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DISKURS/107: Impulse für Wirtschaftsdemokratie (Sozialismus)


Sozialismus Heft 11/2011

Impulse für Wirtschaftsdemokratie
Anregungen aus dem Neuen Ökonomischen System der DDR für eine sozialistische Alternative

Von Klaus Steinitz


In der Diskussion um Wirtschaftsdemokratie kann auch die Auswertung der Umsetzung, Schwächen und Fehlentwicklungen wirtschaftsdemokratischer Erfordernisse im Realsozialismus lehrreich sein.


Seit einigen Jahren stehen Fragen einer »neuen Wirtschaftsdemokratie«, die von den Veränderungen der kapitalistischen Strukturen im Zusammenhang mit dem globalen Finanzmarktkapitalismus und den neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ausgehen, im Vordergrund.(1) Dabei konzentriert sich die Diskussion darauf, dass eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft als ein unverzichtbares Kernstück die Demokratisierung der Wirtschaft einschließen und letztere mit einer Änderung der Eigentumsverhältnisse, insbesondere der Einschränkung und schließlich Überwindung der Marktmacht der Großunternehmen, einhergehen muss. Die Änderung der Eigentumsstrukturen durch die Herausbildung und Stärkung verschiedener Formen des Gemeineigentums und auch gemischter privat-öffentlicher Eigentumsverhältnisse bedeutet jedoch nicht automatisch eine Stärkung der Wirtschaftsdemokratie. Sie schafft dafür aber wichtige Voraussetzungen. Wirtschaftsdemokratie verlangt eine reale Verfügung der Beschäftigten und der Gesellschaftsmitglieder über das Eigentum und eine wirksame Einflussnahme auf den Produktions- und Reproduktionsprozess. Ungeachtet des Scheiterns des Realsozialismus(2) in diesen Fragen bieten dazu die avanciertesten wirtschaftlichen Reformen der DDR in den 1960er Jahren, die unter dem Namen Neues Ökonomisches System (NÖS) bekannt geworden sind, einen geeigneten Bezugspunkt.


Das Neue Ökonomische System (NÖS) in der DDR

Für die Beurteilung der Reformfähigkeit und der Entwicklungsmöglichkeiten des Realsozialismus in der DDR kommt der Analyse des NÖS, seiner richtigen Ansätze ebenso wie seiner substanziellen Defizite, seiner Ergebnisse und der Ursachen für seinen Abbruch eine wichtige Rolle zu.(3)

Das NÖS wurde in den Jahren 1962/63 intensiv vorbereitet. Das Inkrafttreten dieser Reform kann mit dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 und der Veröffentlichung der Richtlinie zur Einführung des NÖS im Juni dieses Jahres datiert werden. Seine umfassendste Wirksamkeit hatte es in den Jahren 1964 und 1965. Ende 1965 fand das 11. Plenum des ZK der SED, das so genannte »Kahlschlagplenum« statt, auf dem vor allem Liberalisierungstendenzen in der Kultur einer rigiden, scharfen Kritik unterzogen wurden, die nicht ohne negative Auswirkungen auf das NÖS blieb. Weitere Einschnitte gab es 1968 mit dem Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten in die Tschechoslowakei, die zum Ende des Prager Frühlings führten. 1970/71 war das NÖS definitiv am Ende. Auf dem 14. Plenum des ZK der SED im Dezember 1970 gab es eine grundsätzliche Kritik an der Wirtschaftspolitik Ulbrichts und an wichtigen Grundzügen des von ihm maßgeblich initiierten NÖS. Wenig später, im Mai 1971, erfolgte der Rücktritt Ulbrichts als Generalsekretär der SED. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 wurde eine wieder stärker auf die dirigistische Planung und Leitung gerichtete Wirtschaftspolitik beschlossen, womit sich die SED faktisch von Grundideen des NÖS verabschiedete.(4)

Das Neue Ökonomische System sollte vor allem dazu beitragen, die Effizienz der Produktion und des gesamten Reproduktionsprozesses zu erhöhen, um dadurch auch wieder eine höhere wirtschaftliche Dynamik zu erreichen und den wissenschaftlich-technischen Fortschritt beschleunigt und umfassend zu nutzen.

Dazu wurden insbesondere folgende Veränderungen in Angriff genommen: die Eigenverantwortung der Betriebe und Vereinigungen der volkseigenen Betriebe (VVB), die später zu Kombinaten umgebildet wurden, erhöhen; die ökonomischen Interessen der Betriebe besser berücksichtigen, damit sie zu einer wichtigen Triebkraft für die Verbesserung der ökonomischen Ergebnisse der Betriebe werden konnten; und den Wertkategorien einen höheren Stellenwert im betrieblichen, Branchen- und gesamtwirtschaftlichen Reproduktionsprozess sichern. Dies sollte insbesondere erreicht werden durch:

• eine Stärkung langfristiger Orientierungen für die ökonomische und wissenschaftlich-technische Entwicklung durch eine höhere Rolle des Perspektivplans (in der Regel Fünfjahrplan) gegenüber den Jahresplänen;

• einen größeren Entscheidungsspielraum für die Betriebe und eine höhere Flexibilität der Produktion, indem sie weniger verbindliche Vorgaben (Planauflagen) erhalten und in den Wirtschaftseinheiten ein größerer Teil des Gewinns verbleibt, über dessen effektivsten Einsatz für die erweiterte Reproduktion und die Modernisierung sie selbst entscheiden können;

