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AUSSENHANDEL/1460: Globale Wertschöpfungsketten in und nach der Großen Krise (spw)


spw - Ausgabe 4/2013 - Heft 197
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Globale Wertschöpfungsketten in und nach der Großen Krise

Von Michael R. Krätke




Die alte und die neue "Globalisierung" - vor und nach der Großen Krise

Wer wird sich nicht an die Globalisierungsdebatten vor der letzten Jahrhundertwende erinnern? 1998, prompt zum 150. Jubiläum des Kommunistischen Manifests, wurde weltweit Karl Marx als Prophet der Globalisierung wiederentdeckt und gepriesen - in der gut bürgerlichen Wirtschaftspresse. Kaum ein klassischer Text wurde damals so oft, wieder und wieder zitiert wie jene Passagen aus dem Manifest, in denen Marx die neue Welt des kapitalistischen Weltmarkts schilderte; im Jahre 1848 in der Tat ein kühner Vorgriff auf die Zukunft des Kapitalismus.(1)

Mit dem Sturmwind der Globalisierung segeln, hieß die Parole. Nur wenn wir uns den Bedingungen der neuen, weltweiten Konkurrenz anpassen, werden wir als Exportnation auf Dauer überleben können. Das war die Überlegung, strikt nationalökonomisch und merkantilistisch gedacht. Darauf beruhte die Politik der "Agenda 2010", auch wenn die Konsequenz, die gezogen wurde - nämlich einem alteuropäischen Sozialstaat wie dem deutschen einen Arbeitsmarkt nach US-amerikanischem Muster aufzupfropfen - keineswegs eindeutig aus der Prämisse folgte. Die Behauptung, die Exportnation Deutschland brauche unbedingt einen Niedriglohnsektor, sie brauche "arbeitende Arme" und allseits "flexible" Beschäftigung, um einen modernen Dienstleistungssektor aufzubauen, war damals so falsch wie heute; geradezu absurd daneben lagen die Vordenker der Agenda 2010 im Blick auf den Sektor, wo in der Tat Dienstleistungen exportiert werden. Auf "produktbezogene" Dienstleistungen verstanden und verstehen sich die Champions der deutschen Exportindustrie bestens, auch ohne Agenda-Politik. Zum Planen, Entwerfen, Einrichten, Beraten, Ausbilden usw. brauchen und brauchten sie keine Billiglöhner und Flexwerker, ganz im Gegenteil. Über die naiven Vorstellungen der Agenda-Strategen von internationaler Konkurrenz konnten sie nur lächeln. Anders als den rot-grünen Amateurökonomen im Regierungsornat wussten sie, dass nicht Staaten, sondern Unternehmen konkurrierten und zwar keineswegs nur oder gar in erster Linie um niedrige Lohnkosten. Sie kannten die Akteure der internationalen bzw. globalen Konkurrenz, die multi- und transnationalen Konzerne. Die waren über die blindwütige "Standortkonkurrenz" der Regierungen hocherfreut. Sie erleichterte ihnen das Geschäft und ebnete der erfolgreichsten Strategie in der internationalen Konkurrenz den Weg, dem Auf- und Ausbau transnationaler bzw. globaler Wertschöpfungsketten (GVCs).

Was hat sich im Verlauf der Großen Krise, die uns seit dem Sommer des Jahres 2007 am Wickel hat, geändert? Wie wird die kapitalistische Weltwirtschaft nach dieser Großen Krise aussehen? Hat sich der Weltmarkt nicht gewaltig verändert, sind wir nicht schon Zeugen eines Umbruchs, der eine andere Globalisierung, einen anderen Kapitalismus hervorbringt als den, den wir kannten? Und nicht zuletzt: Was ist aus den Haupt- und Staatsakteuren der Weltmarktkonkurrenz, den Multis, und ihrer Erfolgsstrategie Nr. 1, den GVCs, geworden?


