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FAMILIE/254: Zeit für Zuwendung (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2011 - Nr. 92/93

Zeit für Zuwendung

Von Michael-Sebastian Honig und Claudia Zerle


Der Zusammenhalt zwischen Großeltern, Eltern und ihren Kindern ist ungebrochen. Doch der Staat kann diese Solidarität nicht als selbstverständlich voraussetzen. Um private Hilfe zwischen den Generationen zu ermöglichen, benötigen moderne Familien vor allem mehr Zeit.


Familien spielen beim Aufwachsen der Kinder eine Schlüsselrolle. Beispielsweise müssen Tageseinrichtungen für Kinder schon eine sehr hohe pädagogische Qualität aufweisen, um den Einfluss familialer Merkmale auf die kindliche Entwicklung zu übertreffen (Rossbach 2011). Daher ist die Frage nach den Bedingungen, unter denen Familien zu einem gelingenden Aufwachsen der Kinder beitragen können, von hoher Bedeutung; Solidarität innerhalb und zwischen den Generationen spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Moderne Familien sind auf den ersten Blick durch Wahlfreiheit charakterisiert. Ob Erwachsene sich zusammentun, ob sie Kinder haben und wie sie als Mütter und Väter Familie leben, ist ihre höchstpersönliche Entscheidung. Im Gegensatz dazu können sich Kinder ihre Eltern aber nicht aussuchen, und sie bleiben Kind ein Leben lang. Auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt folgt immer noch weitgehend tiefsitzenden Zuschreibungen. Der Zusammenhalt moderner Familien basiert also auf einer Mischung aus Freiwilligkeit und Angewiesenheit, ja: Abhängigkeit. Die Frage ist daher, wie zwischen Müttern und Vätern beziehungsweise Eltern und Kindern Solidarität entsteht. Familiale Solidarität ist keine Gegebenheit, sondern eine Herstellungsleistung (Jurczyk 2010). Dieses Konzept charakterisiert die Hervorbringung eines familialen Zusammenhalts als eine freiwillige Verbindlichkeit.


Notsituationen werden häufig gemeinsam bewältigt

Wie materialisieren sich die Solidarpotenziale von Familien? Und wie sehr unterscheiden sie sich nach sozialen Risikolagen? Die AID:A-Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) hat dies an verschiedenen Unterstützungsleistungen sichtbar zu machen versucht - und die zentrale Botschaft von AID:A scheint beruhigend: Der familiale Zusammenhalt ist auch heute noch stark. Insbesondere in schwierigen Lebensphasen rücken Familienmitglieder und -generationen enger zusammen und versuchen Belastungen solidarisch zu bewältigen. Deutlich wird dies unter anderem am Beispiel der Alleinerziehenden, die das Familienleben ohne die Unterstützung eines Partners organisieren müssen. Beim Vergleich von Betreuungsleistungen von Großeltern bei Paaren und Alleinerziehenden zeigt sich nach den AID:A-Daten zunächst kein Unterschied: 36 Prozent der Alleinerziehenden und 34 Prozent der Befragten mit Partner im Haushalt geben an, die Großeltern hätten sich in der vergangenen Woche an der Kinderbetreuung beteiligt (Berngruber 2010). Im Umfang der Betreuung jedoch werden Unterschiede offensichtlich: Bei Befragten, die mit einem Partner zusammenleben, betreuen die Großeltern ihre Enkel zumeist bis zu zehn Stunden pro Woche mit; bei etwa 40 Prozent sind es auch mehr Stunden. Bei den Alleinerziehenden engagiert sich mit fast 60 Prozent dagegen sogar der überwiegende Teil der Großeltern mit mehr als 10 Stunden pro Woche: Bei 28 Prozent sind es zwischen 10 und 20 Stunden, bei 16 Prozent zwischen 20 und 40 Stunden und bei 15 Prozent mehr als 40 Stunden pro Woche.


Die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt steckt enge Grenzen

Seit den 70er Jahren haben sich in den westlichen Industriegesellschaften sozioökonomische Transformationen vollzogen, die neuartige soziale Risiken hervorgebracht haben. Die De-Industrialisierung und Tertialisierung der Erwerbsarbeit, der massive Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt, die zunehmende Instabilität von Familienstrukturen und die De-Standardisierung von Beschäftigungsverhältnissen treffen Familien an ihrer familienökonomischen Achillesferse: an ihrer Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt. Entsprechend ist der familiale Zusammenhalt nicht nur eine Frage der persönlichen Beziehungen zwischen den Partnern, zwischen Eltern und Kindern oder den Familien in ihren Netzwerken. Vielmehr sind die Möglichkeiten, Familie zu leben, nur die Kehrseite ihrer Marktabhängigkeit. Daher haben die Unterstützungsleistungen nicht nur innere, sondern auch äußere Grenzen. Auch dazu hat die AID:A-Studie erste Befunde erbracht - insbesondere zur Kumulation von Belastungen und zur Bedeutung von Armut für familiale Solidarpotenziale (Chassé u.a. 2005). (Siehe auch S. 13ff.: Was Armut ausmacht).

