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RENTE/651: Rentnerdasein bleibt für viele Menschen weltweit ein Wunschtraum (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Dezember 2015

Arbeit: Rentnerdasein bleibt für viele Menschen weltweit ein Wunschtraum

von Joseph Chamie *


NEW YORK (IPS) - Weltweit haben fast alle Regierungen Renteneintrittsalter festgesetzt und staatliche Versicherungsprogramme geschaffen. Die meisten Menschen werden sich aber niemals zur Ruhe setzen können. Fast die Hälfte - genauer gesagt 48 Prozent - aller Männer und Frauen im Seniorenalter erhalten laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) derzeit keine Rente.

Von denjenigen, die Altersruhegeld beziehen, kommen viele finanziell nicht über die Runden. Ein Großteil der älteren Menschen muss daher so lange arbeiten, wie es nur eben geht. In dieser Lage befinden sich vor allem Frauen, die häufig im informellen Sektor arbeiten und über keine Einkommenssicherheit verfügen. In vielen Fällen sind sie im Alter auf Unterstützung durch ihre Familien angewiesen.

Global betrachtet ist die Einführung des Rentenalters eine relative Neuerung. In der Vergangenheit waren die meisten Menschen so lange erwerbstätig, bis sie körperlich nicht mehr dazu in der Lage waren. Nicht wenige arbeiteten bis zum Tod, weil es keine Rentensysteme gab, sie selbst wenig angespart hatten und die Lebenserwartung niedrig war.

1889 hatte Reichskanzler Otto von Bismarck in Deutschland die erste gesetzliche Rentenversicherung der Welt eingeführt. Das Pensionsalter wurde damals auf 70 Jahre festgelegt, weit jenseits der durchschnittlichen Lebenserwartung. 1935 führten die USA ihr Sozialversicherungssystem ein, das einen Rentenbezug ab 65 Jahren vorsah. Damals lag die Lebenserwartung der US-Amerikaner bei 62 Jahren.


Weite Spanne beim Renteneintrittsalter

Heute erkennen praktisch alle Staaten prinzipiell das Recht ihrer Bürger auf Einkommenssicherheit im Alter und eine angemessene Rente an. Die in den einzelnen Ländern eingeführten Programme weichen allerdings deutlich voneinander ab. Die Spanne des Renteneintrittsalters reicht von 50 bis 70 Jahren. Die meisten Erwerbstätigen gehen zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr in den Ruhestand, Frauen mancherorts schon mit 55 Jahren.

Am jüngsten sind die Rentner in Entwicklungsländern, in denen die allgemeine Lebenserwartung vergleichsweise niedrig ist. In etwa 20 Staaten, zumeist im südlichen Afrika, liegt das Pensionsalter deutlich jenseits der durchschnittlichen Lebenserwartung. In Ländern wie Angola, Tschad und Nigeria beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass ein heute 15-Jähriger vor Erreichung des 60. Lebensjahres stirbt, 1 zu 3. In extremen Fällen, wie in Lesotho oder in Swasiland, wird etwa die Hälfte der heute 15-Jährigen ihren 60. Geburtstag nicht mehr erleben.

In reichen Industriestaaten, deren Bevölkerung eine hohe Lebenserwartung hat, gehen Beschäftigte erst mit 65 Jahren oder später in den Ruhestand. Oftmals liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in diesen Ländern um mehr als zehn Jahre über dem Renteneintrittsalter. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein heute 15-Jähriger das 60. Lebensjahr nicht erreicht, ist in Staaten wie Italien, Japan oder Schweden mit etwa 1 zu 20 relativ gering.

65-jährige Männer können in entwickelten Staaten mit weiteren 17 und Frauen noch mit 21 Lebensjahren rechnen. In keinem der Länder liegt aber die Pensionsgrenze für Frauen höher als die für Männer. In etwa zwei Drittel aller Staaten, in denen ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung lebt - darunter Ägypten, Australien, Deutschland, Frankreich, Indien, Indonesien, Japan, Kanada, Mexiko und den USA - gibt es ein einheitliches Renteneintrittsalter für Frauen und Männer.