Globale Wertschöpfungsketten

Global value chains (GVCs), zu Deutsch: Globale Wertschöpfungsketten, mit diesem Fachausdruck aus der internationalen politischen Ökonomie wird ein zentrales Element der heutigen Weltwirtschaft beschrieben. Eingeführt wurde dies Konzept von Managementspezialisten und komparativ arbeitenden Ökonomen, die die Praktiken multi- und transnationaler Konzerne im Einzelnen untersucht haben. Michael Porter, Professor an der Harvard Business School, hat als einer der ersten die Bedingungen erfolgreicher Strategien in der internationalen Konkurrenz systematisch untersucht. Dazu hat er die verschiedenen Aktivitäten in jedem für einen Markt produzierenden Unternehmen, von der ersten Idee, über den Entwurf, die Produktionsplanung, den Einkauf der notwendigen Materialien usw. bis zur Vermarktung und zum schließlichen Endverkauf einer Ware, als aufeinander folgende Phasen einer langen Wertschöpfungskette unterschieden. Seit jeher haben große Unternehmen diesen Gesamtprozess arbeitsteilig organisiert, in spezialisierten Abteilungen - von der Forschung und Planung bis zu Marketing und Vertrieb. Jede einzelne Phase lässt sich weiter unterteilen, so entsteht eine lange Kette von Teilprozessen mit jeweils unterschiedlichen Beiträgen zur gesamten Wertschöpfung im Unternehmen.(2) Die Strategie, viele dieser Teilprozesse auf unterschiedliche Standorte zu verteilen, um für jeden Teilprozess die jeweils günstigsten Bedingungen ausnutzen zu können, folgte auf dem Fuße. Erst dank der Doppelstrategie des outsourcing und offshoring (Auslagerung von immer mehr Teilaktivitäten an Externe im In- und Ausland) veränderten sich die Konzernstrukturen dauerhaft. Seit den 1990er Jahren sind die Konzepte und Strategien der Multis ständig verfeinert worden. Die Masse der Forschungsliteratur zu den GVCs wächst rasant und in den offiziellen Untersuchungen der OECD, der Weltbank, der ILO, der WTO und anderer internationaler Organisationen hat das Konzept der GVCs seit Anfang dieses Jahrhunderts seinen Eingang gefunden.(3)


Die neue Welt der globalen Netzwerke

Die klassische Außenhandelslehre der politischen Ökonomie - und damit begann diese Wissenschaft im Zeitalter des Merkantilismus - beruhte noch auf einer simplen Vorstellung von der Struktur internationaler Arbeitsteilung, die räumlich, geographisch deutlich getrennt war. Was in dem einen Land, an einem Ort für den Export produziert wurde, das musste anschließend, fix und fertig verpackt, über die Landesgrenzen zu einem anderen Marktort transportiert und dort an den Mann gebracht werden. Ganz selbstverständlich wurde angenommen - von den frühen Merkantilisten bis zu Ricardo und Mill - dass Unternehmen sich an einem bestimmten Ort, ihrem "Standort" befinden und nicht an mehreren "Standorten" zugleich sein können. Produzenten, Händler, Banken, Transporteure, sie alle hatten eine klare "Nationalität" oder besser "Staatsangehörigkeit", die "Standorte" der Produktion wie die "Marktorte" waren säuberlich geschieden. Mobil waren (mit Staatshilfe) die Arbeiter (aber nicht die Bauern), das Handels- und Finanzkapital, aber das Manufakturkapital sollte daheim am gleichen Standort bleiben und wurde notfalls vom obersten Volkswirt Staat am Auswandern gehindert, ebenso wie die hoch qualifizierten Arbeitskräfte, die man notfalls mit Gewalt festhielt.(4) Dass ein Produzent, ein Unternehmen an mehreren "Standorten" zugleich sein könnte, daher die durchaus verschiedenartigen Vorteile vieler Standorte zugleich ausnutzen würde, das war nicht vorgesehen, es geschah auch nicht. Nur das internationale Handelskapital (und das jahrhundertelang damit eng verbandelte Finanzkapital) war mobil und an vielen Orten zugleich präsent; anders wäre internationaler Handel auch nicht möglich gewesen. Da aber auch das mobilste Handelskapital nicht an allen internationalen Handelsplätzen zugleich sein konnte und sich auf wenige, urbane Handelszentren beschränken musste, entstanden als erstes transnationale, mitunter auch globale Handelsketten - Ketten von Warenhandelstransaktionen zwischen Handelskapitalen, die über viele Ländergrenzen, von Region zu Region, von Kontinent zu Kontinent die wichtigen Markt- und Handelsplätze (zugleich die Knotenpunkte des Weltschiffverkehrs) miteinander verknüpften. Das Handelskapital war das erste, das transnationale Netzwerke von Filialen, Kontoren und zugleich Netze von Partnerschaften mit anderen Handelskapitalien in anderen Ländern, an anderen Orten konstruierte und unterhielt.(5) Mit dem Welthandel, mit Handelsketten und -Netzwerken, beginnt der Kapitalismus als Weltsystem.(6)

