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FRAUEN/657: Femizide in Lateinamerika - Ni una menos! vivas las queremos! (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Argentinien / Lateinamerika / Mexiko
Femizide in Lateinamerika - Ni una menos! vivas las queremos!

Von Nina Aretz


(Berlin, 11. Dezember 2016, npl) - In Lateinamerika werden täglich mehr als 17 Frauen getötet, weil sie Frauen sind. Meistens durch ihre Partner oder Ex-Partner. Seit 2004 hat sich - zunächst in Mexiko - der Begriff feminicidos verbreitet, um die Problematik dieser geschlechtsspezifischen Morde benennen zu können. Die Einführung des Begriffs hat in vielen lateinamerikanischen Ländern auch dazu geführt, ein Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen und den Protest auf die Straße zu tragen.


Ein Begriff für ein schon lange bestehendes Gewalt-Phänomen

Die US-amerikanische Autorin Carol Orlock prägte den Begriff femicide 1974 und war die erste, die uns einen Begriff gab, um die geschlechtsspezifischen Morde benennen zu können. Zwei Jahre später benutzte ihn die Feministin Diana Russell öffentlich vor dem Internationalen Tribunal für Gewalt gegen Frauen. Sie erinnert sich, dass sie Femizide zunächst als Hassmord an Frauen, ausgeführt von Männern, definierte. Die Frauen vor dem Internationalen Tribunal stellten schnell fest, dass von Hexenverbrennungen über den weit verbreiteten Brauch weibliche Babys zu töten bis hin zum sogenannten "Ehren-Mord", die Femizide eine lange Tradition haben.

Die mexikanische Feministin und Wissenschaftlerin Marcela Lagarde führte den Begriff 2004 als feminicido in den lateinamerikanischen Sprachraum ein, zunächst um die Frauenmorde in Ciudad Juarez zu benennen. Von dort aus hat sich der Begriff als feminicidio oder femicidio in vielen lateinamerikanischen Ländern ausgebreitet. Die Einführung des Begriffes führte oft dazu, dass Feminist*innen sich gegen die Femizide organisiert haben und ihren Protest ausdrücken.


Die Protestbewegung NI UNA MENOS

Die wohl bekannteste Bewegung ist "NI UNA MENOS, nicht eine weniger", die sich 2015 in Argentinien gründete. Ni una menos ist ein kollektiver Aufschrei gegen die machistische Gewalt. Basta de femicidios (Schluss mit Femiciden!) rufen sie, denn in Argentinien wird alle 30 Stunden eine Frau ermordet, weil sie eine Frau ist. Auf einer ersten Demo im Juni 2015 trugen sie ihre Forderungen vor:

  • eine wirkliche Anwendung des Gesetzes 26.485, um der Gewalt gegen Frauen vorzubeugen, sie zu bestrafen und zu beseitigen
  • Erstellung offizieller Statistiken zu den Themen Femizid und Gewalt gegen Frauen
  • Die umfassende Arbeitsaufnahme der Abteilung für häusliche Gewalt am Obersten Gerichtshof, mit Einrichtungen in allen Provinzen
  • Garantierter Schutz für von Gewalt betroffene Frauen durch Anwendung von elektronischen Fußfesseln, um sicher zu stellen, dass das Kontaktverbot eingehalten wird
  • Ausgebildetes Personal in allen Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften, um
  • Anzeigen aufzunehmen
  • Kostenloser Rechtsbeistand für die Opfer während des gesamten Prozesses
  • Ein speziell ausgebildeter Rechtsbeistand für betroffene Kinder
  • Eröffnung von Frauenhäusern
  • Einführung einer ganzheitlichen Sexualerziehung in die Lehrpläne; Thematisierung der machistischen Gewalt sowie Workshops, um Gewalt in Beziehungen vorzubeugen
  • Verpflichtende Weiterbildungen für Staatsangestellte zum Thema machistische Gewalt

Der Femizid an der 14-jährigen Chiara Páez war Auslöser für die erste Demo von NI UNA MENOS in Argentinien im Juni 2015. Mit mehr als 300.000 Teilnehmer*innen und weiteren Demos in 80 argentinischen Städten, war es auch der Beginn einer Massenbewegung, die sich wie ein Lauffeuer in Lateinamerika und weiteren Ländern ausbreitete. Mehr als 500.000 Menschen kamen am 13. August 2016 in Lima, Peru zusammen, um den Protest auf die Straße zu tragen.

Die peruanische Bewegung von Ni una menos machte in einem Spot deutlich, wogegen sie demonstrieren. Ihr Protest richtet sich u.a. "gegen die Männer, die einen beschimpfen und schlagen und im Anschluss sagen, dass sie einen lieben; gegen den Ehemann, der das Geld versteckt und seine Frau erniedrigt; der ihr Beinamen gibt und die Frau Glauben macht, dass sie nichts wert sei. Sie sagen STOPP zum Reggaeton, der einem sagt, dass er es einem hart besorgen wird, auch wenn man es nicht möchte. Es ist die Verantwortung aller, die Femizide zu stoppen", sagen sie.


Die wirtschaftliche Dimension der Geschlechterungerechtigkeit

Am 19. Oktober 2016 waren es neben Ni una menos 50 weitere Organisationen, die in Argentinien nicht nur erneut demonstrierten, sondern auch einen Streik der Frauen an allen Arbeitsplätzen ausriefen. Die Aktivistin Marta Dillon erzählt, dass sich die machistische Gewalt am extremsten in der Form der femicidios ausdrückt, sich aber auch in den sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zeigt.

Die prekärsten Arbeiten werden von Frauen ausgeführt, die durchschnittlich 27 Prozent weniger als Männer für die gleiche Arbeit verdienen. Diese wirtschaftlichen Bedingungen führen dazu, dass die Frauen der machistischen Gewalt stärker ausgeliefert sind. Denn wenn eine Frau NEIN sagt, muss sie dieses NEIN auch mit ihren eigenen Mitteln aufrechterhalten können und zwar außerhalb der Gewaltspirale. Deswegen ist eine umfassende Gleichstellung zwischen Frauen und Männern dringend nötig.

Nach dem Streik wird demonstriert. Von der Bühne in Buenos Aires kommen klare Statements, dass die Frauen es nicht hinnehmen, dass ein NEIN zu einem Mann im Extremfall zum Tod führt. Sie akzeptieren nicht, dass man sich ständig bedroht fühlt und sich selbst disziplinieren muss und die Medien vermitteln, dass die Frauen Schuld haben, wenn sie allein ausgehen und am nächsten Tag tot sind.

Es sind sehr viele Frauen zusammen gekommen. Gegen die Angst, die Männer den Frauen machen wollen und die Wut, die ihre Gewalt auslöst, mobilisieren sie sich. Sie streiken, demonstrieren und rufen: Nicht eine weniger, wir wollen sie lebendig! NI UNA MENOS. VIVAS LAS QUEREMOS!

Zu diesem Artikel gibt es bei onda einen Audiobeitrag:
https://www.npla.de/podcast/frauenmorde-in-lateinamerika-ni-una-menos-vivas-las-queremos/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/femizide-in-lateinamerika-ni-una-menos-vivas-las-queremos/


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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2016

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