• stärkere Berücksichtigung der ökonomischen Interessen der Betriebe an einer effektiven Nutzung ihrer Ressourcen, d.h. an einer intensiv erweiterten Reproduktion. Dazu sollten die Investitionsmöglichkeiten der Betriebe für Modernisierung und Kapazitätserweiterung direkt an die erzielten ökonomischen Ergebnisse, vor allem an die Höhe und Dynamik der Gewinne gekoppelt werden - Anwendung des Prinzips der Eigenerwirtschaftung der Investitionen anstelle der Zentralisation der Gewinne im Staatshaushalt und ihrer zentralen Umverteilung. Als Steuerungsinstrument hierfür sollten langfristige Gewinnnormative ausgearbeitet werden;

• Veränderungen in den Kriterien zur Beurteilung der Wirtschaftstätigkeit der Betriebe. Während bisher die Kennziffern der quantitativen Produktionssteigerung, vor allem die industrielle Warenproduktion, im Vordergrund standen, sollten die Ergebnisse der Betriebe und VVB bzw. Kombinate vor allem nach Kriterien der Effizienz und der Qualität der Produktion beurteilt werden: Die Nettoproduktion, in der die Senkung des Aufwands an vergegenständlichter Arbeit zum Ausdruck kommt, die Selbstkostensenkung, und insbesondere die Gewinnentwicklung sollten zu den bestimmenden Kriterien für die Beurteilung der Wirtschaftstätigkeit der Betriebe werden. Hierfür sollten u.a. durch die Vervollkommnung der Preisbildung und die Bildung der schon erwähnten langfristigen Gewinnnormative Voraussetzungen geschaffen werden.

Zu welchen Ergebnissen haben die Wirtschaftsreformen zur Einführung des NÖS geführt? Die Diskussion der mit dem NÖS verbundenen Probleme haben dazu beigetragen, das ökonomische Denken in den Betrieben und wirtschaftsleitenden Organen, das Erkennen der ökonomischen Bedingungen und Zusammenhänge der Wirtschaftsprozesse, darunter der Beziehungen zwischen Innovationen und Effizienz zu fördern. Die Zeiten des NÖS waren auch die fruchtbarste Periode für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung in der DDR und für interessante und anregende Debatten unter den Ökonomen.

Hinsichtlich direkt messbarer ökonomischer Effekte waren die Ergebnisse widersprüchlich. Nach den Stagnationsjahren Anfang der 1960er Jahre gab es ab 1964 ein kontinuierlicheres Wachstum auf relativ hohem Niveau, ca. 5% jährliches Wachstum des Nationaleinkommens und der industriellen Produktion. Es gelang, die Potenziale der lebendigen Arbeit besser auszunutzen und verdeckte Arbeitslosigkeit abzubauen sowie das vorhandene Produktionspotenzial besser auszulasten.(5) Dazu haben die Reformmaßnahmen des NÖS beigetragen. Welchen Anteil sie daran hatten und wieviel auf die Grenzschließung im August 1961 zurückzuführen war, kann jedoch nicht genauer bestimmt werden.

Die grundlegenden Schwächen der wirtschaftlichen Entwicklung unter den Bedingungen des Staatssozialismus wurden jedoch auch in der Zeit des NÖS nicht überwunden. Wesentliche Hemmnisse für die Erhöhung der Effektivität und für die Verbesserung der Innovationsfähigkeit blieben bestehen.

Hier hat es sich ausgewirkt, dass im Unterschied zu Ungarn (János Kornai) und der Tschechoslowakei (Ota Sik) zu wenig daran gearbeitet wurde, eine umfassende und theoretisch fundierte Basis für das NÖS zu schaffen. Als zentrale Aufgabe des NÖS wurde festgelegt: die »organische Verbindung der wissenschaftlichen Führungstätigkeit in der Wirtschaft und der zentralen staatlichen Planung mit der umfassenden Anwendung der materiellen Interessiertheit in Gestalt des in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel«.(6) Es ging um die Art und Weise der Planung und Leitung und um die wirksamere ökonomische Stimulierung und nicht um solche grundlegende Fragen der Weiterentwicklung der sozialistischen Wirtschaftsordnung(7) wie:

• die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse und die reale Vergesellschaftung des staatlichen Eigentums sowie die Rolle, die dabei der Wirtschaftsdemokratie zukommen muss;

• die Funktion der politischen und ökonomischen Macht in einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft, notwendige Veränderungen in den Auffassungen zu einer wirklichen Demokratisierung der Gesellschaft;

• sind Marktwirtschaft und Planung in einer sozialistischen Wirtschaftsordnung zu vereinbaren und wie könnte eine mögliche Synthese aussehen?

Es wirkte sich auch nachteilig aus, dass es kaum theoretisch fundierte und praktisch nutzbare Untersuchungen zur Rolle des Markts und der Marktbeziehungen für die Preisbildung in einer sozialistischen Gesellschaft gab.

Die Herausbildung eines menschlichen Sozialismus und Fragen der Demokratisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft spielten in der DDR im Unterschied zur CSSR kaum eine Rolle, Die Ausarbeitung der Grundlagen und der konkreten Regelungen für das NÖS und die Diskussionen um das NÖS waren im wesentlichen eine Angelegenheit der Partei- und Wirtschaftsfunktionäre und von Wirtschaftswissenschaftlern. Die Belegschaften der Betriebe und die Zivilgesellschaft waren darin faktisch nicht einbezogen.

