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JUGEND/307: Hilfe statt Nothilfe (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101

Hilfe statt Nothilfe
Das Aufgabenspektrum der Kinder- und Jugendhilfe hat sich stark gewandelt und wächst rapide. Um das System für die Zukunft zu rüsten, müssen strukturelle Barrieren fallen.

von Wolfgang Trede



Eine der zentralen Thesen des 14. Kinder- und Jugendberichts lautet, dass die Kinder- und Jugendhilfe in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Damit ist zweierlei gemeint: Zum einen werden die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe - von der Kindertagesbetreuung über Beratungs- und Bildungsangebote für Familien und die Jugend(sozial)arbeit bis zu den erzieherischen Hilfen - quantitativ immer stärker und selbstverständlicher von jungen Menschen und Familien benötigt und genutzt. Zum anderen sind die Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe unschärfer geworden. Sie vermengt sich zunehmend mit benachbarten Bereichen wie etwa dem Gesundheitswesen und der Schule. Dabei werden zugleich Handlungsmaximen und Methoden der Kinder- und Jugendhilfe von anderen Institutionen übernommen. Aus dieser Entwicklung erwächst für die Kinder- und Jugendhilfe eine neue Verantwortung sowohl mit Blick auf ihren gesellschaftlichen Nutzen im Sinne einer empirisch bedeutsamen Sozialisations- und Bildungsinstanz als auch hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Angebote.


Die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nehmen zu

Seit Mitte der 1990er-Jahre haben sich fast alle Leistungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe stark ausgeweitet. Die Kindertagesbetreuung in Einrichtungen und Tagespflege ist das mit Abstand größte Aufgabengebiet der Kinder- und Jugendhilfe. Im Jahr 2012 wurden durch diese Angebote 93,4 Prozent aller drei- bis fünfjährigen Kinder in Deutschland erreicht. Besonders stark angewachsen ist zudem das Angebot für unter Dreijährige. Dies geschah insbesondere vor dem Hintergrund, dass im August 2013 der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr in Kraft tritt.

Laut Statistischem Bundesamt wurden im März 2012 in Westdeutschland (ohne Berlin) 22,3 Prozent der unter Dreijährigen, in Ostdeutschland (ohne Berlin) 51,5 Prozent dieser Altersgruppe, in einer Einrichtung oder in der Kindertagespflege betreut. Gleichzeitig steigt die Inanspruchnahme von ganztägigen Angeboten für Kinder unter drei Jahren sowie für die Altersgruppe »3 Jahre bis zum Schuleintritt«. In den vergangenen rund zehn Jahren fand in den Kindertageseinrichtungen ein Qualifizierungsschub durch die Einführung von Bildungs- beziehungsweise Orientierungsplänen statt. Dies geschah vor dem Hintergrund einer deutlich gewachsenen gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für die frühkindliche Bildung.

Innerhalb von wenigen Jahren hat sich darüber hinaus ein weiteres neues Leistungsfeld vom Modellprojekt zu einem gesetzlich geregelten, flächendeckenden Programm entwickelt: Die sogenannten Frühen Hilfen reichen von der frühzeitigen Information und Unterstützung aller Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern durch ehrenamtliche »Familienbesucher« bis hin zur Realisierung eines frühen Schutzauftrages bei drohender Gefährdung des Kindeswohls. Verbunden mit dem politischen Ziel einer guten Unterstützung der Eltern »von Anfang an« lassen sich zudem verstärkte Aktivitäten im Bereich der Eltern- und Familienbildung feststellen (zum Beispiel in landesweiten Programmen in Baden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen).

