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JUGEND/315: Flüchtlingskinder besser verstehen - "Die transnationale Biografiearbeit" (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

Flüchtlingskinder besser verstehen: "Die transnationale Biografiearbeit"

Von Caroline Schmitt und Hans Günther Homfeldt



Junge Flüchtlinge haben oft traumatisierende Erfahrungen gemacht. Um sie angemessen betreuen zu können, ist hilfreich, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialen Arbeit dafür sensibilisiert sind. Die Methode der "transnationalen Biografiearbeit" dient als Herangehensweise im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen, soll aber auch strukturelle Missstände in den Blick nehmen.


Die Gründe, warum minderjährige Flüchtlinge unbegleitet aus ihren Herkunftsländern fliehen, sind vielfältig: Manche flüchten vor Bürgerkriegen, andere vor sexueller Ausbeutung oder weil sie Angst haben, als Kindersoldaten rekrutiert zu werden. Weitere Motive sind die politische Verfolgung der Eltern, die eingesperrt oder getötet wurden. Aber auch die Folgen von Naturkatastrophen sind nicht selten ein Grund, das Herkunftsland zu verlassen.

In Deutschland kommen zunehmend Flüchtlingskinder an. Genaue Statistiken dazu gibt es nicht. Ein Anhaltspunkt ist die Anzahl der sogenannten Inobhutnahmen durch die Jugendämter: Im Jahr 2012 wurden 40.227 Inobhutnahmen durchgeführt, darauf entfielen immerhin 4.767 auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Pothmann 2013). Im Jahr 2011 waren es 3.782 und für 2010 wurden 4.216 erfasst. Die meisten Kinder und Jugendlichen flohen aus Afghanistan, Syrien, Somalia und dem Irak nach Deutschland (Hummitzsch 2013).

Mit der staatlichen Inobhutnahme allein wird man den schwierigen Lebenssituationen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nicht gerecht. Deshalb ist die als transnationale Biografiearbeit bezeichnete "Betreuungsarbeit" besonders wichtig. Sie hat das Ziel, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Sozialen Arbeit und in anderen Institutionen ein besseres Verständnis für die Situation der Kinder und Jugendlichen zu vermitteln (Parusel 2009). Die jungen Menschen haben häufig Familienangehörige und Freunde verloren, sind traumatisiert und befinden sich in einem fremden Umfeld. Diese schwierige Lebenssituation müsste mit einem "transnationalen Blick" auf die kindlichen Biografien bearbeitet werden. Gleichzeitig sollten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialen Arbeit auf strukturelle Missstände aufmerksam machen (Homfeldt/Schmitt 2012). Der Sozialen (Flüchtlings-)Arbeit kommt somit auch eine politische Aufgabe zu.


Flüchtlingskinder haben nicht nur besondere Probleme, sondern auch besondere Fähigkeiten

Die nach Deutschland geflohenen Kinder und Jugendlichen haben traumatisierende Ereignisse wie den Verlust von Familienangehörigen und die Flucht über Ländergrenzen hinter sich gebracht. Aus diesem Grund ist es nach ihrer Flucht besonders wichtig, dass sie stabile Bindungen zu Bezugspersonen und konstante liebevolle Zuwendung erfahren. Diese Diskrepanz von belastenden Erfahrungen und einer für die Entwicklung von Kindern notwendigen Stabilität des Lebensumfelds erfordert von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Sozialen Arbeit und in den psychotherapeutischen Einrichtungen, von Polizeibeamtinnen und -beamten sowie von den als Vormund eingesetzten Frauen und Männern eine besondere Sensibilität für die Situation der Kinder.

Sie müssen auch anerkennen, dass Flüchtlingskinder keineswegs eine homogene Gruppe sind. Die betreuenden Personen und Institutionen sollten immer die jeweilige persönliche Lebenssituation der Flüchtlinge im Blick haben (Stauf 2011). Damit müssen neben der Bearbeitung von Problemen auch die Fähigkeiten und Kompetenzen dieser Kinder und Jugendlichen anerkannt werden. Diese gilt es zu stärken, ohne sie zu überschätzen. Um einem solchen Auftrag gerecht werden zu können, bedarf es einer als "transnationale Biografiearbeit" bezeichneten Methode, die die Belastungen, Hoffnungen und Wünsche der Kinder und Jugendlichen (er-)kennt und berücksichtigt. Notwendig ist eine den Empfindsamkeiten und transnationalen Sozialräumen der Heranwachsenden angepasste Trauma-Bearbeitung, die bei der Knüpfung von Kontakten in Deutschland und bei der Suche nach Angehörigen im In- und Ausland Unterstützung anbietet sowie Politik und Institutionen für strukturelle Herausforderungen in der Arbeit mit Flüchtlingskindern sensibilisiert.

Neuere Veröffentlichungen zur Trauma-Bearbeitung belegen ein wachsendes Bewusstsein der Forschung für die Belange von Flüchtlingskindern. So skizzieren die Psychotherapeutinnen Heidrun Schulze, Ulrike Loch und Silke Brigitta Gahleitner (2012) das ökologisch-dialektische Modell zur Trauma-Bewältigung (basierend auf Fischer/Riedesser 2009) und arbeiten das Zusammenwirken objektiver traumatischer Außenfaktoren mit subjektiven Bedeutungszuschreibungen heraus. Das Modell bietet wegen seines Phasenbezuges, in dem behutsam das Selbstverstehen der Kinder und Jugendlichen gefördert werden soll, ein geeignetes Gerüst für die Trauma-Arbeit mit unbegleiteten Flüchtlingskindern.