Die Wirksamkeit des NÖS, vor allem die Entfaltung seiner potenziellen Möglichkeiten für einen lebens- und entwicklungsfähigen Sozialismus, wurde insbesondere von vier wesentlichen Faktoren gestört:

Erstens ist es während der gesamten Zeit der Existenz des NÖS nicht gelungen, die vorgesehenen Regelungen, ohne die das Gesamtsystem nicht richtig funktionieren konnte, vollständig auszuarbeiten und in die Wirtschaftspraxis einzuführen. Dies betrifft insbesondere

• das System langfristiger Normative der Gewinnverwendung, die eine substanzielle Voraussetzung für die Wirksamkeit des NÖS, insbesondere für die Eigenerwirtschaftung der Investitionen waren;

• die Herausbildung der notwendigen neuen Qualität der Perspektivpläne, deren Funktion als langfristig stabiles Steuerungselement der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung, das auch auf Änderungen flexibel reagieren kann, nicht realisiert werden konnte;

• die Schaffung eines Preissystems, das seine Funktion für eine objektive Bewertung der Wirtschaftsleistung als Basis für die Wirksamkeit des gesamten Systems ökonomischer Hebel sowie als Anreiz für eine bedarfsdeckende Produktion von Konsumgütern erfüllen kann. Der Preisbildung lag im wesentlichen noch die falsche Vorstellung zugrunde, dass es möglich sei, den objektiven Wert adäquat in administrativ festgelegten staatlichen Preisen wiederzuspiegeln. Es gelang nicht, die Defizite in den theoretischen Grundlagen der Preisbildung speziell im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Marktbedingungen und der Preisbildung zu überwinden.

Zweitens gab es in der gesamten Periode des NÖS, der Vorbereitung, der Erprobung und der praktischen Einführung wesentlicher Elemente, ständig offene oder auch versteckte Widerstände nicht nur im Politbüro der SED und in der Regierung, sondern auch in manchen Bezirks- und Kreisleitungen der SED, die nicht selten die Arbeit zur Einführung des NÖS in den VVB und Betrieben störten. Diese Widerstände und Blockierungen verstärkten sich bei auftretenden ökonomischen Schwierigkeiten und trugen in der letzten Phase zum Abbruch der Reformen bei.

Drittens wurde die praktische Einführung und Anwendung des NÖS dadurch in Misskredit gebracht, dass wesentliche Elemente überzogen wurden, teilweise illusionäre Vorstellungen hervorriefen, z.B. durch die Losung »überholen ohne einzuholen«. Dazu trug auch bei, dass ständig neue, zusätzliche Aufgaben in die ausbilanzierten Pläne mit der Begründung aufgenommen wurden, dies sei für die Beschleunigung der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Entwicklung notwendig. Praktisch führten sie jedoch häufig zu Disproportionen, Versorgungsschwierigkeiten und Produktionsausfällen an anderen Stellen.

Viertens ergab sich aus den internationalen Bedingungen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Machtwechsel in der Sowjetunion durch den Sturz von Chruschtschow und die Machtübernahme durch Breschnew im Oktober 1964 sowie durch den Einmarsch von Streitkräften des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 1968 eine für die Fortführung des NÖS sehr ungünstige internationale Konstellation, die von den konservativen Gegnern des NÖS für einen Machtwechsel durch den Sturz Ulbrichts im Mai 1971 genutzt wurde. Dieser Machtwechsel schlug sich auch in der faktischen Liquidierung des NÖS nieder.(8)

Die Entfremdung der Arbeit zu überwinden, wurde unzureichend in Angriff genommen.

Es gab insbesondere drei Grundprobleme, die während der gesamten NÖS-Zeit tabu blieben bzw. nicht ernsthaft in Angriff genommen wurden und die eine konsequente ökonomische Reform und die Herausbildung einer umfassenden Wirtschaftsdemokratie blockierten. [1] Alle Schritte, die die Machtfrage berührten, die die Sicherung der politischen Macht der SED und der führenden Rolle der Partei gefährden oder einschränken konnten, wurden abgewehrt. Ein konsequentes Durchsetzen der Grundgedanken des NÖS, insbesondere einer tatsächlich höheren Eigenverantwortung der Betriebe und Kombinate sowie auch der Regionen, stand im Widerspruch zum Machtmonopol und zur zentralistischen Planwirtschaft und wurde verhindert. Damit waren Bestrebungen zur Demokratisierung der Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft nicht nur auf der zentralen Ebene, sondern auch in den Betrieben und Regionen grundsätzlich eingeschränkt. [2] Die Herausforderungen einer sozialistischen Alternative, die Entfremdung der Arbeit zu überwinden und insgesamt bei der Lösung aller Probleme von der Zentralität der Arbeit auszugehen, wurden unzureichend in Angriff genommen. Das führte dazu, dass Arbeitsmotivation und Eigentümerbewusstsein, ungeachtet herausragender Leistungen Einzelner und auch ganzer Kollektive, sich insgesamt unbefriedigend entwickelten, die Passivität eines großen Teils der Arbeitenden nicht überwunden werden konnte und dass die neuen Anforderungen an die Individualitätsentwicklung wenig beachtet wurden. [3] Die administrative Preisfestlegung blieb erhalten, eine Preisbildung in Übereinstimmung mit den Marktgesetzen und den konkreten Marktbeziehungen wurde abgelehnt. Durch die Beibehaltung des Systems der administrativen Preisfestlegung erhielt auch das ökonomische Gerüst des NÖS, das System untereinander verflochtener ökonomischer Hebel, einen stark administrativen Charakter. Damit konnte es seine eigentliche Funktion, die ökonomischen Interessen der Betriebe stärker zu berücksichtigen, die Betriebe, Arbeitskollektive, die Leiter, Forscher und Arbeiter wirksamer für die bessere Nutzung der Ressourcen, die Steigerung von Produktivität und Effektivität und die Innovationstätigkeit zu motivieren, nur unvollständig erfüllen.(9)

Ohne die Bereitschaft und Fähigkeit, diese drei Grundprobleme kreativ, auf eine grundsätzlich neue Art und Weise zu lösen - ein entscheidendes Kriterium für die Reform- und Entwicklungsfähigkeit des Realsozialismus -, hätte, auch ohne Abbruch des NÖS, das Scheitern des sozialistischen Versuchs nicht verhindert werden können.


