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KIND/098: Indien - Bewaffneter Konflikt begünstigt Kinderhandel (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. April 2014

Indien: Bewaffneter Konflikt begünstigt Kinderhandel

von Stella Paul


Bild: © Stella Paul/IPS

Sumari ist eines von vielen Kindern aus dem indischen Bundesstaat Chhattisgarh, die arbeiten müssen, statt zur Schule gehen zu können.
Bild: © Stella Paul/IPS

Kanker, Indien, 23. April (IPS) - Frühmorgens zieht Sumari Varda ihre blaue Schuluniform an. Doch geht sie nicht zum Unterricht, sondern zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen. "Ich vermisse die Schule und möchte gern wieder dorthin zurück", flüstert sie so leise, dass ihr Arbeitgeber sie nicht hören kann.

Sumari stammt aus dem Dorf Dhurbeda, lebt aber inzwischen in Bhainsasur. Beide Orte liegen im zentralindischen Bundesstaat Chhattisgarh. Die 14-Jährige trägt bei der Arbeit die Schuluniform, weil sie nur wenige Kleidungsstücke besitzt. Ihr Heimatort liegt in Abujhmad, einem Waldgebiet im Bezirk Narayanpur, der als einer der hauptsächlichen Rückzugsorte der verbotenen Kommunistischen Partei 'India-Maoist' gilt, die sich in einigen Teilen des Landes gegen den Staat erhoben hat.

Vor neun Monaten hatte eine entfernte Verwandte aus Raipur, der Hauptstadt des Bundesstaates, Sumaris Eltern besucht. Diese waren in Sorge darüber, dass ihre Tochter eines Tages gezwungen sein könnte, sich den Maoisten anzuschließen. Die Angehörige versprach, das Mädchen in der Stadt zur Schule zu schicken und nahm es mit.


Fronarbeit im Haushalt statt Schule

Doch gebracht wurde Sumari nach Bhainsasur, etwa 180 Kilometer von Raipur entfernt. Dort arbeitet sie nun mehr als 14 Stunden täglich im Haus des Bruders der Verwandten. Sie kocht, wäscht, holt Wasser und versorgt manchmal auch das Vieh.

Wie Sumari ergeht es zahlreichen Kindern aus Chhattisgarh. Aus einer 2013 erschienenen Studie des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) geht hervor, dass jedes Jahr 3.000 Heranwachsende in dem Bundesstaat Opfer des Menschenhandels werden.

Der Report konzentriert sich auf die nördlichen Bezirke, die von dem bewaffneten Konflikt weitgehend verschont werden. Die Hochburgen der maoistischen Bewegung wie Dantewada, Sukma, Bijapur, Kanker und Narayanpur wurden dagegen ausgeklammert.

Grund dafür sei ein akuter Mangel an Daten, erläuterte ein Beamter der Behörde für Agrarentwicklung, der sich Anonymität ausbat. Beobachter hielten sich von diesen entlegenen Gebieten fern, erläutert er. "Im April 2010 töteten Maoisten in Dantewada 76 Sicherheitskräfte. Seitdem hat der Konflikt ein solches Ausmaß angenommen, dass sich nur wenige nach Dantewada, Sukma oder Narayanpur trauen. Das Sammeln von Fakten ist dort somit unmöglich."


Menschenhändler fürchten keine Konsequenzen

Bhan Sahu ist Gründerin von 'Jurmil Morcha'. Die Frauenorganisation setzt sich für den Schutz der Waldbewohnerinnen vor Vertreibungen ein. Sahu zufolge machen sich Menschenhändler den Datenmangel zunutze. "Jedes Mal, wenn es zu Zusammenstößen zwischen Maoisten und Sicherheitskräften kommt, fliehen Familien aus den Dörfern. Auf sie haben es die Menschenhändler abgesehen. Sie zahlen ihnen etwas Geld und bieten an, sich um die Kinder zu kümmern", berichtet sie.

Der Regierung wirft die Aktivistin vor, die Vertreibung der Menschen und die Verschleppung der Kinder zu leugnen. Daher seien die Menschenhändler keinerlei Druck ausgesetzt. Sahu hat über 'CG-Net Swara', einem lokalen Nachrichtendienst, mehrere Fälle publik gemacht.

Die elfjährige Jyoti Dugga, die zur Unterhaltung von Touristen Hula-Hoop-Tänze mit Eisenringen an den Stränden von Goa in Westindien vorführt, stammt ebenfalls aus Chhattisgarh. Ihr älterer Bruder kam wegen angeblicher Verbindungen zu den Maoisten ins Gefängnis. Ihre Eltern machten sich daraufhin große Sorgen, dass auch sie festgenommen werden könnte. Vor drei Jahren willigten sie deshalb ein, dass der Nachbar Ramesh Gota das Mädchen mitnahm.

"Der Onkel sagte, er habe viele Kontakte und könne mir Arbeit geben. Deshalb ließen meine Eltern mich mit ihm gehen", erzählt Jyoti, die Urlaubern auch Fußmassagen gibt. Zusammen mit drei weiteren Kindern aus Chhattisgarh teilt sie sich einen kleinen Raum. Anfang April wurden 20 Kinder, die in einem Zirkus in Goa gearbeitet hatten, von der Polizei befreit. Doch Ramesh Gota geht auf Nummer sicher, indem er mit den Kindern von einem Strand zum anderen zieht.


Regierung leugnet Missstände

Die Regierung streitet den Handel mit Kindern und deren Ausbeutung ab. Laut Ram Niwas, stellvertretender Generaldirektor der Polizei von Chhattisgarh, ist der Menschenhandel seit dem Einsatz von Sondereinheiten rückläufig. Aus dem UNODC-Report geht jedoch hervor, dass Chhattisgarh den Kindern keinen ausreichenden Schutz bietet und zu wenig dafür tut, damit die Minderjährigen befreit werden und zu ihren Familien zurückkehren können.

Die Kinderrechtsaktivistin Mamata Raghuveer aus dem Nachbarstaat Andhra Pradesh sieht das ähnlich. Die Leiterin der Organisation 'Tharuni', die in Zusammenarbeit mit der Regierung Kinder rettet, berichtet, dass in den vergangenen zwei Jahren 65 Mädchen aus den Fängen von Menschenhändlern befreit worden seien. Die meisten kamen demnach aus den Bezirken von Chhattisgarh, in denen die Maoisten aktiv sind.

"Schon sieben- und achtjährige Mädchen werden aus ihren Familien geholt", sagt sie. "Einige müssen als Hausbedienstete arbeiten, andere werden an Zuhälter verkauft. Droht den Menschenhändlern die Festnahme, verschwinden sie und überlassen die Kinder sich selbst."

Für neun - bis 14-jährige Kinder, die aus den Fängen der Menschenhändler befreit werden, stehen spezielle Zentren bereit, in denen sie versorgt werden und eine Schulbildung erhalten, wie der indische Arbeitsminister Kodikunnil Suresh im Februar erklärte. Im Rahmen dieses Programms werden derzeit etwa 300.000 Kinder betreut. (Ende/IPS/ck/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/04/conflict-fuels-child-labour-india/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2014