In den Multi- und Transnationalen Unternehmen der Gegenwart wird die gesamte Wertschöpfungskette von Anfang bis Ende aufgespalten und kann (im Prinzip) in beliebig vielen Einzelteilen und -abschnitten beliebig oft und beliebig weit ausgelagert werden. Indem mehr und mehr multinationale Konzerne auf diese Strategie setzen, verändert sich die Form der internationalen Konkurrenz und zugleich die Organisation ganzer Industriezweige und Weltmärkte. Dank seiner transnationalen/globalen Wertschöpfungsketten ist kein Multi noch an einen Standort allein gebunden, jedes kann an vielen Produktions- und Marktorten zugleich sein. "Global reach", globale Reichweite hieß und heißt die Parole. Die erreicht man, indem man viele und möglichst günstige Standorte miteinander verknüpft, in einer mehr oder weniger klar hierarchischen oder quasi-marktlichen, vertragsmäßigen Verbindung, mit einer Kombination von Tochter- und Partnerunternehmen, die im Rahmen der Konzernstrategie kooperieren (zum Teil auch konkurrieren). Entgegen der alten Logik vertikaler Integration vor- und nach gelagerter Produktionsphasen und -stufen unter einem Konzerndach setzt die neue Strategie auf vertikale Desintegration. Die meisten Zulieferer und Zuarbeiter in den transnational gespannten Kooperationsnetzen bleiben selbständige Unternehmen, Konzentration und Zentralisation des Kapitals werden entkoppelt, eine neue Art der "Zentralisation" des Kapitals entsteht. Globale Wertschöpfungsketten mit vielen beteiligten Zulieferern an vielen Standorten zugleich lassen sich nur erfolgreich organisieren und kontrollieren, wenn ein Unternehmen die Rolle des Führers (des Kontrolleurs, Organisators, Planers) spielt, nach dessen Vorgaben sich die anderen richten. Wenn der Konzern nicht mehr alles selbst produziert und verwertet, wenn er sich zur "Unternehmensgruppe" wandelt, daher Allianzen mit vielen Privatunternehmen an vielen Standorten zugleich kontrollieren und managen muss, braucht er mehr Planung, mehr Normierung und Standardisierung als zuvor. Gleich ob die Riesenspinne im Netz, ob es sich also um ein "buyer driven" (Nachfrage getriebenes) oder "producer driven" (Produktion) globales Netzwerk handelt, gleich ob ein Einzelhändler wie Wal-Mart oder ein Technologie-Produzent wie GM oder GE.

Wenn die Zahl und die Reichweite der globalen Wertschöpfungsketten der Multis wachsen, verändert sich die Handelsstruktur - das Volumen des "Intra-Firm" Handels (der Transaktionen innerhalb eines Unternehmens) nimmt ab, das Volumen des "Inter-Firm" Handels (der Transaktionen zwischen formell selbständigen Unternehmen) nimmt zu. Gleichzeitig wächst das Volumen des Handels, der Transaktionen mit "intermediären Gütern" (das ist alles von bereits vorbearbeiteten Rohstoffen, über Komponenten und Teilfabrikaten bis zu Halbfabrikaten und Vorprodukten verschiedenster Stufe) im Verhältnis zum Handel mit Fertigprodukten. Und genau das zeigt die internationale Handelsstatistik: Ein rasanter Anstieg der Importe von "intermediären Gütern", die weiterverarbeitet und weiterexportiert werden - zur nächsten Stufe in der globalen Wertschöpfungskette, an einem anderen Ort. Der Anteil der Importe von "intermediären Gütern" an allen Weltimporten zusammen genommen beträgt mittlerweile deutlich mehr als die Hälfte (mehr als 54 Prozent)(7). Ein rasch wachsender Teil dieser "intermediären" Importe besteht aus "maßgeschneiderten" (customized) Produkten, die nur für bestimmte Kunden innerhalb eines bestimmten Netzwerks bestimmt und zu gebrauchen sind; ein weiterer Hinweis auf die zunehmende straffere Kontrolle der Zentralen über die expandierenden Wertschöpfungsketten.