Wirtschaftsdemokratische Ansätze und Erfahrungen in der DDR

Ausgehend vom Charakter des Gesellschaftssystems spielten in der DDR, trotz der schon angeführten Defizite, die Arbeit und Fragen der Arbeitspolitik eine wichtige Rolle. Hier gab es vielfältige, teilweise widersprüchliche Erfahrungen. Das Recht auf Arbeit wurde auch unter komplizierten Bedingungen als eine Grundforderung des sozialistischen Versuchs konsequent durchgesetzt. Nicht unproblematisch war seine direkte Verknüpfung mit der Pflicht zur Arbeit. Das Ziel der Arbeitspolitik bestand in der Entwicklung solcher Arbeitsbedingungen, die es ermöglichen, eine Doppelaufgabe zu erfüllen: einerseits den Reproduktionsprozess so rationell zu gestalten, dass ein ständiger Leistungszuwachs und eine hohe Arbeitsproduktivität erreicht werden können, und andererseits die ständige Weiterbildung, den Schutz der Gesundheit und die Nutzung der schöpferischen Potenziale der lebendigen Arbeit zu ermöglichen. Zwischen diesen beiden Anforderungen gab es zwangsläufig auch Widersprüche, u.a. dass die für den Fordismus typische Abhängigkeit der Menschen von der Technik nicht eingeschränkt wurde. Dies traf auch auf andere Elemente entfremdeter Arbeit zu. Ein wesentliches Ziel der Arbeitspolitik bestand darin, die Arbeitszeit zu senken, was jedoch vor allem wegen der chronischen Arbeitskräfteknappheit und der Produktivitätsrückstände nicht befriedigend gelang.

Wichtige Errungenschaften, die in einer sozialistischen Alternative beachtet werden sollten, bestanden in dem starken Ausbau der sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Betreuung in den Betrieben, die sich natürlich auf die Produktionskosten und auf die Höhe der ausgewiesenen Arbeitsproduktivität in den Betrieben ausgewirkt haben. Eine für die Zukunft interessante Entwicklung in den Arbeitskollektiven vollzog sich mit der Bewegung, die Brigaden zu Kollektiven sozialistischer Arbeit und sozialistischen Lernens und Lebens zu gestalten. Diese Bewegung enthält zukunftsfähige Potenziale für die Überwindung oder zumindest Einschränkung der Isolierung der Menschen in der Arbeit, für eine Selbstverwirklichung in der Arbeit, die Stärkung von Empathie und Solidarität sowie für die Bereicherung des Lebens jedes Einzelnen.

Eng hiermit verbunden ist die Frage nach den Bedingungen, den Möglichkeiten und Begrenzungen der Individualitätsentwicklung(10) im Realsozialismus. Auch hier sind widersprüchliche Tendenzen charakteristisch: Einerseits gab es günstige Bedingungen zur Entfaltung und Nutzung kreativen Potenziale insbesondere durch das relativ hohe Niveau der Bildung und Qualifikation, durch die Systeme der soziale Sicherheit, die bewirkten, dass die heute charakteristischen Zukunftsängste kaum eine Rolle spielten. Ferner wurden soziale Voraussetzungen für eine hohe und gleichberechtigte Beteiligung der Frauen an der Erwerbsarbeit geschaffen sowie Schritte zur Verbindung von Arbeit, Lernen und Leben in den Arbeitskollektiven unternommen. Es gab auch Ansätze für die Herausbildung einer neuen, zukunftsfähigen Qualität in den Beziehungen zwischen Individuum und Kollektiv. Andererseits waren die Spielräume der Individualitätsentwicklung infolge einer fordistischen Produktionsorganisation, der stark begrenzten Möglichkeiten, eigene selbständige Tätigkeitsfelder aufzubauen, sowie durch den hohen Zeitaufwand zur Befriedigung der täglichen Lebensbedürfnisse und geringe Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung beträchtlich eingeschränkt.

Von den Leitern der Betriebe, der Abteilungen und Meisterbereiche wurden gemeinsam mit den Gewerkschaftsorganisationen Plandiskussionen und Produktionsberatungen in den Betrieben vorbereitet und organisiert, in denen die Planaufgaben und Probleme der laufenden Plandurchführung diskutiert wurden. Im Vordergrund standen Fragen, die mit der Aufdeckung von Reserven zur Beschleunigung des technisch-organisatorischen Fortschritts, zur Steigerung der Produktivität und Effizienz der Produktion und zur Verbesserung der Qualität der Erzeugnisse verbunden waren. Des weiteren wurde darüber beraten, wie die Hemmnisse für eine kontinuierliche Produktion überwunden oder zumindest eingeschränkt und die Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten verbessert werden können. Die Qualität dieser Grundformen wirtschaftsdemokratischer Einflussnahmen in den Betrieben und Unternehmen sowie auch in den wirtschaftsleitenden Organen war recht unterschiedlich. Die unterbreiteten Vorschläge blieben häufig folgenlos, wodurch das Interesse der Beschäftigten an ihnen erlahmte oder auch erlosch. Die Vorschläge, die in den betrieblichen Planentwürfen ihren Niederschlag fanden, hatten ein unterschiedliches »Schicksal«. Soweit sie ohne zusätzlichen Ressourceneinsatz realisiert werden konnten, wurden sie in die verbindlichen Planauflagen der Betriebe meist aufgenommen, soweit daran andere Voraussetzungen geknüpft waren, die durch Ressourcenknappheit auf Probleme stießen, blieben sie weitgehend unberücksichtigt. Die reale Mitbestimmung über grundlegende und perspektivische Entwicklungsprobleme der Betriebe und Kombinate blieb insgesamt marginal und unbefriedigend.

