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ARBEIT/2528: Arbeit, Freizeit, Lebenszeit in der digitalen Moderne (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016

Arbeit, Freizeit, Lebenszeit in der digitalen Moderne

Von Johano Strasser


Das Menschenbild der Moderne kreist um die Vorstellung von der tätigen Selbstverwirklichung. Im Sinne des Slogans savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir (Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um handeln zu können) ist der Homo sapiens immer zugleich auch Homo Faber, ist auch die arbeitsfreie Zeit eher selten eine Zeit der puren Untätigkeit, des selbstvergessenen Träumens oder der Kontemplation. Im Zuge des marktradikalen Umbaus der Arbeitswelt verstärkte sich zuletzt diese Tendenz noch weiter, der rund um die Uhr produktiv tätige Mensch wurde zum Ideal erhoben. Heute werden in immer mehr Berufen Menschen zur ständigen Verfügbarkeit gepresst, andere halten sich für so unentbehrlich, dass sie auch in der sogenannten "Freizeit" am Laptop freiwillig weiterarbeiten oder mit dem Handy berufliche Gespräche führen.

Dabei sind große Teile der sogenannten Freizeit in Wirklichkeit ohnehin nicht frei verfügbar, sondern der sozial oder privat notwendigen "Nichterwerbsarbeit" gewidmet. Den größten Umfang nimmt hier die nach wie vor ziemlich einseitig den Frauen aufgebürdete Haushalts- und Care-Arbeit ein. Aber auch in der wirklich frei verfügbaren Lebenszeit - nach neueren Freizeitstudien im Schnitt höchstens zwischen drei und vier Stunden pro Tag - ist der moderne Mensch häufig aktiv, sei es in frei gewählter und selbstbestimmter produktiver Tätigkeit, sei es im Spiel, im Sport oder in genussorientierter Betriebsamkeit. Ein erfülltes Leben ist heute für die allermeisten Menschen in der industrialisierten Welt ein tätiges Leben, und in der europäisch geprägten Kultur des Westens heißt dies, dass auch Selbstbestimmung und Selbstfindung sich vor allem im Tätigsein zu manifestieren haben.

Ohne Erwerbsarbeit ist dies normalerweise kaum denkbar, nicht nur wegen des Arbeitsentgelts und der danach berechneten Rentenansprüche, die für die meisten Menschen zur Sicherung des Lebensunterhalts unerlässlich sind, sondern auch aus Gründen der Selbstachtung und der Lebenszufriedenheit. Sich seinen Lebensunterhalt mit eigener Arbeit zu verdienen, wird nicht nur als eine Notwendigkeit empfunden, der sich der Mensch zu unterwerfen hat, seit er aus dem Paradies vertrieben wurde; es ist dies für die meisten Menschen, gerade auch für Frauen, ein wichtiger emanzipatorischer Schritt. Auch in Zukunft bleibt es darum ein wichtiges politisches Fortschrittsziel, allen Menschen, die arbeiten wollen und können, Zugang zum Erwerbsarbeitssystem zu eröffnen.

Sinn der Arbeit

Was aber ist der Sinn der Arbeit? Manchmal - für manche Menschen mehr als für andere - trägt Arbeit ihren Sinn in sich selbst. Dann ist der Arbeitende motiviert durch die Freude an der kreativen Leistung, an der Verausgabung seiner produktiven Kräfte, am konkreten Ergebnis des Arbeitsprozesses. Arbeit kann gelegentlich sogar dem freien Spiel nahekommen, auch die Erwerbsarbeit. Das gilt für manche künstlerischen Berufe, seltener auch für wissenschaftliche und handwerkliche Tätigkeiten, manchmal sogar für die Haushalts- und Care-Arbeit. Arbeit ist aber auch eine Notwendigkeit; ohne sie könnten wir nicht überleben. Die meisten Menschen leisten heute Erwerbsarbeit, vor allem - allerdings selten ausschließlich! -, um des Arbeitslohns willen, damit sie sich kaufen können, was sie brauchen und was sie sich wünschen: Nahrung und Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Muße und Urlaub, eine gute Ausbildung für die Kinder, ein neues Auto, das neueste Handy, den Besuch einer Theateraufführung, eines Konzerts. Arbeit kann zwar selbst Teil des schönen Lebens sein, Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit, meistens aber ist sie - zumindest zu erheblichen Teilen - eine Anstrengung, manchmal eine Last.

