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ORGANISATION/523: UN resümieren Friedenssicherung 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Januar 2014

UN: Friedenssicherung 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda

von Samuel Oakford


Bild: © Edwin Musoni/IPS

Überlebende des Völkermords in Ruanda exhumieren die Leichen ihrer 1994 ermordeten und in einem Massengrab verscharrten Angehörigen
Bild: © Edwin Musoni/IPS

New York, 16. Januar (IPS) - Am 11. Januar 1994 setzte Romeo Dallaire, der damalige Kommandeur der UN-Blauhelmtruppen in Ruanda, ein Fax an das UN-Hauptquartier in New York ab. Darin informierte er die Weltorganisation über Gerüchte einer Zwangsregistrierung ethnischer Tutsi. Seine regierungsnahe Quelle, betonte Dallaire in seinem Kabel, "nimmt an, dass man sie ausrotten will".

Im Frühjahr des gleichen Jahres metzelten Hutu-Extremisten in einem Zeitraum von nur 100 Tagen zwischen 800.000 und einer Million Tutsi und moderate Hutu nieder. Unmittelbarer Auslöser war der Abschuss des Flugzeugs des damaligen Präsidenten Juvénal Habyarimana, der sich um einen dauerhaften Frieden im Lande bemüht hatte.

Am 15. Januar gedachten die Vereinten Nationen dem Massenmord, den sie als ihren größten, jemals aufgrund ihrer eigenen Fehlentscheidungen begangenen Fehler betrachten. Die internationale Gemeinschaft, so Dallaire vor Journalisten am 14. Januar, habe sich damals alle Mühe gegeben, die Entwicklungen in Ruanda zu ignorieren. "Sie hatte das Land einfach nicht auf ihrem Schirm. Es lag kein Eigeninteresse vor. Und Ruanda war strategisch unbedeutend."

Simon Adams von der Denkfabrik 'Global Centre for Responsibility to Protect', der sich Dallaire und dem ruandischen Botschafter Eugene-Richard Gasana angeschlossen hatte, bezeichnete den Völkermord in dem ostafrikanischen Land zusammen mit den ethnischen Säuberungen auf dem Balkan als Wendepunkt in der Geschichte der UN.


Keine Schutzpflichtregelung ohne den Völkermord

2005, elf Jahre nach dem Gemetzel, lancierten die Vereinten Nationen ihre Schutzpflicht-Initiative ('Responsibility to Protect' - R2P). Seitdem sind die Staaten dazu verpflichtet, ihre Bevölkerung vor Massenmorden zu schützen. Die internationale Gemeinschaft wiederum muss sicherstellen, dass kollektive Maßnahmen ergriffen werden, um einen weiteren Völkermord zu verhindern. "Ohne die Tragödie in Ruanda gäbe es keine R2P", sagte Adams im IPS-Gespräch. Die Initiative sei das Ergebnis eines Prozesses der Selbstreflexion und des UN-Versagens vor 20 Jahren.

Doch schon 2009 gerieten die Vereinten Nationen erneut in die Schusslinie. Ihnen wurde vorgeworfen, nicht genug für den Schutz der Zivilisten während der letzten Monate des srilankischen Bürgerkriegs unternommen zu haben. Damals starben 40.000 Menschen in einem Bürgerkrieg, der längst entschieden war.

2012 knüpfte ein interner UN-Bericht an die Ermittlungsergebnisse der 1990er Jahre an: "Ein solches Versagen der UN, angemessen auf die Ereignisse in Sri Lanka zu reagieren, darf sich nicht wiederholen." Sollten sich die Vereinten Nationen künftig mit ähnlichen Situationen konfrontiert sehen, müssten sie in der Lage sein, einen höheren Standard zu gewährleisten, um die Bevölkerung zu schützen.

Inzwischen genießt der Schutz von Zivilisten in UN-Friedensmissionen höchste Priorität, die Souveränität der betroffenen Länder ist zweitrangig. Von Friedenssicherungseinsätzen, wie sie derzeit im Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik stattfinden, erwartet man, dass sie mit Kapitel-Sieben-Mandaten ausgestattet sind, die den Blauhelmen die Anwendung von Gewalt erlauben, um den Tod von Zivilisten abzuwehren. Dallaires Mission war nicht mit einem solchen Mandat ausgestattet.

Der Völkermord in Ruanda ereignete sich etwa ein Jahr nach dem kläglichen Scheitern der UN-Friedensmission in Somalia, einem weiteren Grund für die zögerliche Haltung der Staaten, Truppen nach Ruanda zu entsenden. Aus der Sorge heraus, gegen die Souveränität Ruandas zu verstoßen, weigerten sich die USA sogar, dem Aufruf Dallaires zu folgen und die Radiosender zu blockieren, die offen zum Völkermord aufriefen.