In der Qualität der Plandiskussion und im Umfang, in dem sich die Belegschaften daran beteiligten, zeigten sich zwei Grundprobleme. Erstens: Die Betriebe und Arbeitskollektive waren an »weichen« Plänen interessiert, da die Bewertung ihrer Tätigkeit und die gesellschaftliche Anerkennung oder öffentliche Kritik im wesentlichen von der Planerfüllung abhängig waren. Auch die materiellen Anreize in Form von Jahresendprämien waren weitgehend an die Planerfüllung gekoppelt. Das Interesse der Betriebe und Kombinate war dadurch weniger auf die optimale Nutzung aller Ressourcen als auf die Bereitstellung von Ressourcen (Arbeitskräfte, Rohstoffe, Ausrüstungen u.ä.) gerichtet. Es fehlte der direkte Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Ergebnissen der betrieblichen Reproduktionsprozesse - der Kostensenkung und der Erhöhung des Gewinns - und den realen Möglichkeiten der Betriebe, den Surplus für Investitionen zu nutzen. Es gab auch keinen ökonomischen Druck auf die Verbesserung der ökonomischen Ergebnisse der Betriebe, der annähernd dem Konkurrenzdruck im Kapitalismus entsprach. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass infolge der administrativ festgelegten Preise, dem weitgehenden Ausschließen von Marktpreisen, auch der Gewinn und seine Entwicklung erheblich von subjektiven Faktoren beeinflusst wurde und nur unvollständig als objektiver Gradmesser zur Beurteilung der betrieblichen Reproduktion funktionieren konnte.

Es fehlte der direkte Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Ergebnissen der Betriebe und ihren realen Möglichkeiten, den Surplus für Investitionen zu nutzen.

Daraus ergab sich ein weiteres Problem: Die im Ergebnis der Plandiskussion entstandenen Planvorschläge der Betriebe, Kombinate und Ministerien blieben oft hinter den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten zurück.

Hauptgründe dafür, dass die Plandiskussionen und Produktionsberatungen nicht zu einer tragenden Form der Wirtschaftsdemokratie wurden, lagen in den grundlegenden strukturellen Defiziten des Realsozialismus. Die zentralistische Planwirtschaft und die Konzentration der Macht im Politbüro der SED verhinderten die Delegierung wichtiger Entscheidungsvollmachten in die Betriebe und Kombinate und die Herausbildung konsequenter Formen der Wirtschaftsdemokratie an der Basis. Hemmend wirkte sich auch die schon erwähnte Tatsache aus, dass der praktizierte Wirtschaftsmechanismus dazu führte, dass die wirtschaftliche Effizienz, insbesondere der erzielte Gewinn der Betriebe, außer in einigen Betrieben und VVB, die Experimente zur Eigenerwirtschaftung durchführten, kaum eine Rolle für die Entwicklung des Reproduktionsprozesses der Betriebe spielte, da fast der gesamte Gewinn an den Staatshaushalt abgeführt werden musste. Die Starrheit und geringe Flexibilität des Reproduktionsprozesses war ein weiterer Faktor, der die Motivation der Belegschaften schwächte, sich engagiert für die Entwicklung des Betriebes einzusetzen und der zu der verbreiteten Passivität der Belegschaften beitrug.

Zusammenfassend ergibt sich: Die Plandiskussion und die Produktionsberatungen in den Betrieben und Kombinaten enthalten bedeutsame Potenziale für eine wirksamere Wirtschaftsdemokratie. Sie müssten natürlich weiterentwickelt, von Starrheit und Bürokratisierung befreit werden, größere Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen erhalten und eng mit der Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens verknüpft werden.

Im System der Planverteidigung wurden die Planvorschläge immer vor der nächst höheren Leitungsebene verteidigt - Betriebe vor der Kombinatsleitung, Kombinate vor den Ministerien, Ministerien vor der Plankommission und der Gesamtplan vor der Regierung und danach im Parlament (in der DDR-Volkskammer und ihren Ausschüssen). Entsprechend erfolgten auch die Planverteidigungen der regionalen Leitungs- und Planungsorgane. An all diesen Beratungen nahmen jeweils Vertreter der zuständigen Gewerkschaftsorganisation teil. Die Schwächen lagen hier u.a. darin, dass der gewerkschaftliche Einfluss auf die Entwicklung der Produktion und der Arbeitsbedingungen meist gering blieb, dass es kaum andere zivilgesellschaftliche Organisationen wie Umweltverbände, Organisationen des Verbraucherschutzes u.ä. gab, die in diese Planverteidigungen hätten einbezogen werden müssen. Im Ergebnis dieser Verteidigungen wurden teilweise unrealistische Aufgaben festgelegt oder wenig begründete Korrekturen an den Planvorschlägen vorgenommen, um die Übereinstimmung mit den sogenannten volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten (ein »Äquivalent« für die heutigen Sachzwänge) zu sichern. Auf den Inhalt der Planverteidigungen wirkte sich natürlich auch die ungleiche Machtverteilung zwischen der Zentrale und den nachgeordneten Institutionen aus.

