Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → SOZIALES


FRAUEN/676: Kolumbien - Kein Friede ohne Frauen (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 138, 4/16

Kein Friede ohne Frauen

Wie sich Frauenorganisationen am Friedensprozess in Kolumbien beteiligen

von Caroline Haidacher


Mehr als fünf Jahrzehnte tobte in Kolumbien ein blutiger Konflikt. Im September schien der endgültige Friede zum Greifen nah - doch die Bevölkerung sagte nein. Das Thema Geschlecht spielte dabei eine wesentliche Rolle.


Erst große Euphorie, dann Katerstimmung: Am 26. September hatten die kolumbianische Regierung und die linksgerichteten FARC-Rebell_innen in einer feierlichen Zeremonie das mühsam ausverhandelte Friedensabkommen unterzeichnet. Doch eine Woche später, am 2. Oktober, ließ ausgerechnet die Bevölkerung den Deal platzen: Mit minimalem Vorsprung gewannen die Gegner_innen des Friedensvertrages die Abstimmung. Aus der Traum vom Frieden - zumindest vorläufig.


Mehr als 50 Jahre bewaffneter Konflikt

220.000 Tote - 80 % davon Zivilist_innen - mehr als sechs Millionen Binnenvertriebene, 25.000 Vermisste, fast 2.000 Massaker: grausame Verbrechen, die von allen Konfliktparteien - linken Guerillas, rechten Paramilitärs und staatlichen Militärs - seit 1958 verübt wurden. Mehr als die Hälfte aller Opfer sind laut UN Women Colombia Frauen. Sexuelle Gewalt ist ein weit verbreitetes Kriegswerkzeug - 89 % der Betroffenen sind, wenig verwunderlich, weiblich. Aber auch Vertreibungen, Drohungen oder Ermordungen treffen in vielen Fällen Frauen. Von 682 Angriffen auf Menschenrechtsverteidiger_innen galten 310 im Jahr 2015 Frauen.

"Die bewaffneten Akteure_innen benutzen die Frauen, um die Communities zu spalten", weiß Belen Sanz, Landesdirektorin von UN Women Colombia. "Frauen sind nicht nur als Individuen Opfer von Angriffen, sondern es sind zugleich Angriffe auf die Strukturen der Communities, auf die Familien". Dies betreffe vor allem vertriebene Frauen - denn die ganze Bürde des gewaltsamen Ortswechsels lastet auf ihrem Rücken. "Sie müssen sich um Kinder und ältere Familienangehörige kümmern, Geld auftreiben und oftmals den verletzten Ehemann versorgen - falls er überhaupt noch lebt", erzählt Marina Gallego, Koordinatorin der Frauen-Friedensbewegung Ruta Pacífica.


Frauen als aktive Gestalterinnen des Friedens

Seit über 20 Jahren mobilisiert die Ruta Pacífica (deutsch: Friedenspfad) für den Frieden in ganz Kolumbien. Die feministische Bewegung setzt sich aus mehreren Basis-Frauenorganisationen zusammen, die gemeinsam mit Aktionen gegen den Krieg und das Vergessen kämpfen. Laut Marina Gallego findet das Patriarchat im bewaffneten Konflikt seinen maximalen Ausdruck, mit kriegsartigen Zuständen steige auch die Bereitschaft zur Gewalt gegen Frauen. Die aktive Teilnahme von Frauen am Friedensprozess ist für sie daher entscheidend.

Als im Jahr 2012 die offiziellen Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC-Rebell_innen begannen, bestand die Verhandlungsrunde hauptsächlich aus Männern. Die Frauenorganisationen machten Druck - und erreichten schließlich, dass man sowohl auf Seiten der Regierung als auch auf Seiten der FARC Frauen an den Verhandlungstisch holte. "Ein Friedensprozess, der eine Hälfte der Bevölkerung ausschließt, ist wertlos. Wenn die Perspektive der Frauen ausgeklammert bleibt, dreht sich die Gewaltspirale weiter. Deswegen haben wir uns eingemischt und gefordert, dass Frauenrechte einen prominenten Platz im Friedensabkommen einnehmen. Das haben wir erreicht, und darauf sind wir sehr stolz", so Marina Gallego.