In einem Viertel der Staaten, etwa in Argentinien, Brasilien, Chile, China, Iran, Israel, Österreich, Pakistan, Polen, Russland und Saudi-Arabien, können Frauen sogar fünf Jahre vor den Männern in Rente gehen. In Ländern wie Bangladesch, Italien, der Tschechischen Republik, der Schweiz, der Türkei und Großbritannien, liegt die Altersgrenze für Frauen um ein bis vier Jahre unter der von Männern.

Ein Grund dafür, dass Frauen in diesen Staaten früher aus dem Erwerbsleben aussscheiden dürfen, liegt möglicherweise darin, dass sie auf diese Weise gemeinsam mit ihren für gewöhnlich älteren Ehemännern in den Ruhestand gehen können. Für viele Frauen ist ein früher Renteneintritt allerdings nicht von Vorteil, weil sie, bedingt durch Familienpausen, weniger Beitragsjahre vorweisen können.


Demografischer Wandel bringt Rentensysteme unter Druck

In den vergangenen Jahrzehnten waren die Rentenkassen in den meisten Ländern gut gefüllt. Mitte des 20. Jahrhunderts kamen auf jeden Rentner mehr als acht Beitragszahler im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Heute liegt das statistische Verhältnis dagegen nur noch bei knapp 4 zu 1 und wird sich bis zum Jahr 2050 voraussichtlich weiter auf 2 zu 1 reduzieren.

Angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft befürchten viele Regierungen, dass ihre Rentenkassen in der nahen Zukunft in die roten Zahlen rutschen. In Ländern wie Griechenland, Italien, Japan und Spanien, in denen die Menschen ein hohes Alter erreichen, stehen Politik, Wirtschaft und Sozialwesen vor besonders großen Herausforderungen.

Mehr als die Hälfte aller Länder, darunter die meisten Industriestaaten, haben in den vergangenen fünf Jahren Änderungen eingeführt, um die staatlichen Rentenausgaben zu begrenzen. Unter anderem wurden das Renteneintrittsalter angehoben und Pensionssysteme reformiert. Rentenleistungen wurden gekürzt, Beitragssätze erhöht, Beschäftigungsverhältnisse über das Pensionsalter hinaus gefördert und Rentenaltersgrenzen an die durchschnittliche Lebenserwartung angeglichen.

Würde das Renteneintrittsalter weiter angehoben, könnten die Regierungen sicherlich an ihren Ausgaben für Senioren sparen. In den Mitgliedsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind die Pensionsaltersgrenzen bereits um mehrere Jahre erhöht worden. In vielen Ländern liegt die Grenze jetzt bei 67 Jahren. In Dänemark, Großbritannien, Irland, Italien oder Tschechien wird sogar eine Anhebung auf bis zu 70 Jahre in Erwägung gezogen. Solche Maßnahmen reichen allerdings nicht aus, um die Folgen der Überalterung von Gesellschaften auszugleichen. Das Rentenalter um mehr als nur einige Jahre zu erhöhen, wäre auf politischer Ebene allerdings nur schwer durchsetzbar.

Die in der jüngsten Vergangenheit umgesetzten Rentenreformen haben mehr Kosten auf die Älteren abgewälzt. Die meisten Menschen, die sich entweder schon im Rentenalter befinden oder kurz davor stehen, haben aber nicht genug gespart und verfügen über keine ausreichende private Altersvorsorge, die ihnen tatsächlich einen würdevollen Ruhestand ermöglichen würde. Somit ist zu erwarten, dass die meisten Männer und Frauen weltweit weit über das normale Renteneintrittsalter hinaus weiterarbeiten werden. (Ende/IPS/kf/10.12.2015)

* Joseph Chamie ist ein unabhängiger Demografieberater und ehemaliger Direktor der UN-Bevölkerungsabteilung


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/12/opinion-retirement-unlikely-option-for-most-people-2/

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IPS-Tagesdienst vom 10. Dezember 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2015

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