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INTERNATIONAL/119: Japan - Tsunami-Überlebende bauen sich neue Existenzen auf (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Oktober 2012

Japan: Leid in Stärke verwandeln - Tsunami-Überlebende bauen sich neue Existenzen auf

von Ramesh Jaura und Katsuhiro Asagiri



Sendai, Japan, 16. Oktober (IPS/IDN*) - Jung und Alt in der nordostjapanischen Region Tohoku wollen sich nicht von der Trauer über den Verlust von Verwandten, Wohnungen und Arbeit im Zuge der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe im vergangenen Jahr beherrschen lassen. Sie bringen den Wiederaufbau im Nordosten des Landes aktiv voran.

Einer von ihnen ist Kenichi Kurosawa. Seine Erlebnisse, die er mit etwa 164.000 Einwohnern der zu rund 46 Prozent durch den Tsunami überfluteten Stadt Ishinomaki teilt, sind erschütternd. Kenichi befand sich gerade auf dem Heimweg, als der Tsunami am 11. März 2011 über die Region hereinbrach. Die riesigen Wellen von bis zu zehn Metern Höhe drangen fünf Kilometer weit von der Pazifikküste ins Landesinnere vor. "Die Wellen kamen mit einer so großen Geschwindigkeit und Wucht, dass ich nicht weiterfahren konnte. Zum Glück war ich in der Nähe einer Pinie, an der ich mich festklammern und so überleben konnte", erzählt er.

"In dieser mondlosen Nacht fiel pausenlos Schnee, und ich habe die ganze Zeit gefroren", erinnert er sich. "Als es Tag wurde, zog sich das Wasser langsam zurück. Ich suchte meine Frau Kayoko. Dabei rutschte ich ständig im schwarzen Schlamm aus. Der Boden war mit Trümmern bedeckt. Der Rauch von den Bränden, die nach dem Tsunami ausgebrochen waren, und die Frustration trieben mir Tränen in die Augen. Schließlich fand ich sie. Sie lebte!"

Zehn Tage später suchte er dort, wo früher sein Haus stand, nach seinen Habseligkeiten. Plötzlich fand er seinen mit Schlamm bedeckten Bohrer, den er früher als Klempner benutzt hatte. In dem Moment, so berichtet er, habe er inmitten der Trümmer neue Hoffnung geschöpft.


'Lasst uns weitermachen, Ishinomaki!'

Kenichi wollte sich nicht unterkriegen lassen. Er stellte ein großes Schild auf, um allen mitzuteilen, dass er wieder arbeiten werde. "Zwei Freunde halfen mir dabei, in den Trümmern Holz zu finden. Wir beteten für den Wiederaufbau und schrieben die Worte 'Ganbaro! Ishinomaki' (Lasst uns weitermachen, Ishinomaki!) auf das Schild." Am 11. April 2011, genau einen Monat nach der Katastrophe, stand das zehn Meter lange Schild auf den Ruinen seines Hauses.

Mehrere japanische Zeitungen haben inzwischen Fotos von dem Schild veröffentlicht, wie Kenichi zufrieden anmerkt. Es symbolisiert den unbeugsamen Willen der Überlebenden des Erdbebens und des Tsunamis, die begonnen haben, ihre Stadt und ihre Häuser wiederaufzubauen. Damit leisten sie ihren Landsleuten Unterstützung, die noch in einem Zustand der Benommenheit leben und ihre Blicke über öde Landschaften schweifen lassen. Ich will das Leid in Stärke verwandeln", sagt Kenichi. "Das ist meine Mission."

Die japanische Zeitung 'Seikyo Shimbun' hat über Initiativen mehrerer Mitglieder der buddhistischen Organisation 'Soka Gakkai' (SG) berichtet, die in Tohoku und den anderen Katastrophengebieten Menschen dabei helfen, sich eine neue Existenz zu schaffen. Die Organisation hat enorme Finanzmittel und viele Helfer aufgeboten, um unmittelbar nach der Katastrophe den Wiederaufbau zu unterstützen. Sie stellte Unterkünfte für Opfer bereit, verteilte Lebensmittel und andere Hilfsgüter, suchte nach Vermissten und brachte Mitglieder, Nachbarn und Freunde in Sicherheit.

Vor allem die jüngeren SG-Mitglieder bildeten in dem betroffenen Gebiet spontan Freiwilligentrupps. Studenten organisierten Ende Juli 2011 in Sendai das Musikfestival 'Rock the Heart' und sandten damit eine Botschaft der Hoffnung an die zahlreiche Evakuierten, die in Notunterkünften lebten und mit den Folgen des Bebens und des Tsunamis zu kämpfen hatten.