Familiale Solidarität ist auf Voraussetzungen angewiesen, die Familien nicht selbst schaffen können, um ihr Potenzial entfalten zu können. Die britischen Sozialpolitikforscherinnen Mary Daly und Jane Lewis (1998) nennen die Aktivitäten, in denen Familien ihren Zusammenhalt hervorbringen, daher social care. Social care meint Handlungen, die körperliche und emotionale Bedürfnisse abhängiger Erwachsener und Kinder erfüllen. Der Begriff umfasst aber auch die kulturellen, finanziellen und sozialen - man könnte ergänzen: sowie die politischen - Rahmenbedingungen, unter denen diese Sorgearbeit den Akteuren zugeschrieben und von ihnen ausgeführt wird. Social care meint eine Sorgearbeit, die insbesondere den Staat und seine Leistungen für Familien immer schon mitdenkt.


Das Dilemma der Familienpolitik

Welche institutionellen Hilfen benötigen Familien? Wenn der familiale Zusammenhalt eine Herstellungsleistung ist, die immer wieder neu erbracht werden muss, dann kann der Staat spezifische Unterstützungsleistungen nicht generell erwarten. Heutige Familienpolitik in Deutschland versteht ihre Aufgabe daher weithin als Ermöglichung von Familie. Oft trägt sie auch dazu bei, dass die Maßstäbe des familialen Zusammenhalts sich verändern. Das Programm »Frühe Hilfen« ist dafür ein Beispiel, der quantitative Ausbau und die pädagogische Qualifizierung institutioneller Kinderbetreuung ein anderes. Das erste steht für das Ziel, im Namen des Kindeswohls einen Mindeststandard elterlichen Umgangs mit den eigenen Kindern durchzusetzen, das zweite steht für das Ziel, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Dies ist eine vielversprechende Strategie der Armutsbekämpfung, setzt zugleich jedoch nolens volens Standards für ein Leben mit Kindern, weil sie es durch eine De-Familialisierung der Kindererziehung ermöglichen will. Wer sich heute selbst um seine Kinder sorgen will, muss es sich leisten können. Ermöglichungspolitik, die solche Dilemmata vermeiden und den Eigensinn von Familien stärken will, muss nicht nur Optionen anbieten, sondern Spielräume eröffnen. Derzeit wird in diesem Sinne viel über Zeitpolitik beziehungsweise über eine Familienpolitik diskutiert, die Zeit für die eigene Familie eröffnet.


DIE AUTOREN

Prof. Dr. Michael-Sebastian Honig ist Professor an der Université du Luxembourg und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von AID:A. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kindheit und Kinderbetreuung.

Claudia Zerle ist wissenschaftliche Referentin in der Abteilung »Familie und Familienpolitik« des Deutschen Jugendinstituts. Sie beschäftigt sich insbesondere mit den Themen Vaterschaft, Familiengründung sowie Alltag und Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen.

Kontakt: Michael.Honig@uni.lu, zerle@dji.de


LITERATUR

BERNGRUBER, ANNE (2010): Gelebte Solidarität: Unterstützungsleistungen in Familien? AID:A-Befunde. Unveröffentlichtes Manuskript des Vortrags bei der wissenschaftlichen DJI-Fachtagung »Aufwachsen in Deutschland« am 17. und 18.11.2010 in Berlin. Weitere Informationen sind erhältlich bei berngruber@dji.de

CHASSÉ, KARL AUGUST / ZANDER MARGHERITA / RASCH KONSTANZE (2005): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen. Wiesbaden

DALY, MARY / LEWIS, JANE (1998): INTRODUCTION: conceptualising social care in the context of welfare state restructuring. In: Lewis, Jane (Hrsg.): Gender, social care and welfare state restructuring. Aldershot, S. 86-103

JURCZYK, KARIN (2010): Die Solidargemeinschaft Familie - überschätzt und unterschätzt. Unveröffentlichtes Manuskript des Vortrags bei der wissenschaftlichen DJI-Fachtagung »Aufwachsen in Deutschland« am 17. und 18.11.2010 in Berlin. Weitere Informationen sind erhältlich bei jurczyk@dji.de

ROSSBACH, HANS-GÜNTHER (2011): Auswirkungen öffentlicher Kinderbetreuung auf Kinder. In: Wittmann, Svendy / Rauschenbach, Thomas / Leu, Hans Rudolf (Hrsg.): Kinder in Deutschland. Eine Bilanz empirischer Studien. Weinheim/München, S. 173-180


DJI Impulse 1/2011 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
Internet: www.dji.de/impulse


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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2011 - Nr.
92/93, S. 8-9
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de

DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011