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ARBEIT/2163: Prekäre Jobs beschädigen die Fundamente der Gesellschaft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013

Prekäre Jobs beschädigen die Fundamente der Gesellschaft
Gute Arbeit ist eine Bedingung für die Demokratie

Von Detlef Wetzel



Die "Billig-Strategie" im Zuge der Agenda 2010 hat nur vordergründig die Zahl der Beschäftigten anwachsen lassen. In Wirklichkeit ist das Arbeitsvolumen in Deutschland kaum angestiegen, was ein Beleg dafür ist, dass sichere Vollzeitstellen in viele kleine, prekäre Billigjobs umgewandelt wurden. "Gute Arbeit" ist nicht nur für die Perspektiven und das Selbstbewusstsein der Beschäftigten, sondern auch für ein funktionierendes Gemeinwesen unerlässlich. Und schließlich dient "gute Arbeit" als Motor für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.


In den Jahren 2004 und 2005 wurde im Rahmen der "Initiative Neue Qualität der Arbeit" eine Studie durchgeführt, die der Frage nachging, was gute Arbeit sei. Eine repräsentative Befragung unter Erwerbstätigen führte zu folgender Definition von guter Arbeit:

"Gute Arbeit bedeutet aus der Sicht von Arbeitnehmer/innen, ein festes, verlässliches Einkommen zu erhalten, unbefristet beschäftigt zu sein, die fachlichen und kreativen Fähigkeiten in die Arbeit einbringen und entwickeln zu können, Anerkennung zu erhalten und soziale Beziehungen zu entwickeln. Positiv wird Arbeit bewertet, wenn ausreichend Ressourcen vorhanden sind, zum Beispiel Entwicklungs-, Qualifizierungs- und Einflussmöglichkeiten und ein gutes Verhältnis zu den Vorgesetzten und Kolleg/innen. Eine weitere wichtige Bedingung ist, dass das Anforderungsniveau nicht zu stark als belastend empfunden wird."

Die Menschen brauchen gute Arbeit in diesem Sinne für ein gutes Leben. Gute Arbeit bietet Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Sie stärkt das Selbstbewusstsein und ist die Grundlage für psychische und physische Gesundheit. Vor allem aber bietet gute Arbeit Sicherheit für eine verlässliche Lebensplanung. Das heißt umgekehrt: Wenn gute Arbeit vernachlässigt wird, wird Menschen die Grundlage für ein gutes Leben entzogen.

Gute Arbeit fördert den gesellschaftlichen Fortschritt und ist ein Fundament für das Solidarsystem der Arbeitsgesellschaft. Deutschland war über lange Zeit ein Land mit geringer sozialer Ungleichheit und hoher Beschäftigungssicherheit. Die Einkommensverteilung war stabil; alle Bevölkerungsschichten profitierten vom wirtschaftlichen Wachstum. Das schonte die Sozial- und Staatskassen. Einkommen mussten nicht "aufgestockt" werden, und die Beschäftigten erwarben Ansprüche auf eine Alterssicherung, die für ein gutes Leben ausreichend war.

Die eigene Existenz durch Arbeit zu sichern und über seine Steuern zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen zu können sind wichtige Voraussetzungen für die gesellschaftliche Anerkennung des Einzelnen. Aber gute Arbeit ist auch für die selbstbewusste Wahrnehmung der Beteiligungsmöglichkeiten im Betrieb und in der Gesellschaft notwendig. Transfer-Empfänger sehen sich oft als Kostgänger der Gesellschaft. Die Folge ist ein Verlust des Selbstbewusstseins, so dass gesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten kaum genutzt werden. Das heißt: Wird das gesellschaftliche Fundament der guten Arbeit beschädigt, werden Menschen ausgrenzt und der soziale Zusammenhalt und das demokratische Gemeinwesen beschädigt.

Gute Arbeit ist die Basis unserer Volkswirtschaft. Wohlstand in Deutschland basiert auf der Arbeit von Millionen qualifizierten Menschen, die Produkte herstellen, die sonst keiner fertigen kann. Der Innovationswettbewerb um das bessere Produkt, den größten Kundennutzen oder die höchste Produktivität war der Kern der Erfolgsgeschichte "Made in Germany". Im Rahmen dieser Erfolgsgeschichte wurden hohe Qualifikation und betrieblicher Aufstieg belohnt. Es wurden Anreize gesetzt, sich zu qualifizieren. Umgekehrt heißt das: In dem Maße, wie sich berufliche Qualifikation über Einkommen und Sicherheit nicht mehr auszahlt und der Anspruch auf möglichst hochqualifizierte Arbeitsplätze aufgegeben wird, schwächt man einen Erfolgsfaktor Deutschlands. Wir werden den Wettbewerb über niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen nicht gewinnen. Denn für Billig-Macher gibt es immer irgendwo einen Konkurrenten, der es noch billiger macht.


