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DISKURS/098: Wachstum schafft Armut (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010
Wohlstand durch Wachstum? Wohlstand ohne Wachstum? Wohlstand statt Wachstum?

Wachstum schafft Armut
Entwicklung durch Schrumpfung?

Von Pierre L. Ibisch, Lars Schmidt, Lisa Freudenberger und Martin Schluck


In den letzten Jahrzehnten ist vielen Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern bewusst geworden, dass sich die diversen lokalen Entwicklungsherausforderungen im Rahmen eines Verdichtungs- und 'Entterritorialisierungs'-Prozesses zu globalisierten Problemen und Krisen aufgeschwungen haben.


Eine stetig wachsende Zahl von Menschen erfreut sich der weiterhin differenzierenden Annehmlichkeiten und Freiheiten der modernen Konsum-Gesellschaft. Dies erfolgt auf der Grundlage der sich fortwährend intensivierenden und beschleunigenden Nutzung und Übernutzung von natürlichen Ressourcen. Die Folge menschlichen Reichtums ist die Armut in der Natur: Die Umwandlung von komplexen Ökosystemen wie Wäldern in einfachere Agrarökosysteme oder gar in naturferne urbane Systeme, der damit einhergehende Verlust an biologischer Vielfalt, ökologischen Funktionen und vom Menschen benötigten Ökosystemdienstleistungen, Bodenkontamination, -degradation und -verlust, Verschmutzung von Luft und Gewässern, Versauerung der Meere, Veränderung der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre und dadurch ausgelöster rascher Klimawandel. Die verschiedenen Krisen globaler interagierender Systeme zeigen uns letztlich die Grenzen des Wachstums auf. Die Kritik an herkömmlichen wachstumsorientierten Entwicklungsmodellen wird lauter. Welche wären eigentlich die angemessenen Konsequenzen der Wachstumskritik für die Entwicklungspolitik bzw. -zusammenarbeit?


Bisher hat es noch immer funktioniert: Entwicklung durch Wachstum ...

Ein immer größer werdender Anteil der Menschheit hat Anteil an der Transformation von vorwiegend agrarisch geprägten, mehr oder weniger geschlossenen lokalen oder regionalen (Subsistenz-)Wirtschaftsystemen in(post-)industriell geprägte Ökonomien, die in globalisierte Stoff- und Energieströme sowie Informationsflüsse integriert sind. Abgesehen von eklatanten Ausnahmen bestimmter Länder, Regionen und sozioökonomischen Schichten ist die Entwicklung im Sinne der meisten der Jahrtausendentwicklungsziele (Millenium Development Goals) zumindest bis vor kurzem vorangeschritten: weniger hungernde Menschen in extremer Armut, weniger Kindersterblichkeit, stetig wachsender Zugang zu Informationen und Kommunikation, mehr individuelle Aufstiegschancen usw..

Die entsprechende Entwicklung wird bislang wesentlich durch steigende Stoff- und Energieumsätze auf der Grundlage der Freisetzung von biologisch gespeicherter Sonnenenergie wie Holz, Kohle, Öl und Erdgas getrieben und ermöglicht. Dabei haben sich die Ressourcenbedürfnisse der industrialisierten und der sich industrialisierenden Gesellschaften trotz erheblicher entgegengesetzter Bemühungen um verbesserte Effizienz vom Bevölkerungswachstum entkoppelt: Selbst in reichen Ländern mit schrumpfender Population wie z.B. in Deutschland wächst der Konsum von Naturressourcen (z.B. Verkehrs- und Siedlungsflächenverbrauch > 100 ha/ Tag!). Mittels des globalisierten Handels betreiben diese Staaten zudem die Externalisierung von Landnutzung, industrieller Produktion und der damit verbundenen Umweltkosten. Ein entsprechendes ökologisches Defizit betrifft dabei vor allem Naturressourcen bzw. Rohstoffe. Nachdem die ersten Länder, die es schafften, auf den Zug der Industrialisierung in Europa aufzuspringen, direkt oder indirekt wesentliche Entwicklungsinputs aus der Ausbeutung von sogenannten Kolonien schöpften, erfolgt die Lenkung von Stoff- und Energieströmen heute im Rahmen eines globalisierten Handels. Die wesentliche Antriebskraft ist dabei sowohl das fortgesetzte Streben nach größerem materiellen Wohlstand im allgemeinen als auch die Vermehrung des Kapitals (= Reichtum / Status / Macht), das sich zunehmend in den Händen immer weniger Kapitaleigner konzentriert. Die Schere zwischen arm und reich wächst. Die ökologische Wachstumsdebatte dockt hier an die soziale Verteilungsdebatte an, da die aktuelle Form des globalisierten Wirtschaftens sowohl die natürlichen als auch die sozialen Systeme erodiert.

