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JUGEND/316: Minderjährige Flüchtlinge - Die Sprache ist der Schlüssel (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 - Nr. 105

Die Sprache ist der Schlüssel

Von Silke Bachert



Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müssen in Deutschland laut Gesetz geeignet untergebracht werden. Den Bedürfnissen der jungen Menschen gerecht zu werden, schaffen aber nicht alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Das Beispiel der Spezialeinrichtung ALREJU in Brandenburg zeigt, welche Voraussetzungen für eine gute Aufnahme und Integration junger Flüchtlinge gegeben sein müssen.


Das Jugendamt ist laut Paragraph 42 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes dazu verpflichtet, unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche in Obhut zu nehmen und gegebenenfalls nach SGB VIII geeignet unterzubringen. In häufiger betroffenen Regionen, wie beispielsweise Hessen und Bayern (durch die dortigen internationalen Flughäfen) oder Schleswig-Holstein als Transitland nach Skandinavien, lässt sich ein "geübterer Umgang" bei der Unterbringung feststellen. In durch die geografische Lage weniger frequentierten Gegenden, etwa in Sachsen-Anhalt oder im Saarland, werden die Kinder und Jugendlichen oft ohne spezielles Clearingverfahren in örtlichen Jugendhilfeeinrichtungen aufgenommen. Im Clearingverfahren stellen staatliche Stellen unter Federführung des Jugendamts zunächst fest, wie alt die Kinder und Jugendlichen sind, welchen Bildungsstand sie haben und ob sie gesund sind. Darüber hinaus wird geklärt, ob ein Asylantrag gestellt werden soll (zum Beispiel aus humanitären Gründen) und ob die jungen Menschen Familienangehörige in Deutschland oder einem anderen Staat haben, die sich eventuell um sie kümmern könnten. Auswahlkriterium für eine Aufnahme ohne Clearingverfahren sind freie Plätze und die Bereitschaft einer Einrichtung, die jungen Menschen aufzunehmen. Im folgenden Artikel soll an zwei exemplarischen Beispielen aufgezeigt werden, ob die Bedingungen in den Einrichtungen der Jugendhilfe bedürfnisgerecht sind (oder nur das Mindestmaß der gesetzlichen Vorgaben umgesetzt wird) und welche Probleme und Gefahren bei der Aufnahme junger Menschen auftreten können.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) werden häufig in nicht spezifizierte Wohngruppen aufgenommen, in denen nur Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund leben. Dieser Schritt wird häufig damit begründet, dass dadurch die Integration für die jungen Menschen leichter sei. Allerdings führt eine Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen in regionalen, stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen immer wieder zu Irritationen bei allen Beteiligten, da sich auch die dort untergebrachten einheimischen Kinder und Jugendlichen in besonderen Lebens- und Problemlagen befinden, was zu Spannungsfeldern führt. In fast allen Einrichtungen sind heute Einzel- und Zweibettzimmer Standard. Eine gemeinsame Unterbringung in Zweibettzimmern kann sich bei traumatisierten Jugendlichen positiv auswirken.

Schwierigkeiten ergeben sich häufig durch kulturelle oder religiöse Unterschiede: Ein Großteil der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland sind Muslimas und Muslime, was nicht nur beim Angebot, sondern auch bei der Aufbewahrung und Zubereitung von Speisen berücksichtigt werden muss. Eine große Schwierigkeit stellt bei jungen Flüchtlingen die Sprachbarriere dar. Viele von ihnen sprechen nur ihre Herkunftssprache oder ihren Herkunftsdialekt. Lassen sich keine Dolmetscher vor Ort finden, müssen die Betreuenden kreative Wege der Verständigung finden, beispielsweise durch Bildkärtchen.