Um solche Netzwerke global zu spannen, um sie zu erweitern, um sie zu kontrollieren, braucht es niedrige bzw. sinkende Transportkosten und funktionierende Kommunikationsnetzwerke; ohne ITC, ohne die Technologie des Internet, keine GVCs. Globale Wertschöpfungsketten können überdehnt werden, die Transport-, Kommunikations- und Koordinationskosten übersteigen dann den Vorteil, den das führende Unternehmen aus der Auslagerung an Zulieferer und weiterverarbeitende Unternehmen an anderen Standorten hat. Um solche Überspannungen zu vermeiden, tun die organisierenden, führenden Konzerne einiges: Sie investieren in das Netzwerk, d.h. in die ferneren und weiteren Glieder der Wertschöpfungskette. Je transnationaler, je globaler die Wertschöpfungsketten wurden, desto mehr wandelten sie sich zu den Hauptkanälen der direkten (nicht finanziellen) Auslandsinvestitionen (die in ihrer großen Masse von Multinationalen Konzernen getätigt werden). Je länger, je transnationaler sie werden, desto mehr dominieren in diesen Wertschöpfungsketten Dienstleistungen, in der Regel solche, die mit Planung, Logistik, Marketing usw. zu tun haben. Aber auch produktbezogene Dienstleistungen gehen in alle Phasen der globalen Wertschöpfungsketten ein. Noch besser: Das führende Unternehmen zieht sich auf die relativ wenigen Aktivitäten zurück, die am Anfang und am Ende der Wertschöpfungskette (also beim Erfinden, Entwerfen, Planen am Anfang einer Produktion und beim Marketing, Absatz, Kundenbetreuung am Ende) liegen - und die verhältnismäßig die höchste Wertschöpfung bringen (und am profitabelsten sind). Bei vielen Gliedern der Kette, die dazwischen liegen, im eigentlich Prozess der hocharbeitsteiligen Vorproduktion, Weiterverarbeitung bis hin zur Endfertigung, sind die führenden Unternehmen nur als Lizenzgeber, als Verleiher, Vermieter und Verpachter wichtiger Produktionsmittel dabei und streichen dafür Differentialrenten ein.

Derartige Netzwerke von multinationalen Konzernen mit Partner- und/oder Tochterunternehmen in vielen Ländern gibt es schon seit den 1960er Jahren. Anfangs waren sie klein. US-amerikanische Multis haben mit einer Strategie des "global outsourcing" begonnen, indem sie Zulieferbetriebe im Ausland suchten bzw. die Endfertigung in Gestalt einfacher Assemblage von vorfabrizierten Teilen in die Länder verlagerten, wo sie ihre Waren absetzen wollten. Mexiko war ein beliebter Ort für diese frühen Produktionsverlagerungen. In den 1970er und 1980er Jahren folgten große Einzelhandelsunternehmen, die ihre transnationalen Warenketten zu globalen Wertschöpfungsketten erweiterten. In den letzten 15 Jahren sind derartige GVCs zusammen mit den Multi- und Transnationalen Konzernen, die sie betreiben, exponentiell gewachsen. Wie erfolgreich diese Strategie der Multi- und transnationalen Konzerne war, zeigt die internationale Handelsstatistik: Heute entfallen gut 80 Prozent von den gut 20 Billionen US-Dollar, die pro Jahr im Welthandel mit Gütern und Dienstleistungen umgehen, auf die GVCs, werden also von relativ wenigen multi- und transnationalen Konzernen kontrolliert.(8)

Der Schwerpunkt liegt geographisch (und nicht überraschend) in den wichtigsten Exportregionen und -Nationen der Welt. Im alten Europa ist der Anteil der GVCs am BSP mit 39 Prozent so hoch wie nirgends sonst. In Ost- und Südostasien, Heimat der Exportgiganten China, Korea und Japan, liegt er bei 30 Prozent, in Zentralamerika bei 31 Prozent. Alle übrigen Weltregionen fallen demgegenüber weit ab. Der Einfluss der GVCs ist nach Branchen verschieden, am höchsten liegt der Anteil der durch Exporte hinzugefügten Wertschöpfung bei der Herstellung von Computern, Büro- und Rechenmaschinen (gut 45 Prozent), an zweiter Stelle kommt der Motorfahrzeugbau, an dritter die Herstellung von Radios, Fernseher und anderen Geräten der Telekommunikation. Bei keiner wirklichen Weltmarktindustrie liegt dieser Anteil heute unter 25 Prozent.


Krisenpolitik und Krisenfolgen

Auf dem G20 Gipfel im April 2009 haben die versammelten Welten- und Staatslenker feierlich ihre Entschlossenheit bekundet, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Gemeint waren die Fehler der Regierungen und Zentralbanken, die nach der internationalen Banken- und Kreditkrise von 1931 zum Auseinanderbrechen des Weltmarkts, zur dramatischen Schrumpfung des Welthandels und des Weltzahlungsverkehrs geführt hatten.