Arbeitszeit, Freizeit, Lebenszeit - lassen sich die drei Sphären sauber trennen? In der seit einigen Jahren heftig brodelnden Diskussion über "Work-Life-Balance" erweist sich immer deutlicher, dass es verfehlt ist, strikt zwischen Arbeit und Leben zu trennen und nach einem als pure Last erlebten Arbeitstag alle Erfüllung in der Freizeit zu suchen. Dass eine solche Rechnung nicht aufgehen kann, dass vielmehr die hektische Suche nach Glück und Erfüllung in der Freizeit oft die am Arbeitsplatz erlebte Frustration am Ende noch steigert, ist eine millionenfach belegte Erfahrungstatsache. Die Frage, die allerdings viel zu selten gestellt wird, lautet: Was könnte und sollte vonseiten der Politik, der Unternehmen und des Managements bezüglich der Arbeitsorganisation, der Arbeitszeiten, der Arbeitsplatzsicherheit, des Betriebsklimas, der tatsächlichen physischen und psychischen Belastungen im Arbeitsprozess getan werden, um die Freude an der Arbeit zu erhöhen? Gerade weil sich in unserer Gesellschaft die meisten Menschen von dem aktivistischen Paradigma leiten lassen, sind die Fragen nach den realen Arbeitsbedingungen wichtig: Über- oder unterfordern diese die Menschen, gestatten sie ihnen, ihre Talente zu entfalten, oder degradieren sie sie? Wie müssten sie aussehen, damit sie dem Wunsch nach tätiger Sinnstiftung in Kooperation mit anderen wirklich entgegenkommen?

Viele Menschen haben ja tatsächlich gute Gründe, die Zeit, die sie an ihrem Arbeitsplatz zubringen, als mehr oder weniger verlorene Lebenszeit zu betrachten.Was sie vor allem daran hindert, die Erwerbsarbeit als sinnvoll und befriedigend zu erleben, ist neben zu geringer Bezahlung dreierlei: Sie haben Zweifel am Sinn dessen, was sie an ihrem Arbeitsplatz tun, sie empfinden die Arbeitsbedingungen als belastend und degradierend und die Arbeitszeiten entsprechen bezüglich Dauer und Lage nicht ihren Wünschen. So wie die Verhältnisse heute sind, müssen die meisten Menschen, um ihren Lebensunterhalt zu gewährleisten, sich mit den Arbeitsbedingungen abfinden, die ihnen die Arbeitgeber diktieren.

Jenseits des Normalarbeitsverhältnisses

Wenn sie Glück haben, erhalten sie eine Festanstellung und genießen damit zugleich den relativen Schutz des Normalarbeitsverhältnisses. Aber dieses ist längst nicht mehr "normal". Immer mehr Menschen arbeiten in Minijobs, haben befristete Arbeitsverträge oder reihen ein unbezahltes Praktikum an das andere, müssen mit einem oder mehreren Teilzeitjobs versuchen über die Runden zu kommen. Was das Normalarbeitsverhältnis weiter untergräbt, ist die schnelle Zunahme der Digitalarbeit. Immer mehr Menschen bieten sich heute freiwillig oder gezwungenermaßen auf digitalen Arbeitsmärkten an. Für eine kleine Zahl Hochqualifizierter, die über gesuchte Fertigkeiten verfügen und sich mit Geschick selbst vermarkten, bietet sich hier die Möglichkeit, als weitgehend souveräne "Lebensunternehmer" einerseits gutes Geld zu verdienen und andererseits weitgehend selbstbestimmt und mit Spaß an der Arbeit tätig zu sein. Das sind die Beispiele, auf die sich die Propagandisten der schönen neuen Welt der digitalen Arbeit vor allem beziehen. Aber für die große Mehrheit der Digitalarbeitenden sieht die Realität ganz anders aus.