Die große Illusion

Wie ist es um gute Arbeit in unserer heutigen Gesellschaft bestellt? Ende letzten Jahres hatten fast 42 Millionen Menschen in Deutschland eine Arbeitsstelle, so viele wie noch nie. Auf den ersten Blick scheint also eine Rechnung aufgegangen zu sein, die sich viele von den Arbeitsmarktreformen vor allem der Agenda 2010 versprochen hatten. Die Philosophie dieser Reformen war einfach: Der Arbeitsmarkt sei viel zu sehr reguliert. Das verhindere eine Beschäftigungsdynamik und gefährde die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Vermeintlich starre und träge Strukturen müssten also aufgebrochen werden. Ziel war es, durch höhere Flexibilität und niedrigere Löhne die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. So wurde die Leiharbeit dereguliert, die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose verschärft und der Niedriglohnbereich ausgeweitet.

Der zweite Blick auf diese Reformen zeigt, dass sie verantwortlich für den Wert- und Qualitätsverlust von Arbeit waren: In wenigen Jahren wuchs der Niedriglohnsektor rasant. Mittlerweile liegt er bei 24 %. Der Anteil der "Working Poor" ist seit 2004 in keinem anderen Land in Europa so stark angestiegen wie in Deutschland. Parallel zur Ausbreitung der Arbeitsarmut nahm in Deutschland die Zahl der atypisch Beschäftigten rasant zu. So ist die Zahl der Leiharbeiter von etwa 300.000 im Jahr 2000 auf fast eine Million im Jahr 2012 gestiegen. Das hat weitreichende Folgen für die Kaufkraft und die Sozialkassen. Schon heute werden über 700 Millionen Euro jährlich an Aufstocker-Beiträgen für Leiharbeitnehmer/innen bezahlt, weil sie von ihrer Arbeit nicht leben können. Davon sind nicht nur die Geringqualifizierten betroffen. Fast 70 % haben eine abgeschlossene Berufsausbildung und 10% eine Hochschulausbildung. Die Chancen für die Betroffenen auf eine reguläre Arbeitsstelle und auf gute Arbeit sind schlecht. Zwei Drittel aller Niedriglöhner schaffen das nie. Welche Auswirkungen das auf deren zukünftige Rente hat, sei hiermit nur angedeutet.

Auch der dritte Blick auf den Arbeitsmarkt bringt keinen Beleg dafür, dass die Reformen für den Beschäftigungsaufbau und die vergleichsweise niedrige Arbeitslosigkeit verantwortlich sind. Denn lediglich die Tatsache, dass die Einführung der Agenda 2010 zeitlich vor der steigenden Beschäftigung lag, reicht dafür nicht aus. Zum einen stellt man mit Blick auf die geleisteten Arbeitsstunden fest: 2012 lag die Zahl deutschlandweit bei 58,1 Milliarden Stunden. Das sind lediglich 0,3% mehr als im Jahr 2000 - ein Beleg dafür, dass sichere Vollzeitjobs in viele kleine, prekäre Billigjobs umgewandelt wurden. Von einer quantitativen Verbesserung kann also nicht wirklich die Rede sein. Und dass es nicht schlechter wurde, lag sicher an anderen Ereignissen, die in den letzten 10 Jahren stattgefunden haben. Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen zu können, möchte ich einige davon nennen: Das erste ist die konjunkturelle Dynamik. Ende 2005 begann ein langer Aufschwung, der auf einer guten weltwirtschaftlichen Konjunktur beruhte. Wenn die Nachfrage von China und den Schwellenländern nach Autos steigt und deshalb Arbeitsplätze geschaffen werden, hat dies nichts mit Arbeitsmarktreformen zu tun. Das zweite Ereignis war die in erster Linie von Gewerkschaften und Arbeitgebern initiierte Strategie zur Bewältigung der großen Finanzmarktkrise 2008 und 2009. Die Beschäftigten konnten vor allem durch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit im Betrieb bleiben. Die Arbeitslosigkeit stieg nur leicht an. Das verhinderte zusammen mit anderen Maßnahmen wie der "Abwrackprämie" den Zusammenbruch des Binnenmarktes und führte gleichzeitig dazu, dass die Unternehmen am Ende der Krise sofort auf eingespielte Belegschaften zurückgreifen konnten. Ein letztes Ereignis: Die Einführung des Euro hat maßgeblich zur Stärkung der deutschen Exportwirtschaft beigetragen. Was sollte die Agenda 2010 ausrichten, wenn morgen der Euro Geschichte wäre und eine um vielleicht 40 % aufgewertete D-Mark für zwei Millionen mehr Arbeitslose sorgen würde, weil dann die Exportmärkte zusammenbrechen würden?

