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DISKURS/112: Wie den Wohlstand messen (Sozialismus)


Sozialismus Heft 5/2013

Wie den Wohlstand messen?
Probleme und sozial-ökologische Alternativen

von Norbert Reuter und Klaus Steinitz



In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Ziele, Inhalte und Bedingungen einer sozial-ökologisch nachhaltigen ökonomischen Entwicklung spielen Fragen, die mit dem Wohlstand der Menschen zusammenhängen, eine zentrale Rolle. Ausdruck hierfür ist auch, dass Ende 2010 vom Deutschen Bundestag eine Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" eingesetzt wurde. Sie hatte den Auftrag, die Zusammenhänge zwischen Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität zu analysieren, zu bewerten und daraus politische Schlussfolgerungen und konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission, die hinsichtlich ihrer Zusammensetzung die Mehrheitsverhältnisse des Bundestages abbildet, wurde nach über zwei Jahren intensiver Arbeit und häufig kontroverser Diskussionen im April vorgelegt. Wegen zum Teil fundamentaler Meinungsunterschiede zeichnet sich der Endbericht durch Viele, zum Teil umfangreiche Sondervoten aus. Diese dokumentieren den Dissens zu den von der Mehrheit aus CDU/CSU und FDP beschlossenen Texten. Die Sondervoten sind zu einem großen Teil gemeinsam von den Oppositionsparteien SPD, Die LINKE und Bündnis 90/Die Grünen und den von ihnen benannten Sachverständigen eingebracht worden.

Gegenstand der Kontroversen waren von Beginn an Fragen zum Wohlstand, seiner inhaltlichen Bestimmung und Messung sowie seiner Beziehungen zum Wirtschaftswachstum. Es wurde schnell deutlich, dass grundlegende Unterschiede bei der Analyse und Bewertung der ökonomischen Entwicklung sowie insbesondere hinsichtlich der zu ziehenden Schlussfolgerungen vorliegen. Die Meinungsgrenze verlief weitgehend exakt zwischen den Koalitions- und den Oppositionsparteien und ihren jeweiligen Sachverständigen. Während erstere größtenteils dem neoliberalen Mainstream folgten und weiteres Wachstum als grundlegende Voraussetzung für die Lösung vorhandener ökologischer und sozialer Probleme ansehen, ging es den Mitgliedern der Oppositionsparteien und ihren Sachverständigen mit unterschiedlicher Akzentuierung zunächst um die Diagnose der "multiplen Krisen" von der Ressourcen- über die Verteilungs- bis hin zur Finanzkrise. Darauf aufbauend wurden Ansätze einer alternativen Wirtschaftspolitik dargelegt, die vor dem Hintergrund absehbar geringen Wachstums in der Zukunft auf eine sozial-ökologische Transformation gerichtet sind.

Der vorliegende Endbericht der Enquete-Kommission dokumentiert die große Problematik, eine umfassende und eindeutige Bestimmung von Wohlstand vorzunehmen. Eine Große Koalition aus CDU/CSU, FDP und SPD legte etwa ein umfassendes Indikatorenset zur Bestimmung des Wohlstands vor, das aus 20 Indikatoren - vom BIP/Kopf, über die Höhe der Staatsverschuldung bis hin zum Vogelindex - besteht. Diese Sammlung unterschiedlichster Indikatoren ist aus linker Sicht jedoch ungeeignet, die zentralen Dimensionen der sozialen und ökologischen Entwicklung adäquat hinsichtlich ihres Wohlstandsbeitrags zu würdigen. Im Folgenden sollen deshalb zentrale Probleme hinsichtlich der Bestimmung von Wohlstand aufgezeigt und wesentliche Punkte benannt werden, die für eine nähere Bestimmung von gesamtgesellschaftlichem Wohlstand von zentraler Bedeutung sind.(1)

Wirtschaftswachstum & Wohlstand - widersprüchliche Beziehungen

Bis in die jüngste Zeit hinein wurde Wachstum weitgehend mit einem Zuwachs an Wohlstand gleichgesetzt. Insofern erschien auch das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) lange Zeit als ein geeigneter Wohlstandsindikator - je höher das BIP und je stärker sein Wachstum desto höher der Wohlstand.

Im Zusammenhang mit den Berichten an den Club of Rome hatte aber bereits Anfang der 1970er Jahre eine kritische Debatte hinsichtlich der problematischen Folgen wirtschaftlichen Wachstums begonnen. Seit einiger Zeit findet diese Debatte auch vermehrt in der Öffentlichkeit und in politischen Auseinandersetzungen statt. Inzwischen ist es fast schon ein Allgemeinplatz, dass das BIP und die Höhe seines Wachstums den Wohlstand nur sehr unzureichend widerspiegelt, vor allem wenn es um die Beurteilung der Situation in fortgeschrittenen Industriegesellschaften geht. Bereits als Indikator der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist das BIP nur sehr begrenzt geeignet. Hier genügt bereits der Hinweis, dass grundsätzlich nur die über "den Markt realisierten preisbewerteten Güter und Dienstleistungen erfasst werden. Große Teile der gesellschaftlichen Arbeit bleiben damit im BIP unberücksichtigt. Das betrifft vor allem alle Arbeiten, die unbezahlt im Bereich der privaten Haushalte (unter anderem Sorgearbeit), in Organisationen ohne Erwerbszweck oder in Form von Ehrenämtern erfolgen. Nach überschlägigen Berechnungen würde die Einbeziehung dieser Tätigkeiten das BIP um rund ein Drittel erhöhen.(2) Wenn solche Arbeiten, z.B. die Zubereitung von Mahlzeiten oder familiäre Pflege, durch bezahlte, über den Markt vermittelte Tätigkeiten ersetzt würden, erhöhte sich das ausgewiesene BIP, obwohl sich das reale, für die Bevölkerung wirksame Gesamtergebnis nicht veränderte. Umgekehrt wirkt es senkend auf das BIP, wenn öffentliche Dienstleistungen wie in den letzten Jahren immer weiter zurückgefahren werden und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter notgedrungen soziale Aufgaben übernehmen.

Die Ungeeignetheit des BIP als Wohlstandsmaß wird auch dadurch deutlich, dass notwendige Aktivitäten zur Beseitigung von Umweltschäden, z.B. infolge der Verschmutzung von Gewässern und der Luft, sowie zur Beseitigung der Folgen von (Umwelt-)Katastrophen das BIP steigern. Diese Aufwendungen zur Beseitigung von Umweltschäden stellen sogar eine absolut und auch relativ rasch zunehmende Größe dar und dürften häufig bereits die Höhe des realen Wirtschaftswachstums übersteigen. BIP-Steigerung und Wohlstands-Senkung finden gewissermaßen hier parallel statt.


Annäherungen an den Wohlstandsbegriff
So offensichtlich es ist, dass das BIP weder die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit, geschweige denn das Wohlstandsniveau einer Volkswirtschaft adäquat widerspiegelt, so kompliziert und nur annäherungsweise lösbar ist eine eindeutige Bestimmung und Messung von Wohlstand. Damit die weiteren Untersuchungen und Diskurse zur Bestimmung des Wohlstands konstruktiver und stärker auf nutzbare Ergebnisse orientiert werden können, ist eine differenzierte Analyse der unterschiedlichen Dimensionen und Zusammenhänge von Wohlstand und seiner Messung notwendig: Dies betrifft insbesondere seine Komplexität, die weiter zugenommen hat; seine Veränderung in der Zeit, die heute und in der nächsten Zukunft wichtigsten Elemente des Wohlstands und die davon abgeleiteten Aufgaben zu seiner Erhöhung bzw. zur Sicherung des erreichten Wohlstandsniveaus sowie die Indikatoren seiner möglichst adäquaten, aussagefähigen sowie auch praktikablen und übersichtlichen Messung.


Die Komplexität des Wohlstandsbegriffs
Wohlstand ist ein komplexer Begriff, der wichtige Seiten der Lebensweise und des Lebensniveaus der Menschen charakterisiert und nicht eindimensional zu erfassen ist. Vielmehr weist Wohlstand vielfältige Elemente und Facetten auf. Sie reichen von der Höhe der Einkommen und ihrer Verteilung, dem erreichten Niveau der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse über den Umfang und die Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozial-kulturellen Dienstleistungen, den Umweltbedingungen, der sozialen Sicherheit und der Qualität der sozialen Beziehungen, der Sicherung des Grundrechts auf Arbeit und seiner Qualität (Stichwort "Gute Arbeit"), des Verhältnisses von Arbeits- und Freizeit bis hin zu Fragen von Zufriedenheit und Glück anstelle von Existenz- und Zukunftsängsten sowie den Möglichkeiten demokratischer Teilhabe und Partizipation. Schon aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass es keinen Einzelindikator geben kann, der den Wohlstand auch nur näherungsweise adäquat abzubilden in der Lage ist.


Veränderungen im Inhalt des Wohlstandsbegriffs
Wohlstand und seine Bestimmung unterliegen auch wesentlichen Veränderungen in der Zeit, vor allem in Abhängigkeit vom erreichten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Entwicklungsniveau, von der Entwicklung der Bedürfnisse sowie der Art und Weise und dem erreichten Niveau ihrer Befriedigung, von den vorherrschenden ökonomischen und politischen Machtverhältnissen und von der Schärfe der Umweltprobleme. Die Entwicklung des Wohlstands wird zudem stark von subjektiven Bedingungen und Interessen beeinflusst. In fortgeschrittenen Gesellschaften gewinnen die Bedingungen für die Entfaltung der Individualität und Selbstbestimmung an Bedeutung.

Offensichtlich sind im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums zwei mit Blick auf den Wohlstand gegenläufige Entwicklungen zu beobachten: Zum einen steigen mit einer Erhöhung der Wirtschaftsleistung die Möglichkeiten, im Durchschnitt mehr Waren und Dienstleistungen nutzen zu können.

Hiermit ist vor allem auf niedrigem Einkommens- und Produktivitätsniveau noch ein unmittelbarer Wohlstandsgewinn verbunden. Mit zunehmender Befriedigung grundlegender Bedürfnisse sinkt andererseits aber der Nutzen zusätzlicher Waren und Dienstleistungen und damit auch die Bedeutung weiteren Wachstums. Gleichzeitig nehmen die negativen Begleiterscheinungen des Wachstums zu, die sich in schlechterer Umweltqualität, steigender Ressourcenknappheit, aber auch in wachsendem Arbeits- und Leistungsdruck und ausufernden Arbeitszeiten zeigen. Gerade die letzteren Aspekte scheinen in jüngster Zeit besonders zuzunehmen, wie etwa Umfragen im Zusammenhang mit dem DGB-Index "Gute Arbeit", aber auch die Zunahme von Burnouts zeigen.(3)

Hinzu kommt, dass eine zunehmende Polarisierung von Einkommen und Vermögen die Kluft zwischen BIP-Wachstum und Wohlstandssteigerung für viele Menschen weiter vergrößert hat. Die Zunahme des BIP konzentrierte sich im Ergebnis der neoliberalen Politikwende seit Anfang der 1990er Jahre auf die wohlhabenden. Während die Gewinne (Unternehmens- und Vermögenseinkommen) zwischen den Jahren 2000 und 2012 um real rund 30% zulegen konnten, stiegen die realen Arbeitnehmerentgelte nur um 5%, nachdem sie bis 2009 sogar gefallen waren.

Diese negative Entwicklung ging zusätzlich mit einer erheblichen Spreizung der Lohnentwicklung einher, da der Niedriglohnsektor sich parallel deutlich ausgeweitet hat. 2010 arbeiteten 23,1% aller Beschäftigten - fast acht Millionen Menschen, ungefähr jede(r) Vierte - für einen Niedriglohn von unter 9,15 Euro brutto die Stunde. Gegenwärtig hat das Viertel mit den höchsten Einkommen rund 50% der gesamten Einkommen, während auf das Viertel mit den niedrigsten Einkommen weniger als 10% entfallen.(4) Gleichzeitig nahm der Druck auf die Transferleistungen insbesondere für Erwerbslose und für Rentnerinnen und Rentner zu. Bei den Vermögen sieht es noch wesentlich dramatischer aus. Diese konzentrieren sich immer stärker in einer kleinen Schicht von Superreichen. Inzwischen besitzen die reichsten 0,1% aller Haushalte 22,5% des gesamten Vermögens, während die ärmsten 20% kein Vermögen haben, sondern verschuldet sind.


Wichtige Elemente des Wohlstands
Jenseits dieser objektiven Veränderungen vollziehen sich gegenwärtig wichtige Änderungen in der Bedeutung und spezifischen Funktion, die den verschiedenen Elementen des Wohlstands zukommen. In Deutschland und anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Industrieländern gewinnen im Verhältnis zur Einkommenshöhe und dem Umfang des materiellen Konsums die mit der Lebensqualität verbundenen Aspekte eine zunehmend größere Bedeutung für die Erhöhung des Wohlstands. Dies betrifft insbesondere die sozialen Beziehungen und die soziale Sicherheit, die Freizeit und gute Arbeit, öffentliche Daseinsvorsorge und sozial-kulturelle Dienstleistungen, Partizipation, Demokratie und Freiheit, Zufriedenheit und Glück sowie die mit einer intakten Umwelt verbundenen Faktoren. Auch die Qualität der Arbeitsverhältnisse und die grundsätzliche Möglichkeit, einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können, sind bei der Beurteilung von Wohlstand von zentraler Bedeutung. Damit gehören Fragen der Arbeitszeit (vor allem Fragen der Arbeitszeitverkürzung in allen Variationen - von der Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit über Sabbaticals und Auszeiten bis hin zu Vorruhestandsregelungen) genauso wie die nach einer höheren Zeitsouveränität der Beschäftigten mit klaren Trennungen zwischen Arbeits- und Freizeit zu den wesentlichen Faktoren, die es zu berücksichtigen gilt.

Kriterien & Indikatoren der Wohlstandsmessung

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen die vielfältigen und komplexen Anforderungen, denen dann auch Indikatoren einer möglichst adäquaten, aussagefähigen Messung des Wohlstands gerecht werden müssen. Die Herausforderung besteht vor allem darin, durch die Auswahl und Kombination geeigneter Indikatoren eine möglichst aussagekräftige sowie objektiv begründete und nachvollziehbare Aussage zum Wohlstand, zu dessen Entwicklung in der Zeit und zum Vergleich mit anderen Ländern zu ermöglichen.

Dabei dürften weder Versuche einer Zusammenführung wichtiger Wohlstandskriterien in einem zusammenfassenden Indikator ("composite index"), noch die Bildung einer großen Anzahl von Einzelindikatoren für die vielfältigen Elemente, die jedes für sich Einfluss auf den Wohlstand haben, zielführend sein. Die Aufgabe für Wissenschaft und Politik besteht aus unserer Sicht darin, einerseits eine begrenzte, handhabbare und übersichtliche Anzahl von aussagekräftigen Indikatoren auszuwählen und diese andererseits so zu bestimmen, dass sie möglichst eindeutige Aussagen zum jeweiligen Einflussfaktor ermöglichen.

Das BIP pro Kopf bzw. das Einkommen pro Kopf und vor allem seine Veränderung wird für die Bestimmung des erreichten Wohlstands eine grundlegende Größe bleiben müssen. Allerdings spiegeln sich im BIP keine zur Beurteilung der Wohlstandsentwicklung wichtigen strukturellen Veränderungen wider. Vor allem in entwickelten Gesellschaften werden öffentliche wie private Dienstleistungen immer wichtiger zur Sicherstellung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands,(5) sodass auch deren Höhe und Entwicklung sich in der Bewertung der Wohlstandsentwicklung wiederfinden muss.

Zudem bildet das BIP bzw. das Einkommen pro Kopf nur die durchschnittliche Entwicklung ab. Deshalb muss auch der Grad der Ungleichverteilung, der sich in allen großen kapitalistischen Ländern in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht hat, erfasst werden. Ab einem bestimmten Einkommensniveau wird nämlich die Verteilung des Einkommens für das Wohlstandsempfinden immer wichtiger. Wie eine international hoch beachtete Studie zeigt, wird der Wohlstand der Bevölkerung umso höher eingeschätzt, je geringer die Ungleichheit in der Einkommensverteilung ist und umgekehrt.(6)

Bei der Auswertung umfassender Statistiken verschiedener Industrieländer zeigte sich ein enger Zusammenhang: Gleiche Gesellschaften weisen weniger Fälle von psychischen Erkrankungen, Zukunftsängsten, gesundheitlichen Mängeln, Gewalt, Drogenkonsum und Gefängnisinsassen auf. Gleichzeitig ist die Lebenserwartung insgesamt höher.

Zur Messung von Wohlstand ist also ein Verteilungsmaß unumgänglich. Die Frage ist nur, welche Vergleichsgrößen das Ausmaß der Ungleichverteilung am besten widerspiegeln? In dem für internationale Wohlstands-Vergleiche von der Entwicklungsorganisation der UNO entwickelten Human Development Index (HDI) wird die Ungleichheit auf Basis des Gini-Koeffizienten, der eine Größe zwischen 0 und 1 annehmen kann, ermittelt. Dieser weist bei völliger Ungleichverteilung den Wert 1 auf (eine Person besitzt alles), während er bei völliger Gleichverteilung (alle haben den gleichen Anteil) den Wert 0 hat.

Andere Vorschläge sehen eine Berechnung nach dem Verhältnis der Einkommen des reichsten Teils der Bevölkerung zu den Einkommen anderer Bevölkerungsteile vor. Auch hierzu gibt es mehrere Vorschläge, z.B. ein Koeffizient, der den Anteil der Einkommen der reichsten 10 oder 20% der Bevölkerung zu den anderen 90 bzw. 80% der Bevölkerung ins Verhältnis setzt. Da zu den 90 bzw. 80% auch ein Teil der Besserverdienenden gehört, werden damit Ausmaß und zeitliche Veränderungen in der Differenzierung der Einkommen jedoch verwischt. Um diese besser sichtbar zu machen, erscheint die Angabe des Verhältnisses der 10 oder 5% Reichsten zu den 50% mit den geringsten Einkommen sinnvoller. Hierdurch werden die Verteilungsrelationen nachvollziehbarer als beim Gini-Koeffizienten.

Ohnehin ist zu berücksichtigen, dass ab einer bestimmten Höhe eine weitere Zunahme des BIP an Bedeutung für den Wohlstand verliert. Dies legen Ergebnisse der jüngeren Glücksforschung(7) nahe und spiegelt sich, wie Umfrageergebnisse zur Bedeutung einzelner Kriterien zeigen, auch zunehmend im öffentlichen Bewusstsein wider.(8) Zur Korrektur bzw. Ergänzung statistischer Kennziffern bedarf es also auch der Berücksichtigung subjektiver Komponenten, die auf Befragungen nach dem Wohlbefinden bzw. der Lebenszufriedenheit beruhen. Dabei wird berücksichtigt, dass die Menschen ihre Lebensbedingungen selbst am besten einschätzen können. Insbesondere Veränderungen der subjektiven Einschätzung sind für die Beurteilung der Höhe und der Entwicklung von Wohlstand und Lebensqualität von großer Bedeutung. Diese subjektive Komponente gewinnt mit dem Übergang zum Finanzmarktkapitalismus und in der Zeit multipler Krisen an Bedeutung und enthält neue Akzente für eine umfassende Wohlstandsbewertung. In der Studie "Krisenerfahrungen und Politik" (Hamburg 2013) stellen die Autoren auf der Grundlage vieler Interviews insbesondere mit Betriebsräten in den Unternehmen fest, dass aus der inzwischen typischen beständigen Restrukturierung der Abläufe in den Betrieben für viele Beschäftigte ein Dauerzustand des Drucks, der Unsicherheit und der Ohnmacht erwächst. Bei vielen Beschäftigten hat im Verhältnis zum Gefühl der Arbeitsplatzgefährdung das Gefühl der physischen und psychischen Arbeitskraftgefährdung durch dauerhafte Überforderung stark zugenommen.(9)

Schließlich muss sich natürlich auch die Ökologische Dimension in einem aussagekräftigen Wohlstandsindikator niederschlagen. Hier bietet sich etwa das Konzept des "Ökologischen Fußabdrucks" an. Hierunter wird die Fläche verstanden, die notwendig ist, um den gegenwärtigen Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen zu ermöglichen. Das schließt Flächen ein, die zur Produktion von Kleidung und Nahrung oder zur Bereitstellung von Energie, aber z.B. auch zur Entsorgung oder zum Recycling des erzeugten Mülls oder zum Binden freigesetzten Kohlendioxids benötigt werden. Die Werte werden in Hektar pro Person und Jahr angegeben.

Berechnungen zum gegenwärtigen "ökologischen Fußabdruck" zeigen bereits seit langem, dass die Menschen in den hochentwickelten Ländern auf viel zu großem "Fuß" und auf Kosten der Bevölkerung des "Südens" leben und ihren Ressourcen- wie Senkenverbrauch massiv reduzieren müssen. Wenn alle so leben würden wie etwa die Menschen in Deutschland, bräuchten wir bereits heute 2,8 Erden.

Die bislang aufgeführten Dimensionen des Wohlstands dürften sich noch am ehesten in einem handhabbaren und komplexitätsreduzierten Indikatorensystem darstellen lassen. Um Wohlstand in einem umfassenderen Sinne zu erfassen, müssten allerdings auch folgende Aspekte einbezogen werden, bei denen es immer um die Qualität und um den Umfang ihrer Verwirklichung geht:

  • Arbeit: Wichtige Einzelindikatoren hierfür sind: Erwerbstätigenquote (insgesamt und für Frauen), Arbeitslosenquote (insgesamt und für Jugendliche), Dauer der gesetzlich festgelegten Arbeitszeit, Umfang prekärer Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse, Höhe des Mindestlohns, Durchsetzung des Prinzips gleicher Lohn für gleiche Arbeit insbesondere für männliche und weibliche Beschäftigte; hier geht es insgesamt auch um eine stärkere Beachtung feministischer Positionen, damit auch nicht-marktförmige Arbeit wie etwa die Sorge- bzw. Care-Arbeit ins Blickfeld gerät. Dann würde auch deutlich, dass die Care-Arbeit nicht wie schon die Natur als quasi unendlich nutzbare Ressource verstanden werden kann.
  • Öffentliche Daseinsvorsorge: Hier geht es insbesondere um die Verwirklichung des Rechts auf Bildung und gesundheitliche Betreuung unabhängig vom sozialen Status und der Einkommenshöhe, den Versorgungsgrad mit Kita-Plätzen, die Qualität und Eigentumsstrukturen (privates und öffentliches, darunter kommunales Eigentum) bei der Versorgung mit Energie, Wasser, Mobilität u.a., den Anteil staatlicher Ausgaben für die öffentliche Daseinsvorsorge und die Möglichkeiten der demokratischen Einflussnahme.(10)
  • Soziale Sicherheit und soziale Beziehungen der Menschen, insbesondere die Höhe der Grundsicherung in den verschiedenen Lebenslagen, die Bedingungen sozialer Partizipation, Mitsprache und Mitbestimmung in der Gesellschaft; hierzu gehört auch die Möglichkeit der Mitbestimmung in der Wirtschaft (Wirtschaftsdemokratie) sowie das vorhandene Ausmaß der Freiheitsrechte und ihre tatsächliche Realisierung.
Auf dem Weg zu einem mehrdimensionalen Wohlstandsmaß

In der internationalen Diskussion über Probleme der Wohlstandsmessung besteht weitgehend Übereinstimmung darin, dass von einer neuen Balance zwischen materiellen Gütern und immateriellen Faktoren, die für eine höhere Lebensqualität entscheidend sind, ausgegangen werden muss. Die in der Enquete-Kommission geführten Diskussionen und der von ihr vorgelegte Bericht machen deutlich, dass die größten Probleme der Wohlstandsbestimmung noch auf ihre Lösung warten. Sie können in drei Gruppen zusammengefasst werden: Aus der Vielzahl der für die Lebensqualität wichtigen Faktoren müsste erstens eine Auswahl zentraler Aspekte erfolgen, in denen die jeweils entscheidenden Einzelfaktoren soweit wie möglich kombiniert werden können. Zweitens müssten sich das Niveau und die Entwicklung dieser Komplexe in quantifizierbaren Indikatoren widerspiegeln lassen und drittens müsste eine Gewichtung der Komplexe entsprechend ihrer Bedeutung für eine objektive und umfassende Bewertung des Wohlstands vorgenommen werden.

Ziel sollte es sein, dass eine diese Aspekte berücksichtigende periodische Wohlstandsberichterstattung - idealerweise und soweit möglich anhand von ausgewählten Wohlstandsindikatoren - zur Institution wird, die laufend tiefere Auskunft über die unterschiedlichen Wohlstandsdimensionen gibt. Diese würde wichtige Orientierungspunkte für die Politik liefern, inwieweit unsere Gesellschaft sich auf einem "guten Weg" befindet oder die Politik gegen die Lebensbedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft gerichtet ist bzw. diese unzureichend beachtet. Politiker würden legitimationspflichtig, wenn sich eine Verschlechterung wichtiger Dimensionen des Wohlstands ergeben sollte.

Mit unserem Vorschlag ist die Diskussion um die geeignete Wohlstandsmessung natürlich alles andere als abgeschlossen. Es gilt zunächst Erfahrungen zu sammeln und eine breite Diskussion zu initiieren, die eine Gewichtung der einzelnen Aspekte ermöglicht. Dabei wird es auch nützlich sein, die Ergebnisse von Bewertungen, die auf unterschiedlichen Kriterien beruhen, miteinander zu vergleichen, um daraus Vorschläge abzuleiten, wie die Aussagen zum Wohlstand und insbesondere zur Lebensqualität weiter qualifiziert werden können. Dies gilt auch für die Erhöhung der Aussagekraft internationaler Vergleiche zur Höhe und Entwicklung des jeweiligen Wohlstands. Da aber inzwischen großer Konsens darüber herrscht, dass eine Beurteilung des Wohlstands und der Lebensqualität der Menschen allein auf der Grundlage des BIP nicht mehr möglich ist, gibt es zur Entwicklung anderer Indikatoren und einer umfassenden Wohlstandsberichterstattung, so schwer dies auch zu realisieren sein wird, keine Alternative.


Norbert Reuter, Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet im Bereich Wirtschaftspolitik des ver.di-Bundesvorstands, ist Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der RWTH Aachen und Mitglied der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des deutschen Bundestags; Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Klaus Steinitz ist Wirtschaftswissenschaftler; Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.



Anmerkungen

(1) Hierbei greifen wir auch auf Aspekte zurück, die im Sondervotum der LINKEN zur Indikatorenfrage angesprochen sind. Vgl. Entwurf des Gesamtberichts der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität", Stand 8.4.2013, S. 325-338.

(2) Vgl. Entwurf des Gesamtberichts der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität, Stand 8.4.2013, S. 138.

(3) So meldeten die Betriebskrankenkassen, dass von 2004 bis 2010 die Zahl der Tage, an denen Beschäftigte mit Burnout-Syndrom krankgeschrieben waren, von 4,6 auf 63,2 pro 1.000 Kassenmitglieder zugenommen hat.

(4) Vgl. Karl Brenke/Gert G. Wagner (2013): Ungleiche Verteilung der Einkommen bremst das Wirtschaftswachstum, Wirtschaftsdienst Nr. 2, S. 212.

(5) Zwischen 1995 und 2012 haben sich die Anteile an den Erwerbstätigen wie folgt entwickelt (Angaben in %): Land und Forstwirtschaft von 2,3 auf 1,6; Produzierendes Gewerbe ohne Baugewerbe von 21,3 auf 18,8; Baugewerbe von 8,9 auf 5,9; Öffentliche Dienstleistungen, Erziehung, Gesundheit von 21,7 auf 23,2; Unternehmensdienstleistungen, Handel, Verkehr, Gastgewerbe u.a. private Dienstleister von 43,6 auf 50,5. Vgl. Memorandum 2013, Anhang, Tabelle A.2, berechnet auf der Grundlage von Angaben des Statistischen Bundesamts, Stand Februar 2013.

(6) Vgl. Richard Wilkinson/Kate Pickett (2010): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, 4. Aufl., Hamburg/Berlin.

(7) Vgl. Bruno S. Frey (2012): Wachstum, Wohlbefinden und Wirtschaftspolitik, in: Roman Herzog Institut, Position Nr. 13, München.

(8) Vgl. Marco Giesselmann u.a. (2013): Alternative Wohlstandsmessung: Neun Indikatoren können das Bruttoinlandsprodukt ergänzen und relativieren, in: DIW Wochenbericht, Nr. 9.

(9) Vgl. Richard Detje u.a. (2013): Krisenwahrnehmung. Neue Befunde zu Betriebs-, Alltags- und Gesellschaftsbewusstsein, Sozialismus, Heft 4/2013, S. 9.

(10) Der Anteil der für die Qualität der Daseinsvorsorge sehr wichtigen öffentlichen Investitionen am BIP ist in der Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren merklich zurückgegangen, von rund 4% in der ersten Hälfte der 1970er Jahre auf rund 1,5% in den letzten Jahren. Vgl. hierzu Jan Priewe/Katja Rietzler (2010): Deutschlands nachlassende Investitionsdynamik. Ansatzpunkte für ein neues Wachstumsmodell, WISO Diskurs, Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 17ff.

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Quelle:
Sozialismus Heft 5/2013, Seite 30 - 34
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2013