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KIND/073: Indien - Millionen Kinder müssen arbeiten, Schutzgesetze werden verschärft (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. Februar 2013

Indien: Millionen Kinder müssen arbeiten - Schutzgesetze werden verschärft

von Ranjit Devraj



Neu-Delhi, 19. Februar (IPS) - Einer der sechs Männer, die derzeit wegen Vergewaltigung einer Studentin vor Gericht stehen, war zur Tatzeit minderjährig und kann daher mit Strafminderung rechnen. Indische Aktivisten, die für Jugendrechte eintreten, sehen sich mit dem Zorn einer Öffentlichkeit konfrontiert, die für alle Täter die Todesstrafe fordert.

Die brutalen Misshandlungen, an deren Folgen die 23-Jährige Ende Dezember starb, haben in der indischen Gesellschaft große Empörung ausgelöst. Viele Menschen fordern ein Schnellverfahren und die Anwendung der Höchststrafe, auch für den sechsten Täter. Ein Gericht hatte sein Alter auf der Grundlage alter Schulunterlagen zum Zeitpunkt des Verbrechens auf siebzehneinhalb Jahre festgelegt. Eine Geburtsurkunde ist nicht vorhanden.

Die aufgebrachte Öffentlichkeit fordert inzwischen die volle Rechtsmündigkeit ab 16 Jahren. Der Vorsitzende der Janata-Partei, Subramanian Swamy, konnte sich jedoch beim High Court in Neu-Delhi nicht mit einer Petition durchsetzen, den zur Tatzeit minderjährigen Vergewaltiger nach dem Erwachsenenstrafrecht abzuurteilen.

"Was dabei nicht berücksichtigt wird, ist der Umstand, dass der Beschuldigte zu den mehr als 80.000 Kinderarbeitern in der Hauptstadt gehörte. Bereits als Zehnjähriger hatte er keine Chance mehr auf Bildung und ein anständiges Leben", meint der Rechtsanwalt Bhuwan Ribu, der sich in der Bewegung 'Bachpan Bachao Andolan' (Bewegung zur Rettung der Kindheit - BBA) engagiert.

Wie Ribu erläutert, gehört der junge Mann zu den vielen Opfern des Menschenhandels. BBA tritt für die Umsetzung bestehender Gesetze ein, die allen indischen Kindern ein Recht auf Bildung zusichern. Der Jurist verweist auf ein Gesetz von 2006, das verhindern soll, dass Kinder als Haushaltshilfen oder in Straßenimbissen beschäftigt werden.

Untersuchungen der 'National Sample Survey Organisation' (NSSO), einer Unterbehörde des Nationalen Statistikamts, haben ergeben, dass die Zahl der Kinderarbeiter zwischen 2005 und 2010 von neun Millionen auf etwa fünf Millionen gesunken ist.


Arbeitgeber kommen meist mit Geldbußen davon

Den offiziellen Angaben zufolge konnten im Rahmen eines Projekts gegen Kinderarbeit ('National Child Labour Project' - NCLP) etwa 355.000 Kinderarbeiter befreit werden. Etwa 3.300 Arbeitgeber wurden verurteilt. "Die meisten Straftäter kommen jedoch mit Geldstrafen davon, weil sie sich eine mildere Strafe erkaufen", kritisiert Ribu.

Wie Swami Agnivesh, der Leiter der Organisation 'Banhua Mukti Morcha' (Front zur Befreiung von Kinderarbeitern), berichtet, ist es in der Praxis schwierig, Verstöße gegen die Gesetze gegen Kinderarbeit angemessen zu ahnden. Zudem ziehen sich die Gerichtsverfahren in die Länge.

Laut Agnivesh, einem früheren Vorsitzenden des UN-Treuhandfonds für die Bekämpfung der modernen Formen der Sklaverei, ist die indische Regierung offensichtlich nicht in der Lage, für eine Anwendung der Gesetze gegen Kinderarbeit zu sorgen. Dabei sei gerade diese Form der Ausbeutung von Minderjährigen ein Grund dafür, dass auf dem Subkontinent Armut, Analphabetismus und Arbeitslosigkeit weiterhin vorherrschten.

Dem Experten zufolge muss internationaler Druck aufgebaut werden, um die Regierung zum Handeln zu bringen. Kinder werden etwa zur Herstellung von Streichhölzern, Feuerwerkskörpern, Tabak, Zement, Ziegeln und anderen gefährlichen Erzeugnissen missbraucht. "Trotz der bestehenden Gesetze arbeiten vermutlich nach wie vor mehr als zwölf Millionen Kinder unter 14 Jahren in Haushalten, Steinbrüchen, Minen und Hotels", so Agnivesh. Die von NSSO bereitgestellten Zahlen hält er für erheblich zu niedrig angesetzt.

"Es fehlt an den entsprechenden staatlichen Mechanismen, um Industriebetriebe zu überprüfen, die Kinder beschäftigen, und um einflussreiche Arbeitgeber strafrechtlich zu verfolgen", kritisiert er. Dies sei vor allem deshalb so schwierig, weil sich Identität und Alter der Kinder oftmals nicht feststellen ließen, da sie aus weit entfernten Dörfern nach Neu-Delhi gebracht worden seien.


Gesetzesänderung geplant

"Jede Gesellschaft ist verantwortlich für das Wohlergehen und die Versorgung ihrer Kinder bis zu deren 18. Lebensjahr, vor allem dann, wenn sie am Rande der Gesellschaft leben und hilflos sind", schrieb unlängst Minna Kabir, eine ehemalige Kinderarbeiterin und Frau des obersten Richters Altamas Kabir in einem offenen und in der 'Hindustan Times' veröffentlichten Brief.

Kabir zufolge werden die meisten Kinder straffällig, weil "wir versagt haben, sie mit einem grundlegenden Unterstützungssystem auszustatten". Ausgelöst werde Jugendkriminalität durch Armut, falsche Vorbilder, kaputte Familien, Hunger und Ausbeutung durch Erwachsene.

Kinderrechtsaktivisten setzen ihre Hoffnung nun auf ein neues Gesetz, dass am 22. Februar im Parlament zur Abstimmung kommen und die bestehenden Kinderschutzgesetze stärken soll. Demnach soll unter 18-Jährigen jedwede gefährliche Beschäftigung verboten sein. Kinder unter 14 Jahren sollen überhaupt nicht arbeiten dürfen. Damit soll auch die Umsetzung eines 2009 eingeführten Gesetzes erleichtert werden, das den kostenlosen Schulbesuch von Kindern unter 14 Jahren vorsieht. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.bba.org.in/
http://www.swamiagnivesh.com/aboutbmm.htm
http://www.ipsnews.net/2013/02/india-tightens-child-labour-laws/

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IPS-Tagesdienst vom 19. Februar 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2013