Jenseits des Normalarbeitsverhältnisses wächst heute die Zahl der Menschen, die sich digital vernetzt mit Gelegenheitsjobs durch die Erledigung spezieller Aufgaben im sogenannten Cloud- oder Crowdworking nur mühsam über Wasser halten. Diese digitalen Arbeiterinnen und Arbeiter sind in aller Regel nicht gewerkschaftlich organisiert, haben keine festen Arbeitszeiten und keinen sozialen Schutz, arbeiten für Auftraggeber und mit anderen Menschen zusammen, die sie real nie zu Gesicht bekommen, werden ad hoc eingesetzt und oft erst nachträglich bezahlt, wenn und falls ihre Leistung für gut befunden wurde. Auch die Arbeitszeiten und das zu erledigende Pensum werden ihnen in der Regel von den Auftraggebern diktiert. Nicht selten müssen sie Tag und Nacht arbeiten, um die ihnen gesetzten Fristen einzuhalten. Hier wächst ein neues digitales Proletariat von Scheinselbstständigen heran, die sich, rechtlich weitgehend schutzlos, in der globalen Konkurrenz im Netz behaupten müssen.

Es sei denn, es gelingt ihnen, sich mit anderen genossenschaftlich oder in anderen Unternehmensformen zu verbinden und ihr eigener Arbeitgeber zu werden. Zu diesen neuen Selbstständigen gehören zum Beispiel die Netzaktivisten der Sharing Economy und die einfallsreichen Prosumer, die Jeremy Rifkin im Auge hat. Wir sehen heute, dass immer mehr, vor allem junge Menschen diesen dritten Weg wählen, wenn sie vor die Alternative gestellt sind, entweder arbeitslos zu bleiben oder sich zu den demütigenden und ausbeuterischen Bedingungen der Kapitaleigner zu verdingen. Erleichtert wird diese Entscheidung, weil technische Innovationen wie das Internet, der 3D-Druck und die in der Open-Source-Szene vorhandene breite Verfügbarkeit von Daten und Algorithmen nicht nur die Produktivität der Arbeit dramatisch weiter erhöhen, sondern auch günstige Voraussetzungen für die Dezentralisierung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen schaffen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist heute eine Gesellschaft nicht nur denkbar, sondern auch machbar, die erstens hochproduktiv ist und die Wohlstandsvoraussetzungen einer Kultur der Freiheit im Einklang mit den natürlichen Lebensvoraussetzungen garantieren kann und zweitens über das Was, das Wie, das Wann und Wie viel der Erwerbs- und der Nichterwerbsarbeit, unter Einbeziehung aller Betroffenen solidarisch entscheidet und auf diese Weise die Kluft zwischen Arbeit und Leben tendenziell überwindet.

Die "neuen Sachverständigen"

Aber nicht alles, was denkbar und machbar ist, setzt sich auch deswegen schon durch, vor allem dann nicht, wenn ihm gewichtige Macht- und Profitinteressen und die Fantasielosigkeit und Trägheit der Menschen entgegenstehen. Wenn heute von Problemen der Arbeit die Rede ist, geht es selten um die Qualität der Arbeit, sondern fast immer nur darum, "Jobs" zu schaffen, das heißt Gelegenheiten, im bestehenden System der Erwerbsarbeit Geld zu verdienen, damit die statistische Arbeitslosigkeit zurückgeht und die Sozialausgaben des Staates sinken. Richtig ist, dass Arbeitslosigkeit tatsächlich für die meisten Menschen mit Entbehrungen und Demütigungen verbunden ist, die in einer humanen Gesellschaft nicht einfach hingenommen werden dürfen. Dennoch sollte fortschrittliche Arbeitspolitik sich nicht darin erschöpfen, Jobs zu schaffen. Erst recht nicht, indem man in der üblichen Weise das wirtschaftliche Wachstum fördert. Was dabei nämlich übersehen wird, ist die einfache Tatsache, dass dieselbe Dynamik, die heute wirtschaftliches Wachstum erzeugt, auch zu Prozessinnovationen mit dem Ziel der Rationalisierung und Automation, also zu Arbeitseinsparung führt. Selbst exzeptionell hohe Wachstumsraten - wie in den 50er und 60er Jahren - hätten allein niemals zu mehr, sondern sogar zu weniger Arbeitsplätzen geführt. In Wirklichkeit waren es vor allem die von den Gewerkschaften erstrittenen und politisch abgesicherten Arbeitszeitverkürzungen, die die Arbeitslosigkeit in den kapitalistischen Marktgesellschaften trotz der schnell steigenden Arbeitsproduktivität in Grenzen hielten.