In der Trauma-Arbeit und alltagsweltlichen Unterstützung der Flüchtlingskinder besteht insgesamt, wie von der Trauma-Therapeutin Dima Zito (2010) ausgeführt, die Notwendigkeit, den gesamten transnationalen Lebenskontext der Flüchtlinge einzubeziehen. Ist es Flüchtlingskindern nicht möglich, sich verbal zu öffnen, kann die Methode des Selbstreports ein geeigneter Zugang dafür sein, sich den Deutungen und Perspektiven der Kinder zu nähern. Im Selbstreport können die Kinder frei schreiben und sehen sich keinem unmittelbaren Erzähldruck - wie beispielsweise in einer Therapie-Sitzung - ausgesetzt.


Die Suche nach Angehörigen ist ein Teil der Biografiearbeit

Während transnationale Biografiearbeit zum einen die direkte Arbeit und Aufarbeitung mit dem betreffenden Kind umfasst, sollte sie zum anderen nicht bei den gewonnenen Erkenntnissen stehen bleiben. Leiden Kinder beispielsweise unter der Trennung von Angehörigen, kann eine Aufgabe der unterstützenden Sozialarbeit darin bestehen, die Suche nach Familienmitgliedern als Teil der Biografiearbeit anzugehen. Unterstützung bei der Suche nach Familienangehörigen bieten beispielsweise der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, der Internationale Sozialdienst im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, die Regionalvertretung des UN-Flüchtlingshilfwerks UNHCR in Deutschland sowie nationale Botschaften oder Entwicklungshilfeorganisationen (Keller 2011).

Eine transnationale Biografiearbeit, die die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge mit ihrem Erleben, ihren Deutungen und Lebensperspektiven in den Mittelpunkt stellt und sich strukturell für eine Verbesserung der Lebenssituationen von Flüchtlingskindern engagiert, erfordert einen wertschätzenden Umgang mit den jungen Menschen. Es ist nötig, eine individuelle Perspektive auf den jeweiligen Lebensverlauf zu entwickeln. Die Unterstützung der Flüchtlingskinder darf nicht an nationalstaatlichen Grenzen haltmachen und sollte unter anderem die Suche nach Familienangehörigen auch in anderen Ländern als Deutschland beinhalten.


DIE AUTORIN, DER AUTOR

Caroline Schmitt, Dipl.-Pädagogin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migrantenökonomie, (Transnationale) Migration sowie Soziale Arbeit und Transnationalität.
Kontakt: schmica@uni-mainz.de

Prof. em. Dr. Hans Günther Homfeldt lehrte an der Universität Trier in der Abteilung Sozialpädagogik mit den Arbeitsschwerpunkten Internationale Soziale Arbeit, Gesundheit und Soziale Arbeit, Lebensalter und Soziale Arbeit.
Kontakt: homfeldt@uni-trier.de

LITERATUR

FISCHER, GOTTFRIED/RIEDESSER, PETER (2009): Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. aktualisierte und erweiterte Auflage. München

HOMFELDT, HANS GÜNTHER/SCHMITT, CAROLINE (2012): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - transnationale Vernetzung als Potential. In: Gahleitner, Silke Birgitta/Homfeldt, Hans Günther (Hrsg.): Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf. Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste. Weinheim/München, S. 159-183

HUMMITZSCH, THOMAS (2013): Deutschland: Mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. In: Dossier Migration. Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung. Im Internet verfügbar unter:
www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/169174/unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge

KELLER, CHRISTINE VON (2011): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland. In: Jugendhilfe, Heft 1, S. 5-14

PARUSEL, BERND (2009): Unbegleitete minderjährige Migranten in Deutschland. Aufnahme, Rückkehr und Integration (Reihe: Working Paper, Band 26 der Forschungsgruppe des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, BAMF). Nürnberg

POTHMANN, JENS (2013): Flüchtlingshilfe und Kinderschutz - aktuelle Tendenzen bei den Inobhutnahmen. In: Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe (KomDat), Heft 3, S. 13-14

SCHULZE, HEIDRUN/LOCH, ULRIKE/GAHLEITNER, SILKE BIRGITTA (Hrsg.; 2012): Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen - Plädoyer für eine psychosoziale Traumatologie. Baltmannsweiler

STAUF, EVA (2011): Zwischen Subjektorientierung und Stereotypisierungen? Der sozialpädagogische Blick auf Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen. In: Sozial Extra, Heft 9/10, S. 27-30

ZITO, DIMA (2010): Alleine konnte ich das nicht schaffen. Psychische Belastung und Therapie bei jungen Flüchtlingen. In: Dieckhoff, Petra (Hrsg.): Kinderflüchtlinge. Theoretische Grundlagen und berufliches Handeln. Wiesbaden, S. 113-123


DJI Impulse 1/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 -
Nr. 105, S. 15-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2014