Beispiel Elisabethheim in Havetoft: Mitarbeiter sprechen Persisch

Ein weiteres Problem stellt die Schulpflicht dar: Dafür müssen Schulen vorhanden sein, die Schülerinnen und Schüler mit mangelhaften oder fehlenden Sprachkenntnissen unterrichten können. Regionen mit einer größeren Anzahl von Inobhutnahmen sind aus diesem Grund zu spezielleren Unterbringungsformen übergegangen, die stärker auf die besonderen Bedürfnisse unbegleiteter Flüchtlinge eingehen können. Im nördlichen Schleswig-Holstein werden sie zum Beispiel seit einigen Jahren im Elisabethheim in Havetoft aufgenommen. Um eine bedarfsgerechte Unterbringung und Betreuung zu gewährleisten, wurde im Jahr 2010 dort die Schutzstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unter Leitung einer besonders geeigneten Mitarbeiterin gestellt: Sie arbeitete nach ihrem Abschluss für Interkulturelle Studien in London mehrere Jahre in Afghanistan und spricht deshalb persisch, die Muttersprache der Mehrheit der dort untergebrachten Jugendlichen.

In Havetoft leben bis zu zehn Jugendliche unter 18 Jahren auf verschiedenen Etagen in Wohngruppen. Dadurch wird eine räumliche Trennung zwischen dem Ankunftsbereich (Clearingbereich) und dem der Jugendhilfe ermöglicht. Die jungen Flüchtlinge können somit nach ihrer Ankunft zunächst ihre Situation reflektieren und zur Ruhe kommen. Der Schlüssel zu gelingender Integration ist auch hier die Sprachkompetenz. Erste Unterweisungen in deutscher Sprache finden bereits in der Einrichtung statt. Wenn Jugendliche dann ihren Willen zum Bleiben bekunden, erfolgt umgehend die Anmeldung zu Sprachkursen und zum Schulbesuch. Als schwierig erweist sich die zahlenmäßige Dominanz einzelner Nationalitäten, was das Einleben Angehöriger anderer Nationen erschwert. Trotzdem wird versucht, Verbindendes zu schaffen und ein Gruppengefühl durch gemeinsames Erleben zu vermitteln - etwa durch das Feiern eines großen gemeinsamen Festes am Ende des Fastenmonats Ramadan (Bachert 2010).


Spezialeinrichtung ALREJU: Jugendhilfe, Schulen und Vereine arbeiten eng zusammen

Ein gelungenes Beispiel der bedarfsgerechten Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen stellt die Spezialeinrichtung ALREJU ("Allein reisende Jugendliche") am Stadtrand von Fürstenwalde im Land Brandenburg dar. Sie wurde im Jahr 1993 als Modellprojekt unter Trägerschaft des Diakonischen Werks gegründet. Dort werden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unabhängig von ihrer Nationalität, Kultur oder Religion betreut. Die Einrichtung verfügt über 63 Plätze in acht Wohngruppen, betreutes Jugendwohnen für junge Volljährige und eine Clearingwohnung. In jeder Wohnung stehen zwei bis drei Zimmer, ein Bad, ein WC und eine Küche zur gemeinsamen Nutzung zur Verfügung. Pro Etage befinden sich zwei Wohnungen mit einem Gemeinschaftsraum.

Die Lebensbedingungen im ALREJU haben sich im Laufe der Jahre stetig verbessert: Es gibt Sport-, Schulungs- und Begegnungsräume, ein großes Außengelände mit einem Bolzplatz, einem Riesenschach, Tischtennisplatten sowie einem Volleyballfeld (Killisch 2010b). Seit 1993 wurden im ALREJU circa 1.500 Kinder und Jugendliche aus 64 Nationen betreut.

Nach ihrer Ankunft durchlaufen die jungen Menschen zunächst eine Clearingphase. Die Clearingstelle unterbreitet ihnen umgehend Bildungsangebote zur Vermittlung der deutschen Sprache, die reguläre Einschulung ist gegen Ende der Clearingphase vorgesehen. Die Betreuerinnen und Betreuer sprechen die Muttersprache der Neuankömmlinge (zum Beispiel Persisch oder Vietnamesisch) und können ihnen die deutsche Kultur dadurch besonders unkompliziert näher bringen. Gleichzeitig vermitteln sie den Jugendlichen lebenspraktische Kenntnisse wie Einkaufen, Kochen, den Gebrauch von Reinigungsmitteln und -geräten, Hygienestandards und Wäschepflege. Nach der Clearingphase bleiben diejenigen Flüchtlinge, die eine vollstationäre Heimunterbringung als (eine) Maßnahme der Jugendhilfe in Anspruch nehmen, auf bereits vertrautem Terrain: Sie müssen zwar in ein anderes Gebäude umziehen, bleiben aber auf dem ihnen bekannten Gelände.

