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FRAUEN/563: Indien - Aufstand der Latrinenputzerinnen, Dalit-Frauen wehren sich (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. Januar 2015

Indien: Der Aufstand der Latrinenputzerinnen - Dalit-Frauen wehren sich gegen Kastendiskriminierung

von Shai Venkatraman


Bild: © Shai Venkatraman/Silder

Eine Dalit vor einer Trockentoilette auf dem Grundstück eines hochrangigen Kastenmitglieds in Mainpuri im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Versuche von Latrinenputzerinnen, die Arbeit abzugeben, mündeten hier in Gewalt
Bild: © Shai Venkatraman/Silder

Mumbai, 7. Januar (IPS) - Geschickt verwebt Bittal Devi bunte Fäden in eine farbenfrohe Patchworkdecke. Unvorstellbar, dass diese Hände jahrzehntelang die Exkremente anderer Leute in Sava, einem Dorf im nordwestindischen Bundesstaat Rajasthan, entsorgen mussten. Die 47-Jährige war Latrinenputzerin, weil sie einer Bevölkerungsgruppe angehört, der das indische Kastensystem von jeher die niedrigsten Arbeiten zuweist.

Devi ist eine 'Bhangi', eine 'Gebrochene'. Vor allem den weiblichen Angehörigen dieser Gruppe kommt traditionell die Aufgabe zu, Trockenlatrinen mit bloßen Händen zu säubern und den menschlichen Kot in Körben wegzutragen. Bhangis werden darüber hinaus für die Reinigung von Abwasserkanälen, Jauchegruben und Gullys sowie für den Abtransport von Tierkadavern eingesetzt. Die meisten Bhangis sind Dalits ('Unberührbare').

Devi war zwölf Jahre alt, als sie ihre erste Latrine putzte. "Jeden Tag musste ich meine Mutter zu den 'Thakurs' (oberen Kasten) begleiten, um ihre Toiletten zu säubern. Wir zogen von Haus zu Haus. kehrten die Fäkalien zusammen und kippten sie in Körbe, die wir später außerhalb der Ortschaft entleerten." Auf diese Weise reinigten Mutter und Tochter 15 Latrinen pro Tag für monatlich 375 Rupien (etwas mehr als sechs US-Dollar) - und für eine Garnitur abgelegter Kleidungsstücke, die sie einmal im Jahr zum Diwali-Fest erhielten.

Nach ihrem ersten Arbeitstag habe sie eine Woche lang nichts essen können, erinnert sich Devi. Doch noch schlimmer sei die Häme der Klassenkameraden der höheren Kasten gewesen. "Sie hielten sich die Nase zu, um zu signalisieren, dass wir stinken. Daraufhin wurden alle Bhangis von den anderen Schülern weggesetzt."

Den Job zu verweigern, stand nicht zur Debatte. "Von Geburt an wurde uns gesagt, dass Latrinenputzen unsere Bestimmung sei und dass wir das tun müssten, was schon unsere Vorfahren getan hätten", erläutert sie.


Praxis seit 2013 verboten

Auch wenn die Kastendiskriminierung in Indien seit 1955 untersagt ist, sieht sich die Regierung immer wieder zu neuen rechtlichen und politischen Maßnahmen gezwungen, um dem Verbot Nachdruck zu verleihen. Erst seit September 2013 ist es verboten, Menschen zur Beseitigung von Fäkalien zu zwingen.

Doch an der Basis hat sich wenig geändert. Dass sich die vom Staat verhängten Verbote als unwirksam herausgestellt haben, liegt zum Teil daran, dass sie nicht rigoros durchgesetzt werden. Außerdem wissen viele Betroffene gar nicht, dass es ihr gutes Recht ist, Arbeiten wie die manuelle Entsorgung von Exkrementen zu verweigern. Wer sich wehrt, lebt jedoch in der ständigen Angst vor Gewalt und Vertreibung.

Laut dem Internationalen Dalit-Solidaritätsnetzwerk, das sich für die Abschaffung der Kastendiskriminierung engagiert, gibt es in ganz Indien etwa 1,3 Millionen Latrinenputzer. Die meisten sind Frauen.

Zivilrechtliche Organisationen sehen die Betroffenen in einer doppelten Opferrolle. Nicht nur, dass sie von den höheren Kasten wie Abschaum behandelt werden. Auch werden sie von ihren Männern, die die anrüchigen Jobs selbst nicht verrichten wollen, dazu genötigt, ihnen diese Arbeit abzunehmen.

Bittal Devis Nachbarin Rani Devi Dhela war ebenfalls zwölf, als sie damit begann, die Toiletten anderer Leute zu reinigen. Als verheiratete Frau hat sie die Arbeit fortgeführt, zumal ihr Mann arbeitslos war. Ihre vier Kinder schickte sie in der Hoffnung, dass sie es eines Tages besser haben würden als sie, zur Schule. Doch dieser Traum war ausgeträumt, als ihre elfjährige Tochter eines Tages weinend nach Hause kam.

"Weil sie neue Kleidungsstücke trug, warfen ihr ihre Mitschüler und Lehrer vor, eitel zu sein", erzählt Dhela. Dann habe man ihr befohlen, das Erbrochene eines anderen Kindes aufzuputzen und die Schulklos zu reinigen. Als sie sich weigerte, wurde ihr gesagt, dass sie als Tochter einer Bhangi dazu bestimmt sei, Klos zu putzen.


