stuttgart

Smart, Carol / Neale, Bren / Wade, Amanda (2001): The changing experience of childhood. Families and divorce. Cambridge

Smyth, Bruce (Hrsg.; 2004): Parent-child contact and post-separation parenting arrangements. Research Report, No. 9, Australian Institute of Family Studies

Tazi-Preve, Mariam I. u. a. (2007): Väter im Abseits. Wiesbaden

Werneck, Harald (2004): Vater-Kind-Beziehungen in Nachscheidungsfamilien. In: Zartler, Ulrike u. a. (Hrsg.): Wenn Eltern sich trennen. Wien, S. 155-179


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 1/2010, Heft 89, S. 12-14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2010