Auch ohne politische Dummheiten ist der Welthandel in den ersten Jahren der Krise dramatisch eingebrochen. Nach den Zahlen der Welthandelsorganisation schrumpfte er allein im Jahre 2009 um mehr als 12 Prozent; der gesamte Rückgang in 2008/2009 belief sich auf gut 15 Prozent.(9) Das war ein unerhörtes Ereignis in der Geschichte des kapitalistischen Weltmarkts, dieser Einbruch übertraf alles, was die Geschichte des modernen Weltmarkts zu bieten hat. Bemerkenswert: Die globalen Wertschöpfungsketten, die veränderte Struktur der internationalen Produktion und des internationalen Handels haben dabei eine zentrale Rolle gespielt. Für die rasche Ausbreitung einer Finanzmarktkrise, die zunächst nur in einem Segment des US-amerikanischen Hypothekenmarkts losbrach, über die gesamte Weltwirtschaft haben sie eine Schlüsselrolle gespielt. Als Transmissionsriemen, als Beschleuniger, als Durchlauferhitzer. Das verweist auf eine weitere Besonderheit: Obwohl die führenden Konzerne ihren Alliierten in den GVCs nichts befehlen können, sondern verhandeln müssen, haben sie neben der Standardisierung sehr wirksame Hebel in der Hand, um das Ganze zu steuern, also auch um das Produktionsvolumen zurück zu fahren. Im Intra-Konzern-Handel ebenso wie im formellen Inter-Firm-Handel zwischen selbständigen Unternehmen innerhalb einer GVC spielt Kredit, der vom führenden Konzern, mitunter auch von den Alliierten in einer Kette untereinander gegeben wird, eine Hauptrolle (ebenso wie bei der Finanzierung von Investitionen in das Netzwerk bzw. die daran partizipierenden Unternehmen). Mit einem Wort, die transnationalen Konzerne, die GVCs betreiben, sind zu einer der wesentlichen und dominanten Formen des "Finanzkapitals" geworden, da sie andere Unternehmen, die zu ihrer Gruppe gehören, per Kredit finanzieren.(10) Für die globalen Wertschöpfungsketten spielt der Handelskredit eine Hauptrolle, und der Löwenanteil des internationalen Handelskredits, der einst von darauf spezialisierten Banken kam, wird heute von den Multis selbst innerhalb ihrer Allianzen und GVCs gewährt. Das gibt ihnen zugleich die Handhabe, das Verhalten ihrer Alliierten (Zulieferer, Zwischenhändler usw.) direkt zu beeinflussen.(11)

Frühere Finanzkrisen, wie die Asienkrise, hatten ähnliche Auswirkungen. Auch damals wurde die Krise als Chance zum Rück-, Um- und Neubau der GVCs von den Multis beim Schopf ergriffen. Die flexible und offene Grundstruktur erlaubt es, solche Wertschöpfungsketten fast ebenso rasch ab- wie wieder aufzubauen. So geschah es auch diesmal.(12)


Der Stand der Dinge

Wie die UNCTAD mit ihrem diesjährigen World Investment Report mit Hilfe einer erst kürzlich aufgebauten Datenbank der UN (allerdings mit Daten aus dem Krisenjahr 2010) gezeigt hat, ist einiges in Bewegung in den GVCs. Immer mehr Unternehmen, Produzenten aller Stufen, aus den Schwellen- und Entwicklungsländern sind daran beteiligt, ihr Anteil an der Wertschöpfung der Multis wächst. Es gibt eine Verlagerung von Nord nach Süd, von den entwickelten Industrie- und Welthandelsländern zu den Schwellen- und Entwicklungsländern, auch wenn der Schwerpunkt nach wie vor im globalen Norden, vor allem in der EU liegt. Was ihnen die amerikanischen, europäischen und japanischen Multis vorgemacht haben, das haben die neuen Multis aus den Schwellenländern in kürzester Zeit gelernt zu praktizieren. Chinesische, brasilianische, indische Weltkonzerne bauen ihrerseits mit massivem Einsatz GVCs auf. Vorläufig haben sie noch ihren Schwerpunkt in der vormaligen "Dritten Welt", aber längst schon reichen sie nach Europa und Nordamerika. Für die Entwicklungsländer hängt viel davon ab, ob sich ihre Unternehmen (darunter viele SMEs - mittlere und kleine Unternehmen wie in Europa auch) in die Netzwerke der von Multis aus dem Norden (oder aus den Schwellenländern) betriebenen GVCs einfügen können. Wenn bzw. soweit es ihnen gelingt, in GVCs als Partner aufgenommen zu werden, gar aufzusteigen in der Wertschöpfungskette, ist für die Weltmarktintegration ihrer Heimatländer schon etwas gewonnen.(13)