»Hilfen zur Erziehung« wie etwa die soziale Gruppenarbeit oder die Unterbringung in Heimen sowie verwandte Leistungen werden seit Anfang der 1990er-Jahre ebenfalls verstärkt in Anspruch genommen - mit einem Anstieg von 218.000 Hilfen im Jahr 1995 auf 370.000 im Jahr 2010 (jeweils ohne Erziehungsberatung). Rechnet man die rund 315.000 Erziehungsberatungsfälle hinzu, so werden heute immerhin bis zu 6 Prozent der Jugendbevölkerung von einer erzieherischen Hilfe erreicht. Auch wenn dieses Leistungsfeld oft noch das Image hat, eine Nothilfe für Problemfamilien zu sein, werden die Angebote tatsächlich zunehmend selbstverständlich von breiteren Bevölkerungsschichten genutzt. Seit dem Jahr 2005 nehmen immer mehr Familien diese Angebote in Anspruch, wie sich am deutlichsten bei den familienbezogenen Erziehungshilfen zeigt. Mit familienbezogenen Erziehungshilfen sollen Eltern beziehungsweise Alleinerziehende mit ambulanten Hilfen in der Kindererziehung, in der Versorgung des Haushalts und bei finanziellen Problemen unterstützt werden. Die Familien werden intensiv beraten und über einen längeren Zeitraum begleitet.

Auch die stationären Hilfeformen wie etwa Heimerziehung oder Pflegekinderhilfe haben zwischen 2005 und 2010 deutlich zugelegt von 59.400 auf knapp 74.000 Unterbringungen bei Pflegefamilien und von 86.000 auf 95.000 in Heimen im Jahr 2010. Es ist offenkundig, dass sich der Unterstützungsbedarf von jungen Menschen und Familien in den vergangenen 20 Jahren deutlich erhöht hat und die Gesellschaft gleichzeitig - ausgelöst durch politisch und medial stark diskutierte Fälle von zu Tode gekommenen Kindern - achtsamer gegenüber Vernachlässigungen und Misshandlungen von Kindern agiert. Die Kinder-und Jugendhilfe hat von dieser Entwicklung profitiert. Durch gesetzliche Veränderungen ist ihr Kontroll- und Schutzauftrag stärker in das Blickfeld gerückt worden.



Der moderne Wohlfahrtsstaat unterstützt Eltern - kontrolliert sie aber auch

Durch die konzeptionellen Veränderungen in der Kinder- und Jugendhilfe fokussiert sie immer stärker auf die ganze Familie. Der moderne Wohlfahrtsstaat will damit nicht nur Erziehungs- und Betreuungsarbeit übernehmen und Familien mit Problemen entlasten; er fordert gleichzeitig von den Eltern, Kinder möglichst optimal zu fördern. Der Wohlfahrtsstaat, der stärker als bisher auf Beeinträchtigungen des Kindeswohls achtet, ist gegenüber Erziehungsleistungen von Eltern zunehmend skeptisch eingestellt. Einerseits fördert er Elternkurse, frühe Hilfen sowie Bildung, Betreuung und Erziehung in der öffentlichen Kindertagesbetreuung. Andererseits kontrolliert er aber auch die private Erziehung durch Vorsorgeuntersuchungen und Sprachstandserhebungen sowie durch ein dichteres Netz an erzieherischen Hilfen.

Die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe und die Fachkräfte sind heute verstärkt auf arbeitsfeldübergreifende Kooperationen angewiesen. Kinder- und Jugendhilfe findet zunehmend in Netzwerken statt, ob es sich um das neue Leistungsfeld der Frühen Hilfen, um die Kindertagesbetreuung, die Hilfen zur Erziehung oder die Jugendsozialarbeit handelt. Ohne verbindliche Vernetzung mit Vertretern aus anderen Aufgabengebieten der Kinder- und Jugendhilfe, aus dem Gesundheitswesen, aus den Schulen, der Eingliederungshilfe oder der Arbeitsverwaltung - kurz: ohne ein Denken über Zuständigkeitsgrenzen hinaus - lässt sich effektive Hilfe kaum verwirklichen. Es entstehen als ein weiteres Charakteristikum moderner Kinder- und Jugendhilfe hybride Angebote, also Verschränkungen und neue Mischungsformen zwischen klassischen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und denen anderer Akteure im Bereich der Betreuung, Erziehung und Bildung. Ein Beispiel dafür sind die Eltern-Kind-Zentren, die sich an der Schnittstelle von Kindertagesbetreuung, Familienbildung und Familienhilfe bewegen und sich als lokale Dienstleistungszentren für Kinder und Familien verstehen. Enge Kooperationen sind auch im Zusammenhang mit Ganztagsschulen und den vielfältigen Aktivitäten während der Übergangszeit von der Schule zum Beruf notwendig, was erhebliche Herausforderungen für das Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe mit sich bringt.