Auflehnung macht Schule

"Ein Lehrer drohte sogar damit, meiner Tochter den Mund mit Säure zu verätzen. Das war der Tag, an dem mir klar wurde, dass sich nichts ändern wird, solange wir uns solchen Menschen nicht widersetzen. Ich stellte meinen Korb ab und beschloss, lieber zu sterben als weiterzumachen", fügt sie hinzu.

In ihrem Kampf stand Dhela zunächst allein dar. Die oberen Kasten rotteten sich zusammen und feindeten sie an, und von der eigenen Gemeinschaft war zunächst keine Hilfe zu erwarten. Noch schlimmer war die Reaktion ihres Mannes und ihrer Schwiegereltern, von denen sie geschlagen wurde. "Die Thakurs brannten schließlich unsere Hütte nieder und erklärten meinem Mann, dass sie uns aus dem Dorf vertreiben würden. Nur meine Kinder hielten damals zu mir", erinnert sie sich.

Doch ihr Mut veranlasste Bittal Devi und andere Frauen im Dorf dazu, ihrem Beispiel zu folgen. Zusammen reisten die Inderinnen in die nächste größere Stadt, wo sich das Büro der Nichtregierungsorganisation (NGO) 'Jan Sahas' befindet, die seit mehr als 17 Jahren gegen die manuelle Zwangsentsorgung von Exkrementen durch Bhangis vorgeht.

"Wir hatten auch in Sava versucht, die Gemeinschaft dazu zu bewegen, die Praxis der Latrinendienste aufzugeben, doch die Menschen hatten viel zu viel Angst", berichtet der Vizechef von Jan Sahas, Sanjay Dumane. "Erst der Mut von Rani Devi Dhela brachte die Mitglieder der Gemeinschaft dazu, sich zu wehren."

Bild: © Shai Venkatraman/IPS

Auf einer Protestveranstaltung gegen die auf dem Kastenwesen beruhende manuelle Beseitigung von Exkrementen in Neu-Delhi verbrennen Frauen Körbe, wie sie zum Abtransport der Fäkalien verwendet werden
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Der Widerstand ist allerdings ein mühsames Geschäft. Überall wurden den Frauen Steine in den Weg gelegt. So weigerte sich die Dorfpolizei, die Anzeigen der Frauen entgegenzunehmen und ermunterte sie dazu, den ihnen zugedachten Platz in der Kastenhierarchie zu akzeptieren. Erst die Intervention der Bezirkspolizei brachte den Wandel.

"Ein riesiges Aufgebot von Polizeifahrzeugen kam in unser Dorf, und die hochrangigen Beamten drohten den Angehörigen der oberen Kasten mit Gefängnisstrafen, sollten sie weiterhin gegen das Gesetz gegen die manuelle Beseitigung von Exkrementen verstoßen", so Dumane.

Seit Februar 2014 gehört die Praxis in Sava der Vergangenheit an. "Einige Mitglieder der oberen Kasten boykottieren uns allerdings seither", berichtet Dhela. "Sie laden uns nicht mehr zu ihren Hochzeiten und Festen ein. Doch meine Kinder und mein Mann sind stolz auf mich. Und das macht mich glücklich."

"Mir sagen auch heute noch viele, dass ich kein Recht gehabt hätte, den Beruf aufzugeben", fügt Archana Balnik hinzu. Die 28-Jährige hatte sich in ihrer Ortschaft Digambar im zentralen Bundesstaat Madhya Pradesh für die Abschaffung der menschenunwürdigen Tätigkeit eingesetzt. "Doch ich will für mich und meine Kinder in meinem Dorf eine andere Zukunft."

Die meisten Frauen, die den Latrinenjob aufgegeben haben, arbeiten im Brückenbau und auf Baustellen. Einige haben sich der in den Bundesstaaten Bihar und Madhya Pradesh gestarteten Jan-Sahas-Initiative 'Dignity and Design' zur Rehabilitation ehemaliger Larinenputzerinnen angeschlossen.

"Wir bieten Schneider- und Stickkurse an und haben Werkstätten eingerichtet, in denen die Frauen Taschen, Geldbörsen und andere Produkte herstellen", sagt der Jan-Sahas-Gründer Aashif Shaikh. "Wir hoffen nun unser Projekt mit Hilfe der Regierung und des Privatsektors in alle Regionen des Landes zu exportieren."

Frauen wie Bittal Devi und Rani Devi Dhela sind die Botschafterinnen der Organisation Jan Sahas, die nach eigenen Angaben mehr als 17.000 Latrinenputzerinnen in unterschiedlichen Teilen des Landes befreit hat.


Tief verwurzeltes Kastensystem

In Indien ist es eine Sisyphusarbeit, Sichtweisen zu verändern. So hat die jüngste Untersuchung über die menschliche Entwicklung in Indien bestätigt, wie tief das Kastendenken in der indischen Gesellschaft verankert ist. Demnach hält sich ein Viertel der indischen Bevölkerung an die Regeln im Umgang mit 'Unberührbaren'.

"Bei der jungen Generation, die gebildeter ist, ist ein Umdenken erkennbar", meint Shaikh, deren NGO in Grund- und weiterführenden Schulen Sensibilisierungsprogramme durchführt. "Wir müssen den Kampf der Betroffenen unterstützen, um die Praxis abzuschaffen." (Ende/IPS/kb/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/01/indias-manual-scavengers-rise-up-against-caste-discrimination/

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IPS-Tagesdienst vom 7. Januar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2015


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