Auch hier gilt, dass es bei grundlegenden Änderungen im Gesamtsystem der Planung und Leitung einer sozialistischen Volkswirtschaft wichtige Möglichkeiten gibt, diese Formen und die dabei gesammelten Erfahrungen für den Ausbau und die Stärkung der Wirtschaftsdemokratie zu nutzen. Dafür ist es u.a. notwendig, neben den Gewerkschaften weitere zivilgesellschaftliche Organisationen und Interessenverbände einzubeziehen und deren Einfluss auf die Entscheidungen zu erhöhen. Dies betrifft vor allem solche Prozesse, die die Lebensqualität der Menschen, die Arbeitsbedingungen und den sozial-ökologischen Umbau betreffen. Eine überzogene Zentralisierung von Leitungs- und Planungsprozessen muss verhindert werden. Das erfordert, nur solche Prozesse in die zentrale Planung einzubeziehen, die für die Gesamtwirtschaft wichtig sind, d.h. mit dem Einsatz größerer Investitionspotenziale und mit der Durchführung grundlegender Strukturveränderungen der Produktion und der Lebensweise verbunden sind. Dies schließt natürlich eine radikale Reduzierung des Umfangs der in den Plänen enthaltenen Nomenklaturen und Kennziffern ein. Zugleich gilt es, die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch eine leistungsfähige volkswirtschaftliche Gesamtrechnung mit einem adäquaten, reaktionsfähigen Informationssystem zu qualifizieren.

Als wichtiger Bestandteil des Planungssystems wurden in den Territorien - in den Städten, Kreisen und Bezirken (in der DDR waren Anfang der 1950er Jahre die 5 Länder in 14 Bezirke umgewandelt worden) - Planvorschläge und Pläne ausgearbeitet. In den 14 Bezirken und in der Hauptstadt der DDR Berlin (Ost) wurden territoriale Komplexberatungen durchgeführt. Hier kamen Vertreter der Regionen, der Branchen (Ministerien und Kombinate), der Querschnittsbereiche (Ministerien für Finanzen, Außenhandel, Wissenschaft und Technik, Materialwirtschaft u.a.) und der Staatlichen Plankommission (SPK) unter Leitung von Regierungsmitgliedern zusammen, um gemeinsam über die zukünftige Entwicklung zu beraten sowie erforderliche Festlegungen zu treffen. Im Vordergrund dieser Planberatungen in den Territorien standen folgende Fragen: Wie können die für die Erfüllung der Planaufgaben notwendigen regionalen Ressourcen gesichert werden? Welche sozialen und auch ökologischen Aufgaben und Folgen für die Entwicklung der Region ergeben sich aus den in den Plänen vorgesehenen Strukturveränderungen? Welche Aufgaben zur Entwicklung der Infrastruktur und zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in den jeweiligen Territorien können in die Pläne aufgenommen werden? Wie können in den Territorien die zwischen den verschiedenen Planaufgaben vorhandenen Widersprüche gelöst werden?

Auch in der Institution territoriale Komplexberatung sind wirtschaftsdemokratische Potenziale enthalten. Sie ergeben sich einmal aus den spezifischen Möglichkeiten, branchen- und regionalspezifische Interessen auszugleichen, zum anderen aus der Mitwirkung der gewählten Interessenvertretungen in den Regionen (Land-, Kreistage) an Planentscheidungen und aus der Teilnahme der Gewerkschaften und anderer zivilgesellschaftlicher Organe an diesen Beratungen. Das ist besonders wichtig, weil dort Entscheidungen getroffen werden können, die die Arbeitsmöglichkeiten und -bedingungen sowie die Lebensverhältnisse der Bevölkerung unmittelbar beeinflussen. Diese Formen müssten weiterentwickelt werden durch breitere Beteiligung der Bevölkerung an wichtigen Entscheidungen, die ihr zukünftiges Arbeiten und Leben betreffen, und durch die Stärkung der Möglichkeiten und der Verantwortung der Gebietskörperschaften für eine regionale Strukturpolitik. Auf lokaler Ebene gibt es vielfältige Möglichkeiten für kreative, zukunftsorientierte kommunale Projekte, z.B. durch die Selbstversorgung von Kommunen mit Energie auf Basis regenerativer Energien, durch den Ausbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur und die Schaffung von Arbeitsplätzen in sozialen und ökologischen Bereichen.

Leistungsvergleiche zwischen Betrieben vergleichbarer Strukturen und innerbetrieblich zwischen Arbeitskollektiven wurden als Erfahrungsaustausch und für die Verbesserung der Wirtschaftstätigkeit genutzt. Dabei ging es u.a. um eine rationellere Produktions- und Arbeitsorganisation und um die effektivere Gestaltung der Innovationsprozesse, insbesondere zur schnelleren Überführung von Forschungsergebnissen in die Produktion. Hier liegt ein spezifischer Vorzug gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse gegenüber dem Privateigentum, das auf Geheimhaltung von guten Erfahrungen und neuen Erkenntnissen (damit sind nicht Patente gemeint) gegenüber den Konkurrenten beruht. Der Erfahrungsaustausch könnte auch schon heute im Interesse der Erweiterung und Qualifizierung der Mitbestimmung unter Betriebsräten verschiedener Betriebe stärker genutzt werden.