Die Ausweitung des Angebots erfordert inklusive Konzepte

Die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe werden trotz des demografisch bedingten Rückgangs der Population der Kinder und Jugendlichen auch in den nächsten zehn Jahren zunehmen. Der bedarfsgerechte Ausbau der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige wird in den Jahren nach 2013 weiterhin erhebliche fachliche und finanzielle Anstrengungen erfordern, wobei besonders auf die Verbesserung der Betreuungsqualität geachtet werden muss. Ebenso steht der Ausbau von qualitativ guten Betreuungsangeboten für Schulkinder im Alter von 6 bis 14 Jahren an. Der politisch angestrebte weitere Ausbau von Ganztagsschulen wird nicht ohne die Mitwirkung der Kinder- und Jugendhilfe gelingen. Nach Auffassung des Soziologen Matthias Schilling ist auch im Bereich der »Hilfen zur Erziehung« nicht von einem nennenswerten Rückgang des Bedarfs auszugehen (Schilling 2013).

Die örtliche Gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe wird vor dem Hintergrund der finanziellen Probleme vieler Kommunen in Deutschland eine große Herausforderung darstellen. Benötigt werden dafür klar erkennbare und fachlich starke Jugendämter als Kompetenzzentren vor Ort. Die Kinder- und Jugendhilfe muss hierfür stärker als bisher die Wirksamkeit ihres Handelns nachweisen und kontinuierliche Evaluation ermöglichen. In diesem Gestaltungsprozess ist sie - auch wenn die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und freien Trägern angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen vielerorts anstrengend geworden ist - auf ein produktives Miteinander des Jugendamts mit den freien Trägern angewiesen. Dies gelingt nur dann, wenn öffentliche Träger ihrer Steuerungsverantwortung nachkommen, ohne ihre Kooperationspartner zu bevormunden.

Angesichts des starken Ausbaus der Kinder- und Jugendhilfe und der Zunahme der Ganztagsschulen werden schließlich zukünftig deutlich engere Verknüpfungen zwischen Sonder- und Regelhilfen erforderlich sein. Letztlich geht es dabei um die Frage, wie die Regelangebote der Kinder- und Jugendhilfe und der Schulen »inklusiver« konzipiert werden können. Inklusive Strukturen sollen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung die selbstverständliche Teilhabe an allen kulturellen, sozialen und bildenden Angeboten ermöglichen. Die Besonderheiten einer Behinderung oder Krankheit begründen somit keine separate Förderung mehr.


DER AUTOR

Wolfgang Trede ist seit zehn Jahren Leiter des Amtes für Jugend und Bildung des Landkreises Böblingen. Zuvor war der Diplom-Pädagoge langjähriger Geschäftsführer der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH).
Kontakt: w.trede@lrabb.de


LITERATUR

DEUTSCHER BUNDESTAG (2013): Der 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen und Bestrebungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/12200. Im Internet verfügbar unter
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/122/1712200.pdf
(Zugriff: 8.3.2013)

SCHILLING, MATTHIAS (2013): Welche Auswirkungen haben die demografischen Veränderungen auf die Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe? Expertise im Rahmen des 14. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung. Unveröffentlichtes Manuskript. Erscheint unter
www.dji.de/14_kjb

DJI Impulse 1/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101, S. 7-9
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2013