Die jungen Menschen werden je nach persönlichem Wunsch, Kapazität der Gruppen, Geschlecht, Alter, Nationalität, Religion und Sprache einer Wohngruppe zugeordnet. Dabei wird versucht, kulturellen und religiösen Bedürfnissen durch gemeinsame Unterbringung gerecht zu werden. In allen Wohngruppen leben junge Menschen verschiedener Nationalitäten, die ähnlich wie in einer Familie von möglichst einer Pädagogin und einem Pädagogen betreut werden. Dadurch ergibt sich früh eine Kontinuität in der Begleitung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen. Die Betreuung erfolgt unter Beachtung der jeweiligen Religion, kulturellen Herkunft und Tradition - zum Beispiel in Bezug auf religiöse Speise- und Gebetsvorschriften, aber auch dadurch, dass etwa Musik und Tänze der Herkunftsländer gepflegt werden. Schwerpunkte bilden die Persönlichkeitsbildung, die Stärkung der Sozial- und Sprachkompetenz und die Verselbstständigung der Jugendlichen (Killisch 2010a). Große Bedeutung wird der schulischen Bildung als wirkungsvollem Integrationsinstrument zugemessen. Die Jugendlichen besuchen eine Schule in Finsterwalde, wo sie entsprechend ihres Leistungsniveaus in drei Lerngruppen unterrichtet werden, bevor sie die entsprechende Regelklasse besuchen. Bis zum Alter von zwölf Jahren werden die Kinder in der zuständigen Grundschule eingeschult.

Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt die Freizeitgestaltung, um die Isolation der Kinder und Jugendlichen zu minimieren. Dabei werden sowohl verschiedene Angebote in der Einrichtung als auch Aktivitäten in örtlichen Vereinen zur Verfügung gestellt. Durch die Bündelung von Angeboten wie Clearing, Wohngruppe und betreutem Wohnen sowie der ausgebauten Vernetzung mit regionalen Partnern wie Ämtern, Behörden, Sprachmittlern, Ärzten und Therapeuten, Vereinen und Bildungsträgern ist es in Finsterwalde gelungen, ein bedürfnisorientiertes Konzept zu schaffen. Sicher gibt es auch Schwierigkeiten, wie zum Beispiel die räumliche Nähe bei der Unterbringung Angehöriger unterschiedlicher, sich manchmal feindlich gegenüberstehender Religionen oder Volksgruppen oder das Fehlen geeigneter Anschlusskonzepte. Dennoch verfolgt ALREJU einen gelungenen Ansatz, der beispielgebend für andere Bundesländer sein könnte.


DIE AUTORIN

Silke Bachert ist Sozialpädagogin im Sozialpsychiatrischen Dienst des Kreises Schleswig-Flensburg. Zuvor war sie mehrere Jahre in der vollstationären Jugendhilfe tätig und hat mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen gearbeitet und ihre Bachelor-Thesis zu diesem Thema geschrieben.
Kontakt: sbachert@online.de


LITERATUR

KILLISCH, MATHILDE (2010a): Konzeption zur Einrichtung und Betreibung einer Clearingstelle für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge. Fürstenwalde

KILLISCH, MATHILDE (2010b): Konzeption Jugendprojekt ALREJU. Stationäre Unterbringung für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge. Fürstenwalde

BACHERT, SILKE (2010): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe. Bachelor-Thesis. Kiel


DJI Impulse 1/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2014 -
Nr. 105, S. 20-22
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2014