"Die Schuld haben alle UN-Mitgliedstaaten", meinte Dallaire in New York. "Jeder souveräne Staat wusch damals seine Hände in Unschuld, wollte nicht involviert werden, sah bereits eine ähnliche Katastrophe wie in Mogadishu aufziehen und tat sein Bestes, um sich ja nicht vereinnahmen zu lassen. Also blieben Präventivmaßnahen aus."


Truppenreduzierungspläne statt Hilfe

Nicht nur, dass die UN auf Dallaires Hilferufe nicht reagierten. Auf dem Höhepunkt des Gemetzels, als jede Minute durchschnittlich sieben Ruander ums Leben kamen, stimmte der UN-Sicherheitsrat für eine 90-prozentige Reduzierung der Friedensmission in dem ostafrikanischen Land.

Dallaire und hunderte andere Soldaten weigerten sich, dem Aufruf zu folgen, das Land zu verlassen. Sie versuchten verzweifelt, das Leben von Zivilisten zu retten. Doch hatten die schlecht ausgerüsteten und zahlenmäßig unterlegenen UN-Truppen keine Chance.

Nur drei Wochen vor der Einnahme der ruandischen Hauptstadt und der Beendigung des Massenmordes durch Tutsi-Rebellen stimmte der UN-Sicherheitsrat der Entsendung einer französischen Interventionstruppe zu. Doch die 3.000 französischen Soldaten gaben den fliehenden Interahamwe- und Hutu-Soldaten freies Geleit und erlaubten ihnen sogar, ihre Waffen zu behalten. Bis heute wird die Suche nach den Verantwortlichen des Ethnozids fortgesetzt: sowohl im Ausland als auch im Dschungel des östlichen Kongos.

"Die Geschichte hat ein hartes Urteil über die UN wegen ihrer Passivität in Ruanda gefällt, und wir müssen aus den Lektionen der Vergangenheit lernen", meinte Adams gegenüber IPS.

Im März 2013 genehmigte der UN-Sicherheit für den Osten des Kongos eine UN-Interventionsbrigade - eine schnelle Eingreiftruppe - die aggressiv und erfolgreich die M23-Rebellen zur Aufgabe zwang. "Dass die UN-Streitmacht dort die Möglichkeiten hat, offensiv vorzugehen, bedeutet eine Abkehr von den allzu eingeschränkten Mandaten", betonte Dallaire.

"UN-Blauhelme leiden immer darunter, nicht schnell genug reagieren zu können", meinte David Curran, Lehrbeauftragter für Friedenssicherung, Friedensschaffung und Konfliktlösung an der Universität von Bradford. "Es besteht die dringende Notwendigkeit, Konzepte zugunsten rascher Eingreifmöglichkeiten in Erwägung zu ziehen."

Curran zufolge gibt es viele Staaten, die die Friedenssicherungsmandate für unzureichend halten. Zudem störe viele Entwicklungsländer, dass sie auf Geheiß des UN-Sicherheitsrats Truppen bereitstellen sollen, die Mitglieder des Sicherheitsrates selbst jedoch keine oder nur wenige Blauhelme bereitstellen wollten. Die Blockfreien kritisierten die Aufforderung, Friedenssoldaten in Situationen zu stellen, "in denen es wenig Frieden zu sichern gibt".


Industriestaaten sollen Friedenseinsätze stärker unterstützen

Dallaire wies darauf hin, dass die Friedenssicherung oftmals eine Frage der Finanzierbarkeit sei, was sich besonders gut in den Kongo-Einsätzen gezeigt habe. "Doch ist der Einsatz von 26.000 Soldaten, die nur mit einem Gewehr bewaffnet herumstehen, keine Lösung." Solange die Industriestaaten sich nicht stärker als bisher daran beteiligten, Frieden zu sichern oder zu schaffen, "werden wir auch weiterhin Bodentruppen haben, die nicht wirklich effektiv sind".

Die jüngsten von Frankreich geführten und mit UN-Mandaten ausgestatteten Interventionen in Mali und der Zentralafrikanischen Republik, die preiswerter als vollständige Blauhelmmissionen waren, haben zu gemischten Ergebnissen geführt. Beobachter zufolge warfen diese Einsätze jedoch viele Fragen auf, was die Zukunftsfähigkeit und Entwicklungsaussichten solcher Operationen angeht.

Der ruandische Botschafter Eugene-Richard Gasana befürchtet, dass die Vereinten Nationen nicht aus dem Völkermord in seinem Land gelernt haben. Die seit 13 Jahren im Kongo stationierte MINUSCO sei dafür ein gutes Beispiel. "Wohl haben wir als Ruander dazugelernt", versicherte er, "nämlich dass wir Teil der UN sind und kein neues Ruanda erleben wollen. Das ist der Grund, warum wir Friedenstruppen bereitstellen. Wir geben uns Mühe, unsere Pflicht zu tun und Menschen auf der Welt zu dienen." (Ende/IPS/kb/2014)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2014