Jazz-Legende Herbie Hancock und der brasilianische Pianist José Carlos Amaral Vieira schickten Grußbotschaften an die Mitwirkenden. Hancock bot all denjenigen, die Verwandte verloren hatten und deren Existenz durch die Katastrophe gefährdet worden war, seine Unterstützung an. Die Musik habe die Macht, die Menschen dazu zu inspirieren, mutig voranzuschreiten und die Schwierigkeiten zu überwinden, sagte er.


Millionen Tonnen Schutt müssen geräumt werden

Im Rahmen eines Projekts zur Schutträumung im Distrikt Ishinomaki, das am 17. September 2011 begann, engagieren sich Ingenieure des Ministeriums für Infrastruktur und Tourismus. Bis März 2014 sollen etwa zwei Millionen Kubikmeter des von dem Tsunami angespülten Sedimentgesteins sowie zwei Millionen Tonnen Trümmer beseitigt werden.

Die Kosten des Projekts, das stellvertretend für weitere Hilfsaktionen in der Nähe von Sendai steht, werden auf 148,2 Milliarden Yen (185,25 Millionen Dollar) geschätzt. "So hoch diese Zahlen sein mögen und so groß die Anstrengungen zur Schuttbeseitigung sind, sie kommen nicht dem Ausmaß des menschlichen Leids nahe. Mehr als 5.000 Einwohner von Ishinomaki sind umgekommen und nichts ist mehr wie es war", sagt John Trotti von dem in den USA erscheinenden 'Grading and Excavation Contractor Magazine'.

In Sendai fanden sich vom 9. bis 10. Oktober Finanz- und Entwicklungsminister aus aller Welt zu einem Dialog zusammen, der gemeinsam von der japanischen Regierung und der Weltbank im Vorfeld der Jahrestagungen von IWF und Weltbank in Tokio organisiert worden war.


Katastrophenprävention soll weltweit verbessert werden

Mit den Strategen der Weltpolitik forderten die Organisatoren des Treffens größere Anstrengungen, um das Katastrophenmanagement in die nationale Entwicklungsplanung und die internationale Entwicklungshilfe zu integrieren. In einer gemeinsamen Erklärung drängten sie Regierungen und Entwicklungspartner dazu, ihre Bemühungen um einen proaktiven Umgang mit Katastrophenrisiken zu beschleunigen, indem sie das Katastrophenrisikomanagement in alle entwicklungspolitischen Strategien und Investitionsprogramme integrieren.

"Wir benötigen eine Kultur der Prävention", sagte der Präsident der Weltbankgruppe, Jim Young Kim. "Kein Land kann sich vollständig vor Katastrophenrisiken schützen, doch jedes Land kann seine Anfälligkeit dafür reduzieren. Bessere Planung kann dabei helfen, den Schaden und den Verlust von Menschenleben durch Katastrophen gering zu halten. Prävention kann weit weniger kosten als Katastrophenhilfe."

Die direkten wirtschaftlichen Kosten der Erdbeben- und Tsunamikatastrophen werden auf 16,9 Billionen Yen beziehungsweise 210 Milliarden US-Dollar geschätzt. Japanische Küstengebiete sind auf einer Länge von 650 Kilometern zerstört worden. Viele Städte und Dörfer verschwanden im Meer, etwa 20.000 Menschen starben oder werden vermisst.

Der japanische Finanzminister Koriki Jojima äußerte die Hoffnung, dass die "Lektionen aus dem seit langem in Japan etablierten Katastrophenmanagement sowie aus dem großen Erdbeben im Osten des Landes und dem Wiederaufbau auf globaler Ebene weitergegeben werden können". Der Sendai-Dialog werde dabei helfen, einen Konsens zu erreichen, der auf der Notwendigkeit basiert, dem Katastrophenrisikomanagement in allen Bereichen des Entwicklungsprozesses eine wichtige Position zukommen zu lassen. (Ende/IPS/IDN/ck/2012)

* Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland unter dem Dach von GlobalNewsHub.Net.

Der vorliegende Beitrag von IDN und IPS-Japan entstand während einer von 'Soka Gakkai' (SG) organisierten Reise Ende September.


Links:

http://www.gfdrr.org/gfdrr/sendai
http://www.imf.org/external/am/2012/
http://www.sgi.org/
http://www.seikyoonline.jp/
http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/1198-japan-braving-the-q

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. Oktober 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2012