Bisher hat die Große Krise langfristige Trends in der Weltökonomie eher verstärkt und beschleunigt, statt gebrochen. Die GVC-Struktur der dominanten Multi- und Transnationalen Konzerne ist nach einem Einbruch konsolidiert und gestärkt worden, neue Gruppen sind entstanden. Der globale Süden wird immer wichtiger, der Süd-Süd Handel nimmt zu, und die Märkte in den Schwellen- und Entwicklungsländern sind für die Produzenten im Norden wie im Süden attraktiver geworden. Im Jahre 2000 war der Anteil des Süd-Süd Handels am globalen Handel mit "intermediären Gütern" etwa 25 Prozent, heute ist er auf deutlich über 50 Prozent angewachsen.(14) Mehr und mehr spielt die Musik der GVCs im Süden.

Dr. Michael R. Krätke ist Professor für Politische Ökonomie an der Lancaster University und Mitherausgeber der spw.


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin 1968.

(2) Vgl. Michael Porter, Competitive Advantage, New York 1985; ders., On Competition, Boston 1998.

(3) Vgl. z. B. Cattaneo, O., G. Gereffi and C. Staritz (eds), Global Value Chains in a Postcrisis World: A Developmental Perspective, World Bank, Washington, DC 2010; OECD, Global Value Chains: Preliminary Evidence and Policy Issues, Paris 2011; WTO and IDE, Trade Patterns and Global Value Chains in East Asia: From Trade in Goods to Trade in Tasks, Geneva - Tokyo 2011; Gary Gereffi, The New Offshoring of Jobs and Global Developments, ILO, Geneva 2006.

(4) Vgl. dazu das nach wie vor unüberholt klassische Werk von Jacob Viner, Studies in the Theory of International Trade, Chicago 1937.

(5) Und zwar noch überwiegend in der Form des Familienunternehmens.

(6) Wer mag, kann in den drei Bänden The modern World-System (1974, 1980, 1989) (dt. Das moderne Weltsystem) von Immanuel Wallerstein vieles Wissenswerte über die Anfänge des (Handels)Kapitalismus als Weltsystem nachlesen.

(7) Vgl. Timothy Sturgeon, Olga Memedovic, Mapping Global Value Chains: Intermediate Goods Trade and Structural Change in the World Economy, UNIDO, Working papers, Vienna 2011. OECD, Guidelines for Multinational Enterprises, Paris 2011; OECD, Moving up the (Global) Value Chain, Policy Brief July 2007, Paris.

(8) Vgl. Unctad, GVCs and Development: Investment and Value added Trade in the Global Economy, World Investment Report, Geneva 2013.

(9)Vgl. World Trade Organization, International Trade Statistics 2010, Washington DC 2011; World Bank, Global Economic Prospects, Washington. DC, 2010.

(10) Diese Formen und der sie fassende Begriff sind vom klassischen Begriff des "Finanzkapitals", wie ihn Rudolf Hilferding 1910 prägte, wohl zu unterscheiden. Hilferding setzte noch säuberlich geschiedene Kategorien und Kapitalsorten, hier Banken, dort Industrieunternehmen, voraus. Mit der "Finanzialisierung" schwindet der klassische Unterschied zwischen "Banken" und "Nicht-Banken" dahin.

(11) Für einen vollständig (vertical) integrierten Konzern sieht das anders aus.

(12) Vgl. Carlo Atomonte et al., Global Value Chains During the Great Trade Collapse: A Bullwhip Effect?, Centre for Economic Performance, CEP Discussion Paper No 1131, London 2012.

(13) Vgl. Margorzata Galar, Competing within global value chains, ECFIN Economic Brief, Issue 17, December 2012.

(14) William Milberg, Deborah Winkler, Trade Crisis and Recovery: Restructuring Global Value Chains, World Bank Policy Research Working Paper No 5294, World Bank, Washington DC, 2010; Timothy Sturgeon, Olga Memdovic, a.a.O., S. 25.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2013, Heft 197, Seite 13-19
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2013