Fazit: Die angesprochenen Reformen haben die Qualität der Arbeit in Deutschland maßgeblich verschlechtert und keinen Beitrag zur quantitativ guten Situation geleistet.

Wenn in erster Linie die Reformen auf dem Arbeitsmarkt dazu geführt haben, dass es immer weniger gute Arbeit in Deutschland gibt, dann muss hier der Hebel angesetzt werden. Doch bevor ich diese Notwendigkeiten skizziere, möchte ich kurz darauf eingehen, was die IG Metall in der Betriebs- und Tarifpolitik tut, um gute Arbeit für die Menschen zu erreichen. Denn sichere und faire Arbeit ist für die IG Metall das betriebs-, tarif- und gesellschaftspolitische Thema der vergangenen Jahre und wird es auch in Zukunft bleiben.

Betriebspolitisch steht dafür unser Konzept "besser statt billiger". Die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens ist die entscheidende Größe im Wettbewerb. Wann handeln Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innovativ? Doch nur dann, wenn Fähigkeiten, Kommunikation, Freiräume und Beteiligungsmöglichkeiten dies möglich machen. Wenn die ihnen abverlangte Arbeit auch auf Dauer leistbar ist und keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit sich bringt. Demnach sind "Billiger-Lösungen" in Form von Arbeitsverdichtung und Lohnverzicht der falsche Weg. "Bessere Strategien" zum Beispiel für einen effizienteren Materialeinsatz und Energieproduktivität helfen mit, gute Arbeit in Deutschland zu sichern und neue Arbeitsplätze in der Industrie zu schaffen. In diesem Sinne bringen sich unsere Betriebsräte und Vertrauensleute aktiv ein. Mit eigenen Ideen, unterstützt von wissenschaftlichem Know-how, werden betriebspolitische Alternativen zu den gängigen Kostensenkungsprogrammen aufgezeigt und Unternehmensleitungen gestellt, wenn sie Innovationen und Investitionen für eine nachhaltige Standortentwicklung unterlassen.

Tarifpolitisch haben wir die Branchenzuschläge für Leiharbeit eingeführt und die Mitbestimmung der Betriebsräte ausgeweitet. Damit hat sich die Situation vieler Leiharbeitsbeschäftigten deutlich verbessert. Die tarifvertraglich sichergestellte Übernahme der Ausgebildeten gibt den jungen Menschen ein Stück mehr Sicherheit für ihre Lebensplanung. Jetzt widmet sich die IG Metall dem Thema Werkverträge.

Aber Gewerkschaften können natürlich nicht alle Fehlentwicklungen allein beseitigen. Die Politik ist gefordert, dem Arbeitsmarkt eine neue Ordnung zu geben. Dabei ist es mit Einzelmaßnahmen nicht getan. Angesichts der Dimension des Problems braucht es ein Zusammenwirken vieler Maßnahmen. Diese lassen sich an dieser Stelle nicht ausformulieren. Aber wesentliche Punkte möchte ich stichwortartig nennen:

• Deutschland braucht einen Mindestlohn. Die Mindestlohnforschung zeigt, dass Mindestlöhne nicht schaden und vor allem die Löhne der Frauen anheben.

• Wir brauchen auch angesichts des anstehenden Fachkräftemangels ein neues Leitbild von guter Arbeit und eine Qualifizierungsoffensive. Mit Billiger-Strategien wird Deutschland im Innovationswettbewerb keine Chance haben.

• Wir brauchen die Regulierung der Leiharbeit nach dem Prinzip gleiche Arbeit - gleiches Geld - gleiches Recht.

• Der Missbrauch von Werkverträgen muss gestoppt werden.

• Wir brauchen eine Stabilisierung des Tarifsystems durch eine Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Das Tariftreuegesetz muss gestärkt werden.

• Schließlich brauchen wir ein Verbandsklagerecht bei Gesetz- und Tarifverstößen und die Stärkung individueller Beschwerderechte der Beschäftigten.

Gute, sichere und faire Arbeit ist nicht nur möglich. Sie ist auch dringend nötig: für den einzelnen, für unsere Gesellschaft, für unsere Volkswirtschaft.


Detlef Wetzel (* 1952) ist Zweiter Vorsitzender der IG Metall. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt: Mehr Gerechtigkeit wagen. Der Weg eines Gewerkschafters.
Detlef.Wetzel@igmetall.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013, S. 27 - 30
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2013