Länder mit sogenanntem ökologischem Defizit - also solche, die für die Deckung ihrer Entwicklungs- bzw. Wachstumsbedürfnisse mehr bioproduktive Fläche benötigen, als auf ihrem Territorium zur Verfügung steht - ermöglichen durch ihren Ressourcenhunger und im Rahmen eines mehr oder weniger fairen Handels armen Ländern mit erheblichem Entwicklungswunsch, sich stärker in Märkte zu integrieren. Ihr primäres Ziel ist dabei das Wachstum der Wirtschaft. Dieses Ziel ist dabei differenziert zu betrachten. Wachstum einerseits als politische Notwendigkeit für Beschäftigung und somit als Garant für finanzielle und gesellschaftliche Stabilität eines Staates. Und andererseits als systemimmanente Funktion des Kapitalismus und als entsprechender Zwang. Dies führt zu einem deutlichen Anschwellen der Land- und Naturressourcennutzung zur Deckung einer weltweiten Nachfrage v.a. nach Rohstoffen und agrarisch produzierten Gütern, wie etwa Grundnahrungsmittel (z.B. Reis), Futtermitteln (z.B. Soya) oder Bioenergieträgern (z.B. Zucker/Ethanol, Palmöl).

Die zum Teil sehr hohen Wirtschaftswachstumsraten in den ärmeren und sich schneller entwickelnden Ländern mit ökologischen Reserven (im Gegensatz zu ökologischen Defiziten) korrelieren mit Prozessen der Ökosystemtransformation, vor allem der Abholzung von ehemals großen Waldflächen. Länder auf höherem Entwicklungsniveau (nach Human Development Index) zeigen scheinbar ein günstigeres Verhalten in Bezug auf Umwelt- und Naturschutz. In Folge von schärferen gesetzlichen Bestimmungen kommt es oftmals tatsächlich zur Verbesserung ausgewählter Umweltparameter, wie etwa der Wasser- und Luftqualität. In vielen Fällen wird die Waldfläche durch Aufforstung gemehrt. Die entsprechende Theorie, dass Länder also lediglich Wirtschaftswachstum benötigen, um einen sozial bzw. gar ethisch erstrebenswertes Entwicklungsniveau zu erreichen und zudem ab einem bestimmten Punkt auch umweltfreundlicher zu werden, ist aber trotzdem ein Mythos. Sie wird insofern Lügen gestraft, als dass die entwickelten Länder in Folge eines bedeutenden infrastrukturellen Fußabdrucks (v.a. bezüglich des Zustands ihrer Ökosysteme, Arten und Populationen) ungünstig dastehen. Zudem wird ihre lokale, partielle Umweltfreundlichkeit durch einen Export von Umweltkosten (in Form von Entwaldung, Artenverlust, Verschmutzung, Wasserverbrauch etc.) und damit auch durch einen globalen Umweltwandel erreicht.


Nachhaltigkeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Im Zuge des Deutlicherwerdens von sogenannten Kipp-Punkten (tipping points) globaler Systeme, welche vor allem auch durch die an Bedeutung gewinnende Klimawandelforschung aufgezeigt werden, scheint fast 40 Jahre nach der ersten wissenschaftlichen Warnung vor den ökologischen Grenzen des Wachstums die entsprechende Wachstumskritik wieder salonfähig zu werden. Dies geschieht nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der aktuellen Krise des Wirtschafts- und Finanzsystems. Die der Wachstumskritik entspringenden alternativen Entwicklungsmodelle unterscheiden sich allerdings im Ausmaß ihrer Radikalität und der Bereitschaft, die tatsächlichen Wurzeln der Probleme zu erkennen und zu attackieren. Eher sektoriell denkende Klimaschützer etwa setzen auf eine beschleunigte Dekarbonisierung des Wirtschaftswachstums, in Form des Ersetzens fossiler Energieträger durch solche regenerativer Art. Sie verkennen, dass - abgesehen vom Klimawandel - in Folge von Bevölkerungs- und Konsumwachstum und entsprechend steigender 'Landnahme', Ökosystemtransformation sowie erhöhten Stoffumsätzen weitere globale Systemkrisen entstanden sind, welche eine Nachhaltigkeit im Brundtlandschen Sinne in weite Ferne rücken lassen: Allein der fortschreitende Verlust an biologischer Vielfalt bedeutet, dass die gegenwärtige Erdbevölkerung den nachfolgenden Generationen immer weniger Ressourcen für deren Entwicklung überlässt; von vergleichbaren Chancen kann nicht die Rede sein. Parallel zum sich beschleunigenden Klimawandel wird eine bedrohliche Entwicklungshypothek aufgebaut. Diese Hypothek wird von Menschen zu bezahlen sein, die schon geboren sind sowie von ihren Kindern - und zwar unter Bedingungen eines allein angesichts des Bevölkerungswachstums immens wachsenden und brutaler werdenden globalen Wettbewerbs.