Ein potenzieller Vorteil des gesellschaftlichen Eigentums gegenüber den um höchste Profite konkurrierenden kapitalistischen Eigentümern müsste darin bestehen, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und Kooperation in den Wertschöpfungsketten regional, gesamtwirtschaftlich sowie international effizient und rationell zu gestalten. Dieser potenzielle Vorteil konnte jedoch in der DDR nur völlig unzureichend zur Wirksamkeit gelangen. Gründe hierfür waren vor allem das Zurückbleiben der internationalen Arbeitsteilung und die damit verbundene relativ geringe internationale Spezialisierung und Kooperation zur effektiven Gestaltung komplexer internationaler Wertschöpfungsketten. In diesen geht es zum einen um Verflechtungen und Kooperation von der Forschung bis zum Absatz, von der Bereitstellung der erforderlichen Materialien und Zulieferungen bis zur Herstellung des kompletten Finalerzeugnisses einschließlich der erforderlichen Software. Die unzureichende internationale Arbeitsteilung führte zu einer Zersplitterung der Forschung, der Investitionen und der Produktion auf ein viel zu breites Produktionsprofil mit der Folge zu hoher Kosten und beträchtlicher Zeitverluste bei der Realisierung von Investitionen. Zum anderen ergaben sich starke Hemmnisse aus der geringen Flexibilität und den Tendenzen der Mangelwirtschaft, die zu Zeitverzögerungen, Stockungen und Unsicherheiten bei der Bereitstellung der erforderlichen Zulieferungen, spezieller Ausrüstungen und anderer Leistungen führten. Eine verbreitete Reaktion auf diese ungelösten Probleme bestand darin, zunehmend einen größeren Teil dieser Produkte und Leistungen in das eigene Leistungsprofil zu übernehmen. Das Resultat war eine Zersplitterung des ökonomischen Potenzials und eine unbefriedigende Nutzung der economies of scale, d.h. insgesamt überhöhte Kosten sowie suboptimale Produktivität und Effizienz. In der Gestaltung optimaler Wertschöpfungsketten liegen nicht nur beträchtliche Effizienzpotenziale, sondern auch Herausforderungen an die zwischenbetriebliche - regional, national und auch international - demokratische Mitwirkung der Belegschaften bei der Gestaltung solcher Wertschöpfungsketten.


Schlussfolgerungen

Aus den Erfahrungen und ungelösten Problemen im Realsozialismus lassen sich an wirtschaftsdemokratischen Herausforderungen bei einer Transformation des gegenwärtigen Kapitalismus festhalten: Generell gilt, dass die Entfaltung der Wirtschaftsdemokratie eine ständige Herausforderung und Aufgabe in einer sozialistischen Gesellschaft bleiben wird.

• Eine äußerst wichtige und zugleich sehr komplizierte Aufgabe besteht darin, die widersprüchlichen Beziehungen zwischen gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen, betrieblichen, regionalen und individuellen Interessen unter strikter Einhaltung wirtschaftsdemokratischer Forderungen zu gestalten. Eine umfassende Wirtschaftsdemokratie verlangt, wirtschaftsdemokratische Fortschritte auf allen Ebenen, auf der Mikro-, Meso- und Makro-, der EU- und globalen Ebene zu erreichen. Dies schließt natürlich ein, die spezifischen Probleme und Möglichkeiten der verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen.(11) Die größten wirtschaftsdemokratischen Defizite und zugleich Probleme und Schwierigkeiten, reale Verbesserungen zu erreichen, gab es im Realsozialismus und gibt es heute im Kapitalismus auf den höheren, komplexeren Ebenen: gesamtwirtschaftlich, EU (bzw. damals RGW) und global. Es reicht auch nicht aus, die Wirtschaftsdemokratie auf den einzelnen Ebenen auszubauen. Zunehmende Bedeutung gewinnen die Verflechtungen zwischen den Ebenen und der Ausgleich der dabei bestehenden unterschiedlichen Interessen.

• Ausgehend von den Erfahrungen in der DDR ist es für die Qualität der Wirtschaftsdemokratie in den Betrieben und Unternehmen in einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft unerlässlich, eine übermäßige Zentralisierung von Entscheidungen zu vermeiden, die Rolle und Selbständigkeit der Betriebe und Unternehmen zu stärken und dazu ihre Spielräume für eigene Entscheidungen wesentlich zu erweitern. Dies betrifft insbesondere Entscheidungen zur Entwicklung ihres Reproduktionsprozesses, zur Modernisierung und zum Ausbau der Kapazitäten, zur Durchführung von Innovationen sowie für Strukturveränderungen. Eine zentrale Aufgabe besteht darin, die Spielräume und Bedingungen für die Individualitätsentfaltung in der Arbeit zu erweitern bzw. zu verbessern. Dabei gilt es, die vielfältigen, zu einem großen Teil ambivalenten Verflechtungen zwischen individuellen, kollektiven und gesamtgesellschaftlichen Interessen zu beachten, um eine hohe Arbeitsmotivation mit der Erfüllung gesellschaftlicher Zielstellungen zu verbinden.

• Wirtschaftsdemokratie ist eng verflochten mit den für einen demokratischen und effizienten Sozialismus entscheidenden, widersprüchlichen Beziehungen zwischen Markt und Plan. Wirtschaftsdemokratie bedeutet:(12) [1] Die Effizienz- und Allokalisationspotenziale des Markts so zu nutzen, dass dies direkt mit der sozialen und ökologischen Einbettung der Märkte durch eine staatliche Regulierung und eine Dekommodifizierung der Arbeitskraft und wichtiger Elemente des sozialen Lebens verbunden wird. [2] Die gesellschaftliche Planung so durchzuführen, dass sie einerseits durch die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Entscheidungsprozesse erfolgt, und dass sie andererseits durch die Beschränkung der zentralen Planung auf eine Rahmenplanung ausreichende Entscheidungsspielräume für die Betriebe sichert. Das schafft sowohl Möglichkeiten für Veränderungen in den sozialen Verhaltensweisen der Menschen im Sinne von Solidarität und Empathie, als auch Spielräume für die Erweiterung des Wissens der Menschen über die Widersprüche und komplexen Zusammenhänge der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungsprozesse. Somit werden solidarische Verhaltensweisen sowie Aufklärung und Bildung zu entscheidenden, unverzichtbaren Bedingungen für eine hohe Qualität und Wirksamkeit der Wirtschaftsdemokratie.


Klaus Steinitz, Prof. Dr., Wirtschaftswissenschaftler, Mitglied der Leibniz-Sozietät und Vorsitzender der »Hellen Panke« zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur e.V. Berlin.