Zwar gibt es auch in den nächsten Jahrzehnten noch sinnvolle Großprojekte, von denen vermutlich Wachstumsimpulse für die Wirtschaft ausgehen werden, wie die Verlagerung des Güterfernverkehrs von der Straße auf die Schiene, die Ersetzung fossiler Energie durch regenerierbare Energiequellen und der Aufbau einer emissionsfreien Kreislaufwirtschaft, zwar werden sicher hier und da neue Dienstleistungen, die das Leben erleichtern, hinzukommen und alte ausgeweitet werden. Aber das alles reicht nie und nimmer aus, um auf diese Weise Vollbeschäftigung herzustellen.

In diesem Zusammenhang werden oft illusionäre Hoffnungen an die Expansion der Dienstleistungen geknüpft. Aber ein Großteil der alten und neuen Dienstleistungsarbeit wird (z.B. via Internet) auf den Konsumenten verlagert oder automatisiert. Und - was oft völlig außer Acht gelassen wird - es gibt zeitökonomische Grenzen des Dienstleistungswachstums aufseiten der Konsumenten, weil alle personenbezogenen Dienstleistungen die Mitarbeit des Adressaten der Leistung erfordern. Auch die Wachstumserwartungen, die von interessierter Seite mit dem "Internet der Dinge" und der Schaffung einer uns umgebenden "smarten" Dingwelt verbunden werden, werden sich voraussehbar nicht erfüllen. Diese Technik ist nämlich in der industriellen Produktion und bei den sachbezogenen Dienstleistungen einer der wirksamsten Treiber der Automation und die Menschen brauchen die meisten der heute angepriesenen "smarten" Lösungen alltäglicher Probleme wie Fahrzeugkontrollsysteme, das "intelligente Haus", Armbänder zur ständigen Gesundheitsüberwachung und mit Sensoren ausgestattete Topfpflanzen, die melden, wann sie gegossen werden sollten, gar nicht. Deshalb sollten sie sich diese Dinge auch nicht aufschwatzen lassen.

Ohne ein neues Arbeitszeitregime geht es nicht

Die Schlussfolgerung aus alldem ist offensichtlich: Vollbeschäftigung durch Wirtschaftswachstum allein bleibt auch in der Perspektive der neuen Dienstleistungsgesellschaft eine Chimäre. Ohne die weitere Verkürzung der Erwerbsarbeitszeiten, ohne ein völlig neues Regime der Arbeitszeit, geht es nicht. Statt einfach weiter den kruden Fortschrittsvorstellungen des 19. Jahrhunderts zu folgen und gedanklich und praktisch an der Privilegierung der herkömmlichen industriellen Maschinenarbeit festzuhalten, sollten wir nüchtern bilanzieren, wohin die Reise der Arbeitsgesellschaft geht.

Ja, sie geht unter anderem in Richtung Dienstleistungsgesellschaft. In Zukunft wird mit hoher Wahrscheinlichkeit der weitaus größere Teil der Erwerbstätigen im personenbezogenen und industriellen Dienstleistungssektor tätig sein. Die industrielle Fertigung wird nach allem, was sich heute absehen lässt, weitestgehend von miteinander kommunizierenden Maschinen geleistet werden. Allerdings werden nicht alle in der industriellen Fertigung freigesetzten Menschen in einem ins Gigantische wachsenden Dienstleistungssektor Arbeit finden. Denn auch viele Dienstleistungen lassen sich weiter rationalisieren, weil die Digitalisierung der Arbeit nicht nur körperliche Arbeit ersetzt, sondern auch einen Großteil der sogenannten "geistigen" Arbeit.

Das muss allerdings nicht zwangsläufig zu Massenarbeitslosigkeit und in eine soziale Katastrophe führen. Vielmehr hängt alles davon ab, ob wir die geradezu utopischen Möglichkeiten politisch zu nutzen wissen, die Rationalisierung und Automation im digitalen Zeitalter eben auch bieten. Zumal wenn diese Prozesse, wie das schon heute Zumeist der Fall ist, nicht nur mit Arbeitseinsparung, sondern auch mit einer viel effektiveren Nutzung von Energie und Stoffen einhergehen und die Dezentralisierung der Produktion begünstigen.

