Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

INTERNATIONAL/072: Somalia - Piraterie belebt Wirtschaft, lukrative Alternativen gefordert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Januar 2012

Somalia: Piraterie belebt Wirtschaft - Lukrative Alternativen für Bevölkerung gefordert

von Jerome Mwanda


Nairobi, 18. Januar (IPS/IDN*) - "Nicht drei Personen teilen sich eine Million Dollar - es sind eher 300", erklärt der somalische Piratenanführer Abshir Boyah, als er gefragt wird, wie sein Clan mit den hohen Lösegeldern umgeht, die er sich durch das Kapern von Schiffen verschafft. Mohamed Abdi, der mit seinen Leuten ebenfalls Frachter überfällt, kann über die Drohung der Vereinten Nationen, das Vermögen von Piraten im Ausland einzufrieren, nur lachen. "Welches Vermögen?", fragt er.

Beide Reaktionen lassen darauf schließen, dass die Piraterie am Horn von Afrika keineswegs Einzelpersonen bereichert, wie gern behauptet wird. In der Region ist die Kultur des Teilens tief verwurzelt. Nicht zufällig besagt ein bekanntes Sprichwort, dass "ein Mann, der 100 Ziegen besitzt und dessen Verwandte nichts haben, arm ist".

Laut einer am 12. Januar veröffentlichten Studie des britischen 'Royal Institute of International Affairs' ist es in dem autonomen Teilstaat Puntland im Nordosten Somalias üblich, seine Besitztümer mit verstreut lebenden Mitgliedern des eigenen Clans zu teilen. Mit dieser Strategie versuchten die Menschen Risiken zu mindern, da regelmäßig ganze Herden durch Dürren oder Kriege vernichtet würden, heißt es in dem Bericht 'Treasure Mapped: Using Satellite Imagery to Track the Development Effects of Somali Piracy',


Lösegelder in dreistelliger Millionenhöhe

Die Autorin Anja Shortland wertete Nachtlicht-Fotos und hochauflösende Satellitenbilder aus, um festzustellen, wie sich die Piraterie auf die somalische Wirtschaft auswirkt und wer von den Lösegeldern profitiert. Die gesamten Kosten der Piraterie vor dem Horn von Afrika einschließlich der Maßnahmen zur Verhinderung von Überfällen wurden 2010 auf sieben bis zwölf Milliarden US-Dollar geschätzt. Lösegelder könnten demnach etwa 250 Millionen Dollar ausgemacht haben.

Nach den Erkenntnissen von Shortland, die an der Universität von Brunei tätig ist, bringen die Seeräuber das erpresste Geld vor allem in die großen Städten Garowe und Bosasso. Die kleinen Küstengemeinden, die den Piraten als Stützpunkte dienen, haben ökonomisch gesehen kaum etwas davon.

Insgesamt betrachtet haben die Schiffsüberfälle für die somalische Wirtschaft so positive Folgen, dass eine Militärstrategie gegen die Piraten der Entwicklung des Landes erheblich schaden könnte. Die Dörfer, die Piraten beherbergen, ohne von ihnen zu profitieren, wären wohl am ehesten zu einer gütlichen Einigung bereit.

"Eine Verhandlungslösung für das Piratenproblem sollte darauf abzielen, den enttäuschten Bewohnern der Küstenorte Alternativen zu bieten, die ihnen mehr einbringen als die Beherbergung von Seeräubern. Ein Militärschlag würde hingegen einem der ärmsten Länder der Welt eine wichtige Einnahmequelle nehmen und die Armut vergrößern", schreibt Shortland.

Mit einem geschätzten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von weniger 300 Dollar jährlich gehört Somalia weltweit zu den Schlusslichtern. Ein Viertel der Bevölkerung ist abhängig von Lebensmittelhilfen des Welternährungsprogramms WFP. Den Großteil seiner Einnahmen erwirtschaftet der ostafrikanische Staat im Agrarsektor. Der Dienstleistungsbereich stützt sich vor allem auf die Telekommunikation und auf Geldtransfers von im Ausland lebenden Somaliern.

Schätzungen zufolge fließt durch Piraterie deutlich weniger Geld ins Land als durch Überweisungen von Somaliern, die ihre Heimat verlassen haben. Die in Somalia gebliebenen Familien brauchen die Unterstützung ihrer Verwandten vor allem dafür, ihre grundlegenden Haushaltsausgaben zu bestreiten.


Etwa 50 Mann an jedem Überfall beteiligt

Wie Shortland herausfand, hat die Piraterie andererseits eine beträchtliche Zahl von Arbeitsplätzen geschaffen. Neben den Crews, die Schiffe kapern, verdienen an dem Geschäft auch lokale Milizionäre, indem sie die ankernden Schiffe bewachen. An jedem Überfall sind etwa 50 Personen beteiligt. Ebenso viele werden an den Küsten als Wachposten eingesetzt. Zudem werden einige Geiseln an Land gebracht, um die Mannschaft des gekaperten Schiffs oder ausländische Truppen von Befreiungsversuchen abzuhalten.

"Da die Piraten von Lösegeldern leben, werden die Geiseln relativ gut behandelt", heißt es in der Studie. Nach Daten des Internationalen Schifffahrtsbüros (IMB), das für Kriminalität auf See zuständig ist, wurden 2010 1.016 Menschen von somalischen Piraten gekidnappt. Die Versorgung der Geiseln verschaffte lokalen Köchen und Händlern wichtige Einnahmen.

Pro Überfall erpressten Piraten 2008 Lösegelder in geschätzter Höhe zwischen 690.000 Dollar und drei Millionen Dollar. 2010 wurde dann ein Rekord von neun Millionen Dollar erreicht. Die genaue Höhe der Lösegelder bleibt allerdings meist geheim.

Die Untersuchung geht für 2008 von einer Gesamtsumme von etwa 40 Millionen Dollar und für das Folgejahr von 70 Millionen Dollar aus. Im Vergleich dazu betrug 2008 der offizielle Haushalt von Puntland 11,7 Millionen Dollar und im Jahr darauf 17,6 Millionen Dollar. An Viehexporten verdiente Somalia 2009 etwa 43 Millionen Dollar.


Piraten immer gewalttätiger

Seit Mitte 2010 gehen die Piraten wesentlich brutaler vor als früher. Aufgrund der verstärkten Präsenz von Kriegsschiffen aus mehr als 30 Nationen, die die Gewässer überwachen, ist das Kapern von Frachtern schwieriger geworden. Die Piraten versuchen daher, bei jedem Überfall maximalen Profit herauszuschlagen. Die Lösegeldverhandlungen ziehen sich immer weiter in die Länge und enden mit Zahlungen in Rekordhöhe.

Politische Beobachter vermuten zudem, dass die militante islamistische Bewegung 'Al-Shabaab' den Piraten lukrative Angebote für eine Zusammenarbeit macht. Damit wächst die Gefahr, dass die Seeräuber auch Aktivitäten von Terrorgruppen unterstützen könnten. Wie aus dem Bericht hervorgeht, laufen die Bemühungen, das Problem durch Verhandlungen mit den Küstengemeinden zu lösen, daher auf Hochtouren. (Ende/IPS/ck/2012)


* Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland unter dem Dach von GlobalNewsHub.Net

Links:
http://www.chathamhouse.org/sites/default/files/public/Research/Africa/0112pp_shortland.pdf
http://www.wfp.org/countries/somalia
http://www.icc-ccs.org/home/imb
http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/669-plea-for-negotiated-

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 18. Januar 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2012