Anmerkungen

(1) Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge in Hartmut Meine/Michael Schumann/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.) (2011): Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen!, Hamburg. Zusammenfassende Übersichten zur Entwicklung der Auffassungen der Wirtschaftsdemokratie und des gegenwärtigen Standes ihrer Verwirklichung sind enthalten u.a. in: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2007, Abschnitt Wirtschaftsdemokratie: Die Zukunftsaufgabe, Köln; Ulla Plener/Julia Müller/Heinz-J. Bontrup (2006): Wirtschaftsdemokratie: wieder aktuell, Pankower Vorträge, Heft 89, Helle Panke e.V., Berlin; Heinz-J. Bontrup (2011): Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft, Abschnitte 4 und 5, Köln.

(2) Vgl. hierzu Klaus Steinitz (2007): Das Scheitern des Realsozialismus. Schlussfolgerungen für die Linke im 21. Jahrhundert, Hamburg.

(3) Zum NÖS ist eine umfangreiche Literatur erschienen. Einen guten und komplexen Einblick in das NÖS, in die Bedingungen seiner Entstehung, in seine Grundlagen und Funktionen, in seine Wirksamkeit und in die Gründe für den Abbruch dieses bedeutendsten Reformversuchs in der 40jährigen Geschichte der DDR gibt die Publikation der Hellen Panke: »Eine spannende Periode in der Wirtschaftsgeschichte der DDR. Entstehen und Abbruch des Neuen Ökonomischen Systems in den sechziger Jahren«, Hefte 23/1 und 23/2, Berlin 2000.

(4) Vgl. ebenda, S. 6f.

(5) hierzu Jörg Roesler (2006): Momente deutsch-deutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1945 bis 1990. Eine Analyse auf gleicher Augenhöhe; Leipzig, S. 105ff.

(6) Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin 1963, S. 10.

(7) Ulrich Busch (2000): Theoriedefizite des NÖS, in: »Eine spannende Periode in der Wirtschaftsgeschichte der DDR«, a.a.O., S. 36ff.

(8) Wie weit die Bemühungen gingen, die Vorstellungen des NÖS auch im Denken der Menschen zu überwinden, zeigt sich z.B. darin, das im »Wörterbuch der Ökonomie des Sozialismus« der Begriff »Neues Ökonomisches System« nicht mehr aufgenommen wurde, sondern nur auf die Stichworte »Ökonomisches System des Sozialismus« und »Wirtschaftspolitik der SED« verwiesen wird, bei denen dann die eigentlichen Probleme, die mit dem NÖS in Angriff genommen wurden, gar nicht mehr auftauchen. Das Buch »Politische Ökonomie des Sozialismus - ihre Anwendung in der DDR«, das 1969 in einer Millionenauflage erschien, und in dem politökonomische Probleme des Sozialismus unter dem Blickwinkel des NÖS behandelt wurden, verschwand nach dem Abbruch des NÖS sehr rasch aus den Buchläden und Bibliotheken.

(9) Harry Nick schrieb in einem 1968 in der Zeitschrift Einheit veröffentlichten Beitrag: »Ein wirklich modernes System der Planung und Leitung muss gewährleisten, dass diejenigen Faktoren des ökonomischen Fortschritts, die nur vom Gesamtsystem her erschlossen werden können, ebenso genutzt werden wie diejenigen, die durch die relative Selbstoptimierung der volkswirtschaftlichen Teilsysteme, vor allem der Betriebe, wirksam werden ... Die Betriebe werden in die Lage versetzt, ihren Reproduktionsprozess eigenverantwortlich und langfristig zu optimieren. Sie erhalten im Gewinn ein eindeutiges Optimalitätskriterium und sind am Wachstum des Gewinns normativ beteiligt, wobei die Investitionen vollständig aus eigenen Mitteln bzw. aus Krediten finanziert werden müssen ... Wir gehen also von der Existenz relativ eigenständiger betrieblicher Interessen aus, gestalten die Wirtschaftsbeziehungen aber so, dass der Betrieb diese Interessen nur in dem Maße befriedigen kann, wie er echte volkswirtschaftliche Leistungen erbringt.« (Harry Nick, Was heißt marktwirtschaftlicher Sozialismus?, in: Einheit 1/1968, S. 131ff.) Diese auch heute gültige Feststellung blieb in dieser Zeit allerdings eine Forderung, die kaum realitätswirksam wurde.

(10) Zu Fragen der Individualitätsentwicklung in verschiedenen Perioden der gesellschaftlichen Entwicklung vgl. Friedrich Steinfeld, Vom Zeitalter der Entfesselung zur vollen und freien Entwicklung der Individualität, Manuskript.

(11) Vgl. hierzu Heinz-J. Bontrup, Arbeit, Kapital und Staat, a.a.O.

(12) Siehe hierzu auch Oskar Negt, Keine Zukunft der Demokratie ohne Wirtschaftsdemokratie, in: Hartmut Meine/Michael Schumann/Hans-Jürgen Urban (Hrsg). (2011): Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen!, a.a.O, S. 9.


Zum Thema:

Detlef Hensche, Demokratisierung der Wirtschaft, Markt und Mitbestimmung - Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Revitalisierung, in: Sozialismus 1/2011

R. Detje/H. Martens/H. Schmitthenner, Neue Wirtschaftsdemokratie - Ansätze zur Überwindung der System- und Demokratienkrise, in: Sozialismus 2/2011

Klaus Steinitz: Das Scheitern des Realsozialismus. Schlussfolgerungen für die Linke im 21. Jahrhundert. 120 Seiten; EUR 11.80. VSA: Verlag Hamburg


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Lehrlingsausbildung 1970 im VEB Großdrehmaschinenwerk "8. Mai", Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz)
- Arbeiterinnen im Textilmaschinenbetrieb VEB Eitex Glauchau 1968



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Quelle:
Sozialismus Heft 11/2011, Seite 48 - 55
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2011