Die Globalisierung von Umweltproblemen und das Annähern an globale Kipp-Punkte bedeutet auch, dass entsprechende regulierende Ökosystemdienstleistungen nicht mehr nach Maßstäben herkömmlicher Ökonomie zu fassen sind, wie es dennoch immer wieder versucht wird. Plötzlich stellt die Erhaltung von treibhausgasfixierenden bzw. speichernden borealen Ökosystemen in menschenleeren Regionen einen atopischen Beitrag zur Armutsbekämpfung in den Tropen dar. Zur langfristigen Verhinderung von Elend ist sie sogar noch wichtiger als eine lokale Intervention in einem armen Land. Mit solchen Sachverhalten angemessen umzugehen ist eine enorme ethische und entwicklungspolitische Herausforderung.


Armutsbekämpfung und Wachstumsbekämpfung

Die klassische Entwicklungspolitik, die auf Stärkung von globaler Integration, Wachstum und Konsum setzt, mehrt nicht nur die Ungerechtigkeit gegenüber jungen und kommenden Generationen, sondern erhöht auch die 'Fallhöhe' und Vulnerabilität der sich entwickelnden Gesellschaften. Sie waren bislang aufgrund ihrer Armut und der relativ geringeren Einbindung in den Welthandel zumindest weniger empfindlich gegenüber globalen Systemrisiken. Wenn Wohlstand und Reichtum kurz- bis mittelfristig Armut und Elend schüren, dann muss Armutsbekämpfung durch Wachstum in (den ärmsten) Entwicklungsländern mindestens von signifikanter Reichtumsreduktion in den 'entwickelten' Ländern begleitet werden. Diese 'entwickelten' Länder befinden sich allerdings in einem multiplen Dilemma: Sie haben keinerlei Legitimation, Entwicklungsländern zu empfehlen oder gar vorzuschreiben, dass diese nicht ihrem Wachstums- und Konsumbeispiel folgen. Es bleibt ihnen nur die Möglichkeit ärmeren Ländern vorbildhaft zu zeigen, dass weniger auch mehr sein kann. Allerdings würden sie durch Einleitung einer eigenen ökonomischen Schrumpfung im härter werdenden globalen Wettbewerb zumindest kurzfristig erhebliche ökonomische, soziale und politische Risiken eingehen. Gleichzeitig ist das Wachstum in Entwicklungsländern bislang an die Nachfrage in Industrieländern gekoppelt - durch Schrumpfung in Industrieländern wäre Wachstum auch in Entwicklungsländern zwangsläufig beeinträchtigt, was die entwicklungspolitischen Herausforderungen nicht kleiner werden ließe.

Die Förderung der Strukturanpassung in Entwicklungsländern und deren stärkere Einbindung in die globalen Märkte auch zur Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse in den entwickelten Staaten gewinnt im Zuge des globalen Umweltwandels keine zusätzliche Berechtigung, sondern wirkt problemverschärfend. Investitionen in die Erhaltung von Naturressourcen, Nord-Südkompensation von Ökosystemdienstleitungen, Anpassungsfähigkeit an den Umweltwandel, sowie Nachhaltigkeitsbildung und -forschung können nicht falsch sein. Aber sie müssen deutlichere Rückwirkungen auf die Geberländer entfalten. Das Anstreben der Entglobalisierung und der entsprechenden Autosuffizienz von Naturressourcen- und Landnutzung (auf eigenem Territorium!) ist die glaubhafteste und ethisch angemessenste Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist aber ohne Schrumpfung und Zurückschrauben von Ansprüchen nicht zu haben. Ein entsprechender strategischer Diskurs zur Entwicklungsarbeit vor der eigenen Haustür ist nicht neu, aber nach wie vor eklatant unterentwickelt.


Prof. Dr. Pierre L. Ibisch, Biologe, Professur für Naturschutz und derzeitig Forschungsprofessur "Biodiversität und Naturressourcenmanagement im globalen Wandel", langjährige Tätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit. Lars Schmidt, MSc. Global Change Management, freier Gutachter im Bereich Wald, Klima- und Naturschutz. Lisa Freudenberger, MScInternationaler Naturschutz, Doktorandin im Promotionsprogramm "Klimaplastischer Naturschutz". Dipl.-Ing. (FH) Martin Schluck, wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Die farbigen Karten können in der Online-Version dieses Rundbriefes eingesehen werden:
www.forumue.de.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010, S. 13-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2010