Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

FRAUEN/446: Ägypten - Islamistische Sittenwächter bedrohen Frauen ohne Kopftuch (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Dezember 2012

Ägypten: Islamistische Sittenwächter bedrohen Frauen ohne Kopftuch

von Cam McGrath


Salafisten fordern in Ägypten die offizielle Einführung der islamischen Scharia - Bild: © Cam McGrath/IPS

Salafisten fordern in Ägypten die offizielle Einführung der islamischen Scharia
Bild: © Cam McGrath/IPS

Kairo, 10. Dezember (IPS) - Während in Ägypten die Proteste gegen die geplante Verfassung weitergehen, die dem Abschied vom weltlichen Staat zur Folge haben könnten, versuchen bereits einige selbst ernannte Sittenwächter in den Straßen der Hauptstadt Kairo ihre Interpretation der Scharia durchzusetzen. Sie greifen gegen Muslime und Angehörige der christlichen Minderheit durch, die ihrer Meinung nach die islamischen Rechtsvorschriften missachten.

Laut Ishaq Ibrahim von der Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte wurden die ersten Zwischenfälle gleich nach dem Volksaufstand im letzten Jahr bekannt, der zum Sturz von Diktator Husni Mubarak führte. Zeugen berichteten, "bärtige Eiferer" dabei beobachtet zu haben, wie sie Frauen bedrohten, die in ihren Augen nicht angemessen gekleidet waren. Sie beendeten außerdem Partys, auf denen "unislamische" Musik gespielt wurde, verwüsteten Geschäfte, die Alkohol verkauften und schnitten einem Mann, dem sie unmoralisches Verhalten vorwarfen, ein Ohr ab.

Nur wenige Täter würden gefasst, erklärte Ibrahim. Seiner Ansicht nach sind für die Angriffe ultrakonservative islamische Salafisten verantwortlich, die einer besonders strengen Auslegung des Islams folgen. Sie berufen sich auf den Lebensstil des Propheten Mohammed und seiner Getreuen. Männer müssen demnach Bärte und Frauen einen Schleier tragen.

In dem inzwischen aufgelösten Unterhaus des Parlaments hielten die Salafisten fast ein Viertel aller Mandate. Sie wollen erreichen, dass die Scharia als einzige Gesetzesgrundlage in Ägypten anerkannt wird. Während die in dem Land erstarkten Salafistengruppen einst mit allen Mitteln versuchten, ein islamisches Kalifat zu errichten, wandten sich ihre Führer später von der Gewalt ab und traten für einen friedlichen Dialog ein. Bekannte Salafisten kündigten allerdings an, gewaltsam gegen "Blasphemie" vorzugehen. Erst kürzlich drohte einer von ihnen damit, "allen, die die Scharia oder den Islam beleidigen, die Zunge abzuschneiden".


Frauen ohne Kopftuch wird Haar abgeschnitten

Auch unbedecktes Frauenhaar versetzt die Extremisten offenbar in Rage. Mirette Michail berichtete, dass sie in der Innenstadt von Kairo von sechs Frauen angegriffen wurde, die den islamischen Gesichtsschleier Niqab trugen. Sie schlugen auf sie ein und versuchten, ihr Haar anzuzünden, offensichtlich als Strafe dafür, dass es nicht unter einem Schleier verborgen war. Die Frauen seien in der Menge verschwunden, als zwei Männer eingegriffen hätten, erzählte Michail.

Dies war bereits die dritte Attacke in weniger als einem Monat auf Ägypterinnen, die ihr Haar nicht bedeckt trugen. Zuvor hatten zwei Frauen mit Niqab einer Christin in der U-Bahn das Haar abgeschnitten und sie aus dem Zug gestoßen. Das Opfer brach sich dabei den Arm. Auch einer 13-jährigen Christin wurde in der U-Bahn von einer vollständig verschleierten Frau das Haar gestutzt.

Solche Zwischenfälle kamen in Kairo bisher nur selten vor. Die ägyptische Hauptstadt gilt als weltoffen. In der Öffentlichkeit kann man junge Paare sehen, die Händchen halten. Touristen sind in Shorts und T-Shirts unterwegs, und in vielen Lokalen wird Alkohol ausgeschenkt.

In Provinzstädten und in ländlichen Regionen, wo der konservative Islam stark verwurzelt ist, berichten Aktivisten jedoch über eine alarmierende Zunahme moralischer Bevormundung. Extremisten patrouillieren in kleinen Gruppen durch die Stadtviertel und zwingen anderen ihre eigene Sichtweise der Scharia auf. Wenn sie es für nötig halten, wenden sie dabei auch Gewalt an.

Amal Abdel Hadi, die Leiterin der Neuen Frauenstiftung in Kairo, führt das Erstarken dieser Gruppen darauf zurück, dass die Polizei seit der Revolte im vergangenen Jahr kaum noch effizient in Erscheinung tritt. Zudem herrscht in der Bevölkerung die Erwartung vor, dass die neue ägyptische Verfassung eine strengere Anwendung des islamischen Rechts vorschreiben wird.

"Wenn in der Verfassung steht, dass der Staat die öffentliche Moral 'schützen' soll, wird diesen Vereinigungen grünes Licht gegeben", meinte Abdel Hadi. "Die Rolle der Allgemeinheit beim Schutz von Traditionen wird in der Verfassung festgeschrieben, indem nur vage und rhetorische Formulierungen gebraucht werden, die extreme Deutungen zulassen."

Im Januar dieses Jahres hatte eine obskure Gruppe, die sich zu den salafistischen Lehren bekannte, im sozialen Internet-Netzwerk 'Facebook' angekündigt, dass sie ein 'Komitee zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters' gegründet habe. Diese islamische Moralpolizei orientiert sich am Vorbild der 'Mutaween' in Saudi-Arabien.


Patrouillen wachen über sittsames Verhalten

Dort patrouillieren Agenten und Freiwillige auf den Straßen und erzwingen beispielsweise eine strikte Trennung der Geschlechter, eine konservative Kleiderordnung und die Einhaltung der muslimischen Gebetsordnung. Bis 2007 trugen diese von der Regierung gebilligten Moralhüter Rattanstöcke bei sich, um Abweichler zu züchtigen.

Dass die ägyptische Gruppe ihren Internet-Auftritt in ähnlich radikaler Weise nutzt, hat sich bisher nicht erwiesen. Aus den nördlichen Delta-Provinzen wurden aber mehrere Zwischenfälle gemeldet. Die arabische Presse berichtete, dass Gruppen bärtiger Männer mit Rattanstöcken Geschäfte überfielen und deren Eigentümer bedrohten, weil sie "unmoralische" Kleidung verkauften. Auch Friseure, die Kunden rasierten, und Händler, die christliche Bücher anboten, wurden schikaniert und bedroht.

Den bisherigen Höhepunkt der Übergriffe bildete die Ermordung von Ahmed Hussein Eid. Polizeiberichten zufolge wurden der Student und seine Freundin im Juni von drei Salafisten im Hafenbezirk von Suez angegriffen. Die Männer züchtigten das Paar, weil es zu eng beisammengestanden hatte. Als Eid protestierte, zog einer der Angreifer ein Messer hervor und stach zu. Die drei Täter wurden gefasst und zu jeweils 15 Jahren Haft verurteilt.

Al-Azhar, die höchste Autorität im sunnitischen Islam, und die regierende Muslimbruderschaft haben in mehreren öffentlichen Stellungnahmen Einzelpersonen getadelt, die auf eigene Faust die Einhaltung der Scharia erzwingen wollen. Die Salafisten-Führer verhalten sich dagegen mehrdeutig. Sie streiten zwar alle Verbindungen zu den Gruppen von Moralhütern ab, verteidigen aber ihr Vorgehen, sofern es sich auf ein "friedliches Eingreifen" beschränkt. (Ende/IPS/ck/2012)


© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 10. Dezember 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2012