Es kann als nahezu sicher angenommen werden, dass auf lange Sicht - jedenfalls im kapitalistisch organisierten Marktsektor - alle Arbeiten automatisiert werden, in denen die Arbeitsvollzüge vollständig definiert und berechnet werden können. Das betrifft fast alle Bereiche der Güterproduktion, das ganze Feld des Transports und der Logistik, Prüf- und Messvorgänge, einen Großteil der traditionellen Büroarbeit, des Einzelhandels etc. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass damit der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Denn Rationalisierung und Automation sind eben nicht überall sinnvoll anwendbar. Als von Menschen zu verrichtende Arbeit bleibt noch eine Menge übrig: leitende und beratende Tätigkeiten in Wirtschaft und Verwaltung, Marketing und Werbung, die gesamte künstlerische Produktion, ein Teil der handwerklichen, kunsthandwerklichen und bäuerlichen Arbeiten, das Erfinden, Planen, Entwickeln, Programmieren, das Kontrollieren und Warten von Produktionsanlagen, vor allem aber das ganze ausgedehnte und bunte Feld der personenbezogenen Dienstleistungen: kommunizieren, motivieren, Lernprozesse organisieren, unterhalten, mit Menschen umgehen, sich kümmern, trösten, pflegen - alles das, was Maschinen nun einmal nicht können, weil darin - in unterschiedlichen Graden -das Moment der menschlichen Freiheit zur Geltung gelangt.

Wenn wir die Möglichkeiten nutzen, die die sich ankündigende neue Arbeitswelt bietet, wenn wir die Wertschöpfung im Maschinensektor entschlossen zur angemessenen Finanzierung des Sektors der unentbehrlichen menschlichen Arbeit, vor allem der sozialen Dienstleistungen, heranziehen und nicht länger der unsinnigen Vorstellung anhängen, die Rationalisierungsmethoden des Maschinensektors auf alle Formen der menschlichen Arbeit übertragen zu können, so ergeben sich zum einen bisher nicht für möglich gehaltene Chancen der Entlastung von fremdbestimmter und belastender Arbeit durch intelligente Formen der Arbeitszeitverkürzung und der Mehrung wirklich frei verfügbarer Zeit für alle. Zum anderen - und das ist womöglich noch wichtiger - ist der Typus der Arbeit, der nicht wegrationalisiert werden kann, in der Regel menschlich anspruchsvoller und, wenn die Arbeitsbedingungen stimmen, befriedigender: Er eröffnet zumeist größere Möglichkeiten der Sinnstiftung und der autonomen Gestaltung und bietet Gratifikationen, die der Tätigkeit selbst innewohnen und die weit über das hinausgehen, was die klassische Industrie- und Büroarbeit zu bieten hat.

Eine wirklich moderne, an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an den Gewinninteressen des Kapitals orientierte Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist also tatsächlich möglich. Auch sie wird uns Disziplin und Hingabe abverlangen, denn auch die als sinnvoll erachtete, mit Begeisterung und Engagement geleistete, ja, sogar die gänzlich freiwillig und selbstbestimmt verrichtete kreative Arbeit verliert nie vollkommen ihren asketischen Charakter. Aber eine solche neue Arbeitsgesellschaft könnte befriedigende und humane Arbeitsmöglichkeiten für alle bieten, auch für die, die nicht die höheren Weihen des Bildungssystems erhalten haben. Sie könnte, weil allmählich andere Quellen des Lebensglücks wichtiger werden, uns darüber hinaus vom Zwang erlösen, immer mehr und ständig Neues konsumieren zu müssen, um den Frust der Über- und der Unterforderung in der Arbeitswelt zu kompensieren. Sie könnte einer wirklichen Humanisierung der Arbeitswelt den Weg bereiten und Arbeit und Leben einander wieder näher bringen.


Johano Strasser ist Politologe, Publizist und Schriftsteller und war von 2002 bis 2013 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Soeben im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. erschienen: Das Drama des Fortschritts.
johano.strasser@t-online.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016, S. 38 - 42
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2016

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