Ein außergewöhnlicher Friedensprozess

Die Gründung einer Gender-Unterkommission sollte sich mit den zentralen Forderungen von Frauen und Angehörigen der LGBT-Communities auseinandersetzen - wie beispielsweise Garantie auf eigenes Land für Bäuerinnen, politische Partizipation von Frauen in der Postkonfliktära, gerechte Reparationszahlungen für Opfer sexualisierter Gewalt. Außerdem wollte sie auf die besondere Situation demobilisierter FARC-Kämpferinnen eingehen, denen eine sichere Rückkehr und Wiedereingliederung in die Gesellschaft garantiert werden sollte. Im Juli dieses Jahres erzielten die Friedensdelegierten schließlich eine historische Grundsatzeinigung in Geschlechterfragen: Damit wurde festgelegt, dass Frauen und Angehörigen sexueller Minderheiten besondere Rechte zugesprochen werden sollten.


Zündstoff "Gender"

Genau dieser Aspekt entwickelte sich jedoch zum Angriffspunkt für die Gegner_innen des Friedensabkommens. Im August - also einen Monat vor Abschluss der Friedensverhandlungen - war in Kolumbien eine glühende Debatte über die sogenannte "Gender-Ideologie" entfacht, nachdem vom Bildungsministerium eine Broschüre über inklusive Sexualität für Schüler_innen herausgebracht worden war. Die Nachwehen dieser Debatte waren kurz vor dem Referendum noch zu spüren, sodass die Nein-Kampagne unter Ex-Präsident Alvaro Uribe das Thema aufgriff und in sozialen Netzwerken gezielt Ängste schürte: Das Abkommen ziele darauf ab, die traditionelle Familie zu zerstören.

Auch evangelikale Glaubensgruppen und Freikirchen, die in einigen Regionen Kolumbiens verhältnismäßig einflussreich sind, sprangen auf den Zug auf und wetterten gegen die "Gender-Ideologie" und die angeblichen Pläne, die Kategorien Mann und Frau abzuschaffen. Sie stießen sich daran, dass die Begriffe "sexuelle Orientierung" und "Genderfokus" zu oft in dem 297-seitigen Dokument vorkämen.

Dass einige der Anführer_innen der Nein-Kampagne mächtige Großgrundbesitzer_innen sind und jahrzehntelang vom Bürgerkrieg in Kolumbien profitiert hatten, rückte dabei in den Hintergrund. Der Friedensvertrag hätte nämlich vorgesehen, dass sie geraubtes Territorium zurückgeben müssten - ihr Interesse, den Vertrag zu verhindern, war also offenkundig nicht nur in der Sorge um das Wohl Kolumbiens begründet, wie sie offiziell bekundeten.


Forderung nach Inklusion auch im neuen Friedensvertrag

Die Friedensvertrag wurde - in Zusammenarbeit mit den Vertreter_innen der "Nein"-Kampagne - rasch überarbeitet. Noch im Oktober fanden sich die Delegierten wieder am Verhandlungstisch ein, um das Abkommen neu zu diskutieren. Diesmal mit dabei: Vertreter_innen der Freikirchen. Diese trafen sich unter Ausschluss der Medien mit ranghohen FARC-Mitgliedern, um über den "Genderfokus" zu verhandeln. Die Sorge unter Frauen- und LGBT-Organisationen war groß, dass bereits erkämpfte Punkte wieder aus dem Vertrag gestrichen würden. Doch auch diesmal mischten sie sich ein: Mehr als 70 Organisationen verfassten und unterschrieben ein gemeinsames Dokument, in dem sie ihre Forderungen nach Inklusion, Gerechtigkeit und Aufarbeitung unter Berücksichtigung der Genderaspekte erneuerten. Am 24. November schließlich wurde ein neues Abkommen unterzeichnet, das auch von den Frauen- und LGBT-Organisationen unterstützt und mitgetragen wurde.

Für Marina Gallego von der Ruta Pacífica ist jetzt die Zeit gekommen, "sich endlich den Themen zu widmen, die Länder ohne bewaffneten Konflikt auf der Agenda haben: Frauengesundheit, Schwangerschaftsabbruch und das noch immer lange nicht gelöste Problem der familiären Gewalt."


Webtipps:
ABColombia: Security of Human Rights Defenders and Communities
http://www.abcolombia.org.uk/downloads/235_Security_of_Human_Rights_Defenders_and_Communities.pdf

UN Women
http://colombia.unwomen.org/es/onu-mujeres-en-colombia/las-mujeres-en-colombia

Semana:FARC y grupos cristianos llegan a un acuerdo sobre enfoque de género
http://www.semana.com/nacion/articulo/farc-y-cristianos-llegan-a-un-acuerdo-sobre-enfoque-de-genero/502697

Zur Autorin: Caroline Haidacher arbeitet als Journalistin beim ORF und bereiste Kolumbien kurz vor Abschluss der Friedensverhandlungen. Sie lebt in Wien.

*

Quelle:
Frauensolidarität Nr. 138